Theresa Mayer berichtet von einem internationalen Workshop an der Universität Tübingen.
In welcher Gegenwart leben wir eigentlich? Das war die Leitfrage des internationalen Workshops „Decolonizing Global Encounters“, der am 29./30. April 2021 an der Universität Tübingen auf Initiative der dortigen Theologien stattfand.
Wir leben in einer Gegenwart, die manchmal fürchterlich komplex und widersprüchlich ist. Das wurde bereits in der Eröffnung des Workshops deutlich. Die globalen Verflechtungen unserer Zeit machen vieles möglich, sie verkomplizieren aber auch und bringen Ungleichzeitigkeiten, Pluralitäten und eine Vielzahl an Sichtweisen zu Tage. Man werfe nur einen Blick auf die weltweit stattfindenden religiösen, politischen und kulturellen Transformationsprozesse. Was diese Entwicklungen noch komplexer macht: Globale Begegnungen sind von Machtasymmetrien und Ungerechtigkeiten durchzogen und führen uns das koloniale Erbe vor Augen. Aus dem Hamsterrad dieser Spannungen und Machtgefälle auszusteigen, ist nicht einfach, aber es ist allerhöchste Zeit. Und das kann weh tun.
Globale Begegnungen führen uns das koloniale Erbe vor Augen
Sich den diffizilen und mitunter problematischen Verflechtungen der Gegenwart zu stellen und dabei die immer noch bestehenden und neu geschaffenen kolonialen Gefälle und eurozentrischen Überlegenheitsstrukturen wissenschaftlich zu reflektieren und zu diskutieren, war Ziel Anlass des digitalen interdisziplinären Workshops. Zur Veranstaltung, die im Rahmen der Tübinger Plattform „Global Encounters“ stattfand, versammelten sich Wissenschaftler:innen von der Universität Tübingen und von außerhalb, aus den christlichen und islamischen Theologien, aus den Literatur- und Kultur- sowie aus den Politik- und Sozialwissenschaften.
„Politics of (Religious) Knowledge“: Wissen und Macht
In drei Themenblöcken wurden Sichtweisen aus dem europäischen Raum mit Perspektiven aus dem globalen Süden konfrontiert und in Beziehung gesetzt:
Unter dem Framing „Politics of (Religious) Knowledge“ wurde die Frage nach den Zusammenhängen von Wissen und Macht diskutiert. Während Judith Gruber das dekolonisierende Potenzial der Theologie herausstellte, demonstrierte Sabelo Ndlovu-Gatsheni am Beispiel der Kämpfe um epistemische Freiheit in Afrika, wie Wissensproduktion und -prozesse den globalen Machthierarchien unterliegen.
Hermeneutik der Ähnlichkeiten, statt getrennter Identitäten
Im zweiten Workshopteil „Decolonizing Entangled Cultures“ wies Anil Bhatti auf die Mobilität und Zirkulation von Wissen hin, die weniger eine Hermeneutik der Differenz als vielmehr der Ähnlichkeit verlange. Kulturen seien wesentlich von Migration geprägt, was notwendigerweise dazu führen müsse, sowohl identitäre Politiken als auch sprachliche Perfektionismen zu hinterfragen. Auf die Zusammenhänge von Wissenschaft, Kulturen und Rassismen machte Jessé Souza in seiner Keynote aufmerksam. Dabei fokussierte er den kulturellen Rassismus, welcher auf der von den Wissenschaften unterstützten „Lüge“ der Unterscheidung von Gesellschaften des Geistes im globalen Norden und Gesellschaften des Körpers, d.h. Unehrlichkeit und Korruption im globalen Süden basiere. Emmanuel Lartey betrachtete in seinem Beitrag das „hot mess“, das Schlamassel, welches die Kolonisierung in Westafrika hinterlassen hat. Als Problem würden religiös-kulturelle Verwobenheiten wahrgenommen, deren Entflechtung (nicht Trennung!), eine Rückkehr zur Vielfalt sowie eine Wiederentdeckung indigenen Wissens bedeuten könne.
Postsäkulare feministische Religionskritik
Um die Infragestellung normativer Strukturen ging es im letzten Workshopteil „Decolonizing Global Frameworks“: Ina Kerner forderte eine postsäkulare feministische Religionskritik, indem sie westliche Feminismen kritisierte, die neue koloniale Rettungsdiskurse ermöglichen. Humeira Iqtidar appellierte an alle Wissenschaftler:innen, den notwendigen Anspruch an sich selbst zu etablieren, die eigenen Denkmuster anzufragen und zu normative Denktraditionen zu überwinden.
Der zweitätige Workshop brachte viele, wenn auch zum Teil disparate Ansätze zur Sprache und spiegelte dadurch das ebenso disparate postkoloniale Feld von Global Encounters wider. Die Leistung dieser Tagung war es, durch die multidisziplinäre Konstellation die einzelnen Disziplinen in ein ertragreiches Gespräch zu bringen und die Überlagerungen und Verflechtungen der Themen in der notwendig interdisziplinären Reflexion anzugehen. Häufig lag der Fokus auf religiösen Phänomenen und den Theologien, die – wohl zurecht – für ihr Hinterherhinken in postkolonialen Diskursen kritisch angefragt wurden. Theologien, insbesondere die christlichen, dürfen, so der Tenor, sich ihrer Mitverantwortung für globale Missstände nicht mehr entziehen, können die weltweiten, religiösen Transformationsprozesse mit ihren sozialen, politischen sowie theologischen Implikationen nicht mehr ausblenden und müssen sich ihrer Bedeutung in intersektionalen Dynamiken bewusst werden.
