Eisenbahn und Gottesdienst – ein pas de deux? Höchste Zeit, den verborgenen Zusammenhang zwischen einem technikgeschichtlichen Kulturgut und dem Monument der christlichen Liturgie aufzuarbeiten. Für Daniel Bogner mehr als eine Pflichtaufgabe…
Der hier vorliegende Text ist Pionierarbeit und macht sich an eine oft geforderte Aufgabe: die Übersetzung des christlichen Heilsgeschehens in welthafte Voll-züge hinein. Volle Züge sind in der Tat eine sehr welthafte Erfahrung vieler Zeitgenoss:innen. Der Text beansprucht deshalb, ein Stück trans- und meta-relationaler Theologie zu sein und sieht sich durch die Worte des II. Vatikanums ermutigt: «Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute…» (GS 1) Und Menschen von heute sind eben oftmals Bahnreisende.
Die Grammatik unserer Synopse entfaltet sich in mehreren Schritten, die ein breites Feld wechselseitiger Erhellung freilegen. Sowohl für das Verständnis der christlichen Liturgie wie auch für eine erstphilosophische, theo-pragmatische Grundlegung des Eisenbahnwesens möchte diese neuartige Hermeneutik langfristig Bedeutsamkeit entfalten… [1]
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Gespurte Potentialität
Verfügt ein Gemeinwesen oder ein Land über ein ausgebautes Eisenbahnwesen, kommt dies einem Versprechen gleich: Du könntest … jederzeit von hier nach dort gelangen! Dafür gibt es einen gangbaren Weg, es existiert die reale Möglichkeit. Kein hohles Versprechen, keine Leerformel, keine Sonntagsrede, wie wir sie so oft hören. Einen Eisenbahnanschluss zu haben bedeutet: Alles kann, nichts muss! Man kann diesen Ort verlassen, dafür gibt es eine Infrastruktur, die man nutzen könnte, wann immer man mag. Gespurte Potentialität: Die Möglichkeit ist nicht nur angedeutet, sie legt sich einem nahe.
Eine Eisenbahnlinie ist etwas anderes als eine Strasse. Auf der Strasse könnte irgendetwas daherkommen, bei der Schiene nicht, da gibt es eine präzise Vorerwartung – welche Lokomotive da fährt, in welcher Wagenreihung der Zug zusammengestellt ist, welches rollende Material zum Einsatz kommt, in welcher Zeitenfolge die Züge verkehren etc. Der Regelbeliebigkeit des Strassenverkehrs steht die Regelhaftigkeit des Schienenverkehrs gegenüber. Signaltechnik und Bremserzettel, LZB («Linienförmige Zugbeeinflussung») und SIFA («Sicherheitsfahrschaltung»), der «Totmannknopf» für den Lokführer, bei dessen Nichtbetätigen die Zwangsbremsung eingeleitet wird, per Fahrplan angekündigte Verkehre auf den Gleisen, die Tag für Tag, Fahrplanjahr um Fahrplanjahr sich wiederholen, nur per langfristiger Ankündigung variieren…
Welch ein Universum sich «anbahnender» Realitäten. Und was ist wirklicher als das Ereignis eines zur angekündigten Zeit vorbeirauschenden Fernzuges, um dessen Kommen man wissen konnte, den man aber doch nicht zu fassen bekommt? Den die anderen, die darin sitzen, als Möglichkeit ergriffen haben, aber keineswegs dazu gezwungen wurden? Das Ereignis bekommt Gestalt. Eine knappere Formel, die Eisenbahn auf den Punkt bringt, gibt es nicht.
Eisenbahn ist kein Gottesdienst, aber der liturgische Gottesdienst ist institutionalisierte Potentialität: Wir haben nichts in den Händen, aber mit den vorgespurten, zeichenhaften Vollzügen errichten wir einen Möglichkeitsraum. Einen Raum, in dem Gott ‘passieren’ kann. Wo, wenn nicht hier? Ja, natürlich – überall anders auch. Aber da wir den Deus semper maior niemals in ein Gefäss zwängen dürften, er ohnehin wie der Dieb in der Nacht kommt und uns überrascht, bleibt uns nichts anderes als uns zu bereiten – mit den eingeübten und überlieferten Zeichen und Vollzügen, die wir diesem Höchsten vorbehalten. Gottesdienst, das ist also auch gespurte Potentialität. Demütiges Kreisen um die leere Mitte. Hoffnung in kultisch-rituell geronnener Gestalt.
