Sicherungsstrategien haben die Macht, zu verletzen – das ist in der Pandemie deutlicher geworden, auch wenn es stets der Fall ist. Hildegund Keul über die Spannung von vulnerabler Souveränität und souveräner Vulnerabilität.
„Schütze deinen Nächsten wie dich selbst.“ So lautete im Jahr 2010 eine Aktion der katholischen Kirche in Luzern. Am Bahnhofsplatz verschenkte man Kondome mit diesem Motto, um HIV-Infektionen zu verhindern. Die Corona-Krise macht die existentielle Bedeutung von Sicherungsstrategien erneut spürbar. Sie sind aus dem sozialen und ökonomischen, politischen und religiösen Leben nicht wegzudenken. Generell gilt: Wer sich nicht selbst schützt, erleidet sehr schnell Schaden. Inmitten einer Pandemie steigt der Bedarf an Schutzmaßnahmen nochmals drastisch. Diese antworten auf die erhöhte Vulnerabilität, die das Virus erzeugt.
Wer sich nicht selbst schützt, erleidet sehr schnell Schaden.
Aber die Corona-Krise bringt auch etwas Anderes ans Licht: Schutzmaßnahmen bergen ein Gewaltpotential. In vielen Fällen treffen sie Andere und erhöhen deren Vulnerabilität. Sie können sogar ihr Leben in Gefahr bringen. Nachdem Indien zum Schutz der Bevölkerung eine Ausgangssperre verhängt hatte, machten sich Ende März 2020 Millionen Wanderarbeiter:innen zu Fuß auf den Nachhauseweg, der nichts anderes als ein Hungermarsch war. Die Schutzmaßnahmen treffen die Ärmsten der Armen am stärksten, denn sie erhöhen die Vulnerabilität der längst schon Vulnerablen.
Die Schutzmaßnahmen treffen die Ärmsten der Armen am stärksten.
Besonders dramatisch zeigt sich die Vulneranz (Verletzungsmacht) von Schutzstrategien derzeit in den europäischen Flüchtlingslagern.[1] Für das Elendslager Moria herrscht seit zwölf Wochen eine strikte Ausgangssperre. Niemand weiß, wieviele Menschen hier leben, die Schätzungen gehen bis zu 30.000, obwohl das Lager für nur 3.000 Menschen konzipiert war. Die knappen Lebensressourcen der Menschen wurden aufgrund der Pandemie noch knapper. Die mediale Berichterstattung wurde noch fragiler. Die medizinische Versorgung, eine einzige Katastrophe, noch katastrophaler. Selbstschutz braucht Wasser, Seife, Abstand. All das ist an diesen Heterotopien der Menschheit unmöglich.
Wie sich und die eigenen Kinder schützen? Was passiert, wenn das Virus trotz Abschottung im Lager ausbricht? Allein die Frage nach den Leichen. Wohin mit ihnen, wenn es längst nicht genug Krankenhäuser, aber noch dazu keine Kühlwagen gibt? Die Situation ist jetzt schon furchtbar. Aber mit verstärkter Unterstützung ist nicht zu rechnen, denn die Länder, die sie geben könnten, sind vollauf mit Selbstschutz beschäftigt. Und seit neuestem mit „Lockerungen“, die man sich nicht mit dem Blick auf Flüchtlingslager verderben lassen will.
Selbstschutz braucht Wasser, Seife, Abstand – unmöglich in Flüchtlingslagern wie Moria.
Ein weiteres Beispiel für die Vulneranz, die der Vulnerabilität erwächst, gibt der Aufruf vom 8.5.2020 unter Führung von Erzbischof Carlo Maria Viganò und Kardinal Gerhard