Christliche Theologien dürfen sich ihrer Mitverantwortung für globale Missstände nicht entziehen
Doch was nehme ich nun mit aus diesem Workshop, der mir eine Vielzahl neuer Perspektiven bot? Ich, eine junge Theologin, ebenso Ethnologin und Weltenbummlerin, hatte mich schon oft bewusst mit den Schnittstellen und Querschnittsbereichen, den „Dazwischen“ und „Darüberhinaus“ konfrontiert. Schon lange hatte ich mich Themen globaler Begegnungen verschrieben. Doch ein weiteres Mal wurde mein zuweilen romantisierender Blick auf Global Encounters durchkreuzt, die durchwachsen sind von Chancen und hoffnungsvollen Aussichten, aber eben auch von Ungerechtigkeiten, Aus- und Abgrenzungen und Widersprüchlichem.
… mein zuweilen romantisierender Blick auf Global Encounters wurde durchkreuzt
Das breite Spektrum post- und dekolonialer Ansätze im Workshop zeigte mir, dass Global Encounters nur in den ihnen inhärenten Ambivalenzen und Ambiguitäten verstanden werden können, welche folglich für mich konstitutiv für das „Decolonizing“ werden. Als Fazit möchte ich daher abschließend Bruchstücke meines Dekolonisierungsbegriffes vorstellen, wie er sich mir vor dem Hintergrund der Erfahrung des Workshops in seinen Spannungen und Widersprüchlichkeiten darstellt:
- Dekolonisierungsprozesse beinhalten ein Ringen um die Anerkennung von differenzierten Pluralitäten, multiplen ‚Modernen‘ und abgrenzbaren Verschiedenheiten einerseits. Andererseits stehen sie für die Wahrnehmung von Verwobenheiten und das Streben nach der Akzeptanz des ‚Sowohl-als-auch‘ anstatt auf der Entscheidung zwischen ‚Entweder-oder‘ zu beharren.
- Dekolonisierung kann ein ehrliches Interesse für Befreiungskämpfe widerspiegeln, Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen sind aber nicht davor gefeit, auf der Seite derer zu stehen, die asymmetrische Machtgefälle und koloniale Muster reproduzieren.
Leidvolle Erfahrungen dürfen nicht durch Heils- oder Rettungsnarrative glorifiziert werden
- Decolonizing bringt einen Wunsch nach Heilung zum Ausdruck, die aber nur dort erfolgen kann, wo Verwundung und Schmerz geschehen ist. Christlich-theologisch gesprochen gibt es die Auferstehung, das Leben, nur aus der Mitte des Leids heraus und mit den sichtbar bleibenden Narben. Leidvolle Erfahrungen dürfen aber nicht durch Heils- oder Rettungsnarrative glorifiziert werden, sie appellieren vielmehr an das eigene Verantwortungsbewusstsein, das allzu oft gerne überspielt oder gar verdeckt wird.
- Decolonizing meint die Aufarbeitung gemachter Erfahrungen, die die Gegenwart prägen. Dieser Prozess darf jedoch nicht zu glatt oder einfach, schon gar nicht linear gedacht werden: vielmehr ist er dauerhaft und kommt daher nicht zum Abschluss. Darüber hinaus ist er ein unbequemes Unterfangen, das ein ständiges Überdenken und Infragestellen eingespielter Normativitäten verlangt – ein Reflektieren, welches nicht entlang von Traditionen, sondern vielmehr mitten durch diese hindurch stattfindet.
Dekolonisierung bedeutet das Wagnis, sich bereitwillig irritieren zu lassen
- Dekolonisierung bedeutet das Wagnis, sich bereitwillig irritieren zu lassen. Gerade traditionsreiche Disziplinen sind dabei herausgefordert, ihre fest definierten Begriffe und allzu gewissen Plausibilitäten kritisch anzufragen und sich auf eine mögliche Durchlässigkeit von festgezurrten Grenzen und das Aufbrechen von Containern einzulassen. Vermeintlich konsistente und allgemeingültige Denkkonzepte müssen dabei auf ihre Partikularität und Beschränktheit hin überprüft werden.
- Dekolonisierung ist schließlich ein bitteres Erinnern des Verdrängten und ruft das hervor, was schmerzhaft ist, weil sie aufrüttelt und infragestellt, weil sie außerhalb der Komfortzone stattfindet und nach der Veränderung eingespielter Bequemlichkeiten verlangt.
Dekolonisierung muss eben dahin gehen, wo es weh tut.
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Theresa Mayer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Praktische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen sowie Koordinatorin und Geschäftsführerin des Center for Religion, Culture and Society (CRCS) an der Universität Tübingen.
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