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Freiheit ergreifen
Eisenbahnverkehr ist eine Modalform, ein Können. Es gibt den Wagenpark der Eisenbahngesellschaft, unterschiedliche Lokomotivbaureihen, Geschwindigkeiten und Reisedauer, die variieren. Es gibt einen Fahrplan, der Angebote macht, auf die man eingehen kann. Es sind definierte Angebote, aber es bleibt mir vorbehalten, sie zu nutzen. Wenn ich sie allerdings nutze, weiss ich, worauf ich mich einlasse.
Mit anderen Worten: Man kommt mir entgegen bei meinem Freiheitsgebrauch. Die Eisenbahngesellschaft bietet ein Gerüst der Entscheidungshilfe, von dem man variabel Gebrauch machen kann. Und das ist heute ein wirkliches Angebot – inmitten eines digital potenzierten Optionenchaos, das letztlich häufig dazu führt, dass ich keine der offerierten Möglichkeiten nutze, weil ich paralysiert bin ob der dargebotenen Vielfalt. Eisenbahn ist das Angebot: Hier geht’s lang, oder aber dort, komm und sieh, es gibt einen Weg und der zeichnet sich bereits ab.
Und die Liturgie? Der Glaube setzt frei, aber Glaubenspraxis braucht Formen, Wege und Sprachen. Liturgische Existenz ist ein Angebot: ein Spinnrad, das aus den vielen Möglichkeiten der Gottesrede einige leb- und sagbare Optionen macht. Vorstellbar wären tausende Weisen der Gottesrede und -feier, aber die Liturgie bietet geronnenes Erfahrungswissen, das sich bewährt hat. Und das zugleich anschlussfähig und entwicklungsoffen bleiben sollte. So wie auch ans Eisenbahnnetz immer wieder angebaut wird, Nebenstrecken wiederbelebt, Neubaustrecken eröffnet. Die Freiheit von Eisenbahn und Liturgie ist eine, die nicht nur als abstrakte und damit ungreifbare «Freiheit von» existiert. Es ist «Freiheit zu»: Sie bietet geformte Wege, sie ist «erfahrungsfähig» und damit erst Freiheit, die wirklich wird.
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Das Prinzip Retinität
Die Eisenbahn ist zunächst einmal ein Netz. Aber nicht irgendeines, sondern eine überschaubare Alternative zum anderen Netz unserer Zeit, dem Internet. Das Eisenbahnnetz ermöglicht wie dieses viele Bewegungen von hier nach dort und über viele Stationen. Es ist ein Mittel der Beförderung, des Transports, der Transformation, des Zusammenhalts und des Zusammenbringens. Es verdichtet und sorgt für Kohärenz. Im Unterschied zum digitalen Netz unserer Zeit kennt es aber Beschränkungen: Die Optionen sind nicht unendlich, sondern definiert. Man weiss um die möglichen Ziele, man kennt die erwartbare Infrastruktur unterwegs und am Zielort, die Arten des Reisens (Abteil oder Grossraum), die Anschlussmöglichkeiten… Wenn ich in anderen Städten am Bahnhof bin, kann ich mir die Abfahrtstafeln ansehen und davon träumen: Von Stuttgart über Nacht nach Venedig reisen? Von München nach Rom? Von Mailand nach Sizilien? Es wäre alles möglich, die Verbindungen existieren, sie werden realisiert werden und ich kann Teil dieses weiten, universalen Netzes werden… welch ein Versprechen auf Teilhabe und Partizipation!
Auch die Liturgie bietet Vernetzung: Im christlichen Gottesdienst als Gemeinde zu beten, verbindet. So wie hier beten andere, an anderen Orten, zu ähnlichen Zeiten. Mit ganz ähnlichen Worten. Es bildet sich ein universaler Hoffnungs- und Erwartungszusammenhang. Zeiten, Anlässe, Rhythmen und Orte sind die Netzinfrastruktur dieses Zusammenhangs. Amen.
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Vorsehung und Vorhersehung – das Prinzip Kursbuch
Eisenbahn, das bedeutet Erwartungssicherheit. Heute, morgen, übermorgen um diese Zeit kann ich von hier nach dort gelangen. Wie tut das gut und entlastet, es ist ein Stück Kontingenzbewältigung. Und in der Coronazeit war die Bahn ja eine der wenigen wirklichen Konstanten! Wie auch im Winter, bei Wind und Wetter… sie fährt und fährt und fährt. Ein Flugplan wird gerne mal nach der Disposition und betriebswirtschaftlichen Planung der Fluggesellschaft, den ausgehandelten Slots verändert und umgeschrieben. Nicht so der Eisenbahnplan. Hier herrscht das Prinzip Kursbuch. Schwarz auf weiss sind die Verkehre vorgesehen (Providenz!), lange im Voraus werden Veränderungen «zum nächsten Fahrplanjahr» bekannt gegeben. Zugverkehr ist nachvollziehbar und voraussehbar.
