Die Abwesenheit des irdischen Jesus ist in der Betrachtung von Sarah Rosenhauer das, was die sprach- und kulturproduktiven Versuche seiner Vergegenwärtigung in Gang setzt. In den Sprach- und Bildkulturen des Christentums begegnen wir spurenhaft ihm – und uns selbst.
Mit Ostern beginnt die Zeit der Abwesenheit: Die irdische Existenz Jesu ist am Karfreitag zu einem Ende gekommen – ein Ende, das als solches auch durch die Auferstehung nicht aufgehoben ist. Damit beginnt eine Zeit des Wartens. Und zugleich beginnt eine Zeit der „Geschäftigkeit“ (Roland Barthes): Jesus wird erfahren, verkündigt, angebetet, erzählt, institutionalisiert. Abwesenheit macht Aktivität nötig – und möglich.
1. Abwesende Anwesenheit: Spiel, Liebe und Mystik
Einen individualgeschichtlichen und theoriebildenden Urtypos dieser aus Abwesenheit geborenen Aktivität beschreibt Sigmund Freud mit dem Spiel eines Kindes, das eine Spule wegwirft und zu sich zurückzieht – „Fort – Da“ – und mit diesem Spiel versucht, die abwesende Mutter gegenwärtig zu halten. Dieser Versuch der „Manipulation von Abwesenheit“ steht nach Roland Barthes auch am Ursprung einer Sprache der Liebe. Die Sprache der Liebe gründet in einem Wunsch von größter Dringlichkeit: Sie „hält den Tod des Anderen fern: ein sehr kurzer Augenblick trennt, wie man sagt, die Zeit, in der das Kind seine Mutter noch für abwesend hält, von der, in der es sie bereits tot glaubt. Die Abwesenheit manipulieren heißt diesen Augenblick verlängern, den Moment, da der Andere aus der Abwesenheit kurzerhand in den Tod stürzen könnte, so lange wie möglich hinauszögern.“ (1)
Den Liebenden bleiben die Abwesenden anwesend.
Indem die Liebende den abwesenden Geliebten innerlich anspricht, lässt sie seine Abwesenheit nicht zu, hält ihn bei sich, ohne ihn bei sich haben zu können: „der Andere ist abwesend als Bezugsperson, anwesend als Angesprochener. Aus dieser eigentümlichen Verzerrung erwächst eine Art unerträgliches Präsenz; ich bin zwischen zwei Zeitformen eingekeilt, die der Referenz und die der Anrede: du bist fort (und darüber klage ich), du bist da (weil ich mich an dich wende).“ (30)
Das Fortsein nicht akzeptieren.
Den Geliebten nicht gegangen sein lassen wollen, sein Fortsein nicht akzeptieren, ihn anwesend halten durch mein Reden zu ihm und ihn und mich damit einkeilen zwischen Abwesenheit und Anwesenheit – das ist auch die Situation, aus der nach Michel de Certeau die Sprache der Mystik entsteht: „Der Eine ist nicht mehr da. ‚Sie haben ihn fortgebracht‘, sagen zahllose mystische Lieder, die mit dem Bericht von seinem Verlust die Geschichte von seinem Widerkommen beginnen, das sich freilich anderswo und anders vollziehen soll, auf eine Weise, die eher die Wirkung als der Widerruf seiner Abwesenheit ist.“ (2) Durch ihre Texte und Körper halten die Mystikerinnen den Einen in der Region eines „absonderlich-fremden Dritten“ die weder Himmel noch Erde ist – und unsere Gegenwart offen für eine Heimsuchung durch ihn.
2. Spuren des Absoluten in den Bildkulturen des Christentums
Eingekeilt zwischen (betrauerter und nicht akzeptierter) Abwesenheit und (erzeugter und heimsuchender) Präsenz und der Liebe und der Mystik so in ihrem Sehnsuchtsgrund verwandt sind nach Knut Wenzel auch die Bildkulturen des Christentums (3). Sie machen in ihrer feinsinnigen Erschließung durch Wenzel ansichtig, worum es der (spielerischen, trotzigen, geschäftigen, melancholischen, mystischen) Manipulation von Abwesenheit geht: um alles.