Mein Grossvater hat mir die Lektüre des literarischen Genres «Kursbuch» beigebracht. Wie bin ich ihm dankbar! Es ermöglicht das, was man «diskrete Planung» nennen mag: Ohne explizite Planung Bescheid wissen, alles nachvollziehen können, die Baugesetze des Netzes verstehen und sie im eigenen Reisen aktualisierend praktizieren…
Gehe ich in einen katholischen Gottesdienst, ob in Indonesien, der Schweiz oder in Togo, so weiss ich grosso modo, was mich erwartet. Die katholische Liturgie ist das Kursbuch des in Zeit und Geschichte sich bewähren müssenden Glaubens. Sie lässt einen nicht unbehaust zurück in den eigenen vier Wänden von Privatüberzeugung und Innerlichkeit. Die Liturgie bietet so etwas wie Wartesaal, Bahnhofsgaststätte und Perron in einem. Sie richtet mir einen Platz ein, nimmt mich an der Hand, sie führt mich aus der Enge des Eigenen in die Weite des Gemeinsamen. Ob Hochamt, Rosenkranz, Maiandacht oder Taizé-Gebet – das liturgische Kursbuch offeriert Bummelzug, Hochgeschwindigkeit und integrierten Taktfahrplan zugleich, eben bedürfnisgerecht.
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Heute hier, morgen da – das Prinzip Nachtzug
Eisenbahnreisen bedeutet: geerdet reisen. Entfernung wird hier nicht geleugnet, ihre Überbrückung nicht simuliert, sondern spürbar gemacht. Nirgends ist dies so eindrucksvoll zu erleben wie bei einer Nachtzugreise. Im Zug schlafen zu müssen bedeutet, wirklich viel Zeit darin zu verbringen, in Bewegung zu sein während dieser Zeit und damit echte Distanzen zurückzulegen. Anderswohin zu gelangen erfordert einen Aufwand, und der wird bei der Nachtzugzeise sinnenfällig, gerade da man schläft. Denn das Anderswo wird einem nicht geschenkt, man muss es sich reisend erarbeiten – selbst wenn man sich diese Reise so angenehm wie möglich machen kann. Was für ein Technikverständnis!
Es ist nicht das Ergon-Modell des Aristoteles, in dem die Technik Mittel zum Zweck ist. Sondern ein Technikverständnis im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour: Wir Menschen sind von dem Ort, von der Scholle abhängig, auf der wir uns befinden und von der aus wir mit den anderen Beziehungen aufnehmen. Diesen Ort können wir nicht (digital) leugnen oder mit unseren technologischen Krücken überspringen und damit unsichtbar machen.[2] Eisenbahn ist eine Technik, die ehrlich ist. Sie vermittelt vollkommene Transparenz, dass es diesen Ort, der unsere Abhängigkeit begründet, gibt. Und dass ein ziemlicher Aufwand erforderlich ist, ihn zu verlassen und anderswohin zu gelangen.
Wer sich jemals vor Augen geführt hat, wie eine alte Fernverkehrsdampflok der Baureihe 01 betriebsbereit gemacht und dann gefahren werden will, um den Fahrplan einzuhalten, das Material zu schonen und die verfügbare Leistung abzurufen, der weiss, was mit diesem Aufwand gemeint ist. Morgens aus dem Nachtzug zu steigen und das Croissant am Mittelmeer zu geniessen, auch wenn man abends noch auf der Alpennordseite weilte, vermittelt eine beglückende und ganz und gar authentische Welterfahrung: Wir sind ortsgebundene Wesen, von Gaia abhängig und auf sie angewiesen. Ortswechsel sind möglich und die eleganteste Art und Weise, sie ehrlich zu vollziehen, ist die Eisenbahn. Was für eine Zukunftstechnologie![3]
Die Liturgie des christlichen Gottesdienstes folgt zwar einem universalkirchlich verbreiteten und gültigen Schema, aber es ist kein Schema F. Stets kommt es darauf an, dass die Gemeinde vor Ort diesen Gottesdienst wirklich feiern möchte, dass die Feiernden und Vorstehenden die Feier bedacht vorbereiten und würdig begehen. Kein römisches Formular vermag eine Garantie dafür abzugeben, dass Gnade und Heil in diesem konkreten Feierereignis auch wirklich strömen. Es kommt darauf an, konkrete participatio actuosa zu vollbringen, dabei und gegenwärtig zu sein, innerlich und leibhaftig, hier und jetzt. Das liturgische Feiern ist unvertretbar, in höchstem Masse persönlich und dennoch überindividuell.
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Ernähren und erhalten – das Prinzip Speisewagen
Was für eine Freude war es zu erleben, dass die Speisewagen der Deutschen Bahn vor einiger Zeit mein Heimatbier ausschenkten – Neumarkter Lammsbräu! Nah und fern, Bewegung und stabilitas loci, das kam mit einem Mal zusammen. In Neumarkt i.d. OPf. zu Hause, daheim in der Welt… Wie wunderbar. Züge, die Speisewagen führen, spielen das grosse Symphoniekonzert des Eisenbahnwesens. Denn damit wird dokumentiert: Wir respektieren deinen Tagesablauf, der Zug respektiert den Rhythmus deines Lebens und des heutigen Tages, den du darin verbringst. Der Zug bietet dir an, dich auf dieser Wegstrecke deiner Lebenszeit zu begleiten. Diskret, an deiner Seite, irgendwie bescheiden. Dass polnische und tschechische Speisewagen das auf noch höherem (kulinarischen) Niveau vermögen als die deutschen und schweizerischen Voitures restaurants, geschenkt! Ein Zug mit Speisewagen verkörpert Haltung: Hier gehst du nicht verloren, hier wirst du ernährt und im Leben gehalten. Welch Schöpfergestus!
«Empfangt vom Brot des ewigen Lebens!» In der Eucharistiefeier kommt die Liturgie zu sich selbst. Geistliche Nahrung und Speisung durch den göttlichen Ernährer. Mitmachen, sich einreihen, dabei sein, Teil der feiernden Gemeinde werden, mit den anderen glauben, diesen Glauben feiern, als feiernde Gemeinde um den Tisch zusammentreten und sich Seiner erinnern. Im Erinnerungsmahl Seine Gegenwart erfahren, durch das Mahl gestärkt werden mit Himmelsbrot. Mit der eigenen Welt in den Gottesdienst eintreten, sich stärken lassen mit «Wegzehrung» und dann hinausgehen in die Welt und durch die göttliche Speise selbst geben können, in Diakonie und durch tätige Nächstenliebe.
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Macht Euch die Erde untertan – das Prinzip Erschliessung
Macht es einen Unterschied, ob ein Land über dichtes Eisenbahnnetz verfügt oder nicht? Und ob! Es ist der Unterschied um alles. Der Unterschied um null oder eins. Das eine Mal ist das Land sich selbst gegenwärtig, das andere Mal verbleibt es nur Raum ohne Ziel und Richtung. Es ist nicht erschlossen. Eisenbahn, das bedeutet: Aus Raum wird Ort, indem geographische Punkte über die potentielle Erreichbarkeit erschlossen werden – wirtschaftlich, kulturell, sozial, mental. Ans Eisenbahnnetz angeschlossen zu sein, das heisst: Es gibt gute Gründe für Verkehr an diesen Ort. Und von diesem Ort weg. Und wo Verkehr ist, ist Leben und Lebendigkeit, Austausch und Bewegung. Dynamik und Entwicklung. Ein Ort mit Eisenbahnanschluss erhebt sich aus der Bedeutungslosigkeit. Es entsteht Visibilität und Erreichbarkeit.
Wie traurig ist doch das Sterben der Strassenbahnnetze in den vom Zweiten Weltkrieg zerstörten deutschen Innenstädten. Welche Illusion, Stadtbusse könnten diese urbane Erschliessung herstellen, die über den schienengebundenen Stadtverkehr einstmals gegeben war! Schienenverkehr ist Indikativ, Strassenverkehr allenfalls Konjunktiv. Manche Städte verfügen immerhin noch über ein oberleitungsgebundenes Stadtbusnetz. Kein Ersatz für die Tram, aber besser als herkömmliche Busse. Denn auch Oberleitungen flüstern die Botschaft: Sei beruhigt, diesem Weg kannst du trauen, man wird dich einsammeln, du gehst nicht verloren!
Die Welt zu erschliessen, das ist dem Theologen und der Theologin so nahe! Macht euch die Erde untertan! Aber auf eine kultivierte Weise, nicht als dominante Ausbeuter, sondern als neugierige Entdecker, als solche, die sich führen und leiten lassen auf den Schienen dieser Welt. Die Güte dieser Schöpfung unterstellen, nicht ihre Langeweile oder Abgründigkeit. Wie Reisende, die in den Fernzug mit einem Kribbeln im Bauch einsteigen, weil sie unterstellen, dass er sie an Orte bringt, die ihren Horizont erweitern und öffnen könnten… «Wer glaubt, ist nicht allein» – so Papst Benedikt. «Wer glaubt, steigt in den Zug» – das ist der «itinerarische Imperativ». Gottesdienst feiern lässt die transformatorische Kraft des christlichen Glaubens erfahrbar werden, und in die Eisenbahn steigen beflügelt zu Begegnungen mit anderen Menschen und Regionen, die ebenfalls das Selbst alterieren, seine Enge öffnen.