Jesus nicht in den Tod kippen lassen.
Auch die Bildkulturen des Christentums erfordern und verdanken ihr Entstehen einer Abwesenheit: Jesus ist nicht mehr da. Die Bilder Jesu Christi sind, folgt man dem Repräsentationskonzept der Veronika-Legende, der Versuch, Jesus nicht in den Tod kippen zu lassen, ihn „im oder durchs Bild“ gegenwärtig zu halten und mit ihm den, der sich in ihm vergegenwärtigt: Gott selbst.
3. Die formale Wucht inkarnatorischer Präsenz
Mag dieser Repräsentationsanspruch (das Bild als Evokation realer Gegenwart) auch lange vergangen sein, so markiert er (wie Georges Didi-Hubermann am Beispiel Frau Angelicos zeigt) doch bleibend den Formanspruch der Bilder. Sie sind – nicht unbedingt der Intention ihrer Macher und Betrachter, aber ihrer Motiv- und Formsprache nach – der Versuch der Darstellung des Undarstellbaren mit den Mitteln bildlicher Darstellung. Was sie versuchen ist die Darstellung des Übersinnlichen im sinnlich Konkreten, des Unendlichen im Endlichen, des Absoluten in der Kontingenz irdischer Existenz.
Den Undarstellbaren zeigen.
Dieser Versuch der Darstellung des Undarstellbaren findet sein Modell in dem, der selbst Bild, Ebenbild des unsichtbaren Gottes ist. Jesus ist als Ebenbild Gottes das ursprüngliche Modell einer inkarnatorischen Präsenz: In Jesus Christus setzt sich Gott als das Absolute, das Undarstellbare, Unsagbare in der stofflichen und zeitlichen Konkretheit und Kontingenz eines menschlichen Lebens präsent – und bleibt in seiner Präsenz zugleich entzogen, undarstellbar, unsagbar.
Ansichtig wird diese Spannung von stofflich-inkarnatorischer Vergegenwärtigung des Absoluten und seiner bleibenden Abwesenheit, die die Bildkulturen des Christentums generell durchzieht, etwa in Tintorettos Kreuzigungsdarstellung, auf der die Gottverlassenheit des sterbenden Christus nur durch den „Nimbus eines übernatürlichen Lichts“, das auf seinen Körper fällt, gebrochen wird. „Tintoretto setzt die Inkarnation unter Druck: nicht nur, dass das Göttliche an sich selbst nicht darstellbar ist, sondern nur in seiner menschlichen Gestalt; jetzt wird dem ans Kreuz gebrachten Menschen auch noch zugemutet, im Moment seines Todes ohne Rückhalt einer sichtbar ins Bild gesetzten Präsenz des Göttlichen aus sich selbst für dessen rettende Gegenwart einzustehen – das Menschliche fürs Göttliche; das Übernatürliche kann nur vom Natürlichen her erschlossen werden; als dessen unnatürliche Über-Beanspruchung.“ (279) Das macht die formale Wucht der Bilder aus: Ihr (natürlich-übernatürliches) Motiv reflektiert ihren unmöglichen Formanspruch.
4. Es geht um alles: die normative Wucht inkarnatorischer Präsenz
Die Wucht der Bilder ist aber nicht nur eine formale, Wenzel versteht sie auch und eigentlich normativ. Sie liegt darin begründet, dass die Bilder, so die ästhetische These Wenzels, in ihrer Ding-Wirklichkeit nicht reduzierbar sind auf formale, kunstgeschichtliche, rezeptions- oder produktionsästhetische Gesichtspunkte, sondern gründen in und verweisen auf „etwas, das vom Bild unterschieden und doch nur in Symbolisierungen greifbar ist“ (32) und das Wenzel unter Anlehnung an Walter Benjamins Begriff des Gedichteten das „Gebildete“ nennt. In den Bildern objektiviert sich etwas, das sie übersteigt und das doch nicht außerhalb ihrer Materialität greifbar ist: „Es ist der Mensch als Subjekt, der sich prinzipiell jedem direkten Zugriff entzieht und lesbar nur in den Spuren ist, die er hinterlässt. Das Subjekt – das transzendentale Tier: Pfotenspuren, die den Weg kreuzen und zur Wildnis machen.“ (13)
Im Dargestellten begegnet der Mensch sich selbst.