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Creatio ex nihilo – das Prinzip Modellbahn
Was für ein Vorurteil: Modelleisenbahnbauer, das sind Nerds, die zu viel Zeit und zu viel Geld haben. Wer den Modellbahnbau als Hobby hat, ist Schöpfer seiner eigenen Welt. Da wird zwar imitiert und nachgestellt, aber mit der Vision des Gelingens, im Durchspielen einer Tragik, die man im Modell nicht wirklich durchleiden muss, der Möglichkeiten, die man endlich – bauend – ausleben darf. Modellbahnbau, das ist der Blick auf die Wirklichkeit dieser Welt, aber mit einem Schritt der inneren Distanz, die in den eigenen Schöpferhänden liegt. Nach den Stunden des Bauens und Spielens kann man den Schalter abstellen und die Welt des Modells verlassen… Um dann wiederzukommen, zu verbessern, zu verändern, mit neuem Blick dem Schöpferwerk zu begegnen.
«Und er sah, dass es gut war!» Auch wenn die Schaltelektronik des Schattenbahnhofs heute nicht richtig funktioniert. Das muss an den Figuren der Anlage liegen, die ja offenbar ein Eigenleben führen, aber gut, man gab ihnen Freiheit… Wenn Theologinnen und Theologen Modellbahner sind, dann wollen sie nicht Gott spielen. So banal denkt niemand. Aber sie praktizieren die Rollenübernahme im symbolhafter Form. Wie Thomas von Aquin es im Lex-Traktat seiner Summa theologiae so treffend festhält: Das Telos des Seienden «Mensch» besteht gerade darin, dass er – geschaffen nach dem Bilde Gottes – es diesem in dessen regelnder und messender Vorsehung für die Welt gleichtut, indem er als Menschenwesen seinerseits misst und regelt (= ethisch urteilt)…
Ich kann eine Welt erschaffen, in der ich mehr sehen darf als nur das Produkt meiner Klebepistole. Wissend, dass die grosse Welt der Wirklichkeit voller Brüche und Risse ist, die zu heilen wir Menschen nicht in der Lage sind. Im Kleinen aber kann ich spüren: Vernetzen, erschliessen, die Möglichkeit zumindest ansatzhaft wirklich werden zu lassen, das liegt im Menschsein begründet – die leise Ahnung des Gottes-Gestus in Märklin-HO. Wow & AMEN.
[1] Dieser Text hat eine Geschichte. Er ist in erweiterter Fassung geschrieben als Hommage an den Liturgiewissenschaftler Martin Klöckener anlässlich seines Ausscheidens aus dem aktiven Dienst an der Universität Fribourg (um nicht zu sagen: anlässlich seiner „Z-Stellung„…). Zwischen Eisenbahnfreunden, die wir beide sind, gibt es Resonanzen, die man nicht wirklich beschreiben kann. Auch wenn Martin Klöckeners Herzenslokomotive – wohl aus Sauerländer Nebenbahn-Nostalgie – die Diesel-218 der DB ist und ich selbst – dem Geburtsjahr als Zeitpunkt der Indienststellung sowie unzähligen Fernfahrten in von ihr gezogenen Zügen zwischen Heimat- und Studienort geschuldet – die wunderschöne E 03 meine Lieblings-Zugmaschine nenne, treffen sich hier Leidenschaften, die nach Artikulation verlangen. Der hier vorliegende Text geht dem nach. Wie Lesende bemerken werden, geschieht dies im mutigen Wechselspiel aus Ironie und Ernsthaftigkeit, aus Humor und gedanklichem Wagnis.
[2] Vgl. Bruno Latour, Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime, Suhrkamp, Berlin 2020.
[3] Um ein Vielfaches gekonnter als hier ist die Faszination des Eisenbahnwesens beschrieben bei Jaroslav Rudiš, Gebrauchsanweisung fürs Eisenbahnreisen, Pieper: München 2021.
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Daniel Bogner ist Professor für Theologische Ethik an der Universität Fribourg und Mitglied der Redaktion von feinschwarz.
Bild: Eisenbahnviadukt Altenbeken / Heinrich Linse – pixelio.de