Am Grund der Bilder steht der Mensch als Subjekt: „unendliche Endlichkeit“ (354), endliche Existenz von unendlicher Bedeutung, endliches Leben, das für seine unendliche Bedeutsamkeit nicht einstehen kann, das diese Bedeutsamkeit nur im Modus der Sehnsucht „eher ist als hat“ (17) – einer Sehnsucht, die gerade in ihrer Unendlichkeit nach konkretem Ausdruck verlangt. „Wahr sind die Bilder Christi nicht als getreue Abbilder einer von ihnen unabhängigen und ohne sie bestehenden Wirklichkeit; ihre Wahrheit liegt in der osmotischen Funktion, sowohl Ausdrucksgestalt der Bedeutungssehnsucht des Menschen als auch Konkretionsgestalt … der Bedeutungszusage Gottes zu sein.“ (17) Aus den Bildern Jesu spricht – als Sehnsucht und Zusage: das Absolute. Darin liegt die normative Wucht der Bilder Jesu: Ihr Motiv, Jesus als „menschliche Verleiblichung“ der „Bedeutungszusage Gottes“ (17), reflektiert und beglaubigt ihren subjektiv-objektiven Grund: die Sehnsucht des Menschen, in seiner Kontingenz und Endlichkeit dennoch als er selbst zu zählen, bedeutsam zu sein.
In den Bildern geht es um – alles!
Die normative Wucht der Bilder speist sich daraus, dass es (in) den Bildern um alles geht. Und daraus, dass das bedeutet: es geht um jede Einzelne und jeden Einzelnen. Die inkarnatorische Präsenz des abwesenden Absoluten wiederholt sich in jedem neuen menschlichen Leben, das von unbedingter, nichtrelativierbarer Bedeutung ist und sich als solches doch in der Kontingenz einer zeitlichen und leiblichen Existenz vollzieht. Die Wucht des abwesend-anwesenden Absoluten wird so ansichtig in jedem menschlichen Antlitz, das als „Evokation einer präzedenzlosen Gegenwart“ (25) eine Macht oder Kraft ausübt, die sich nicht aus seiner Besonderheit ableiten lässt. „Es ist nicht die dem Antlitz ablesbare Lebensgeschichte, ein aus seinem Ausdruck sprechendes Anliegen, seine physiognomische Schönheit, woraus die Kraft des Antlitzes sich speist. […] So scheint ein Antlitz der Lektüre sich darzubieten, der Blick wandert an ihm auf und ab, sucht seinen Ausdruck und sein Sprechendes zu lesen. Und stößt auf ein bloßes Selbst und schlägt die Augen nieder.“ (352) Dieses bloße Selbst zeugt, nicht dadurch, was es ist, sondern bloß dadurch, dass es ist davon, „dass Sinn ist“ (352).
Der nachösterlich abwesende Jesus Christus wird gegenwärtig im Blick auf das Gesicht der Nächsten. „Kein anderes Bild des Absoluten haben wir als seine Reflexion im Antlitz des Subjekts.“ (354)
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Autorin: Sarah Rosenhauer, Theologin u. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Fundamentaltheologie und Dogmatik der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Foto: Samuel Zeller / unsplash.com
(1) Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt am Main 162014, 30.
(2) Michel De Certeau, Mystische Fabel. 16. bis 17. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2010, 8.
(3) Wenzel, Die Wucht des Undarstellbaren. Bildkulturen des Christentums, Freiburg i.Br. 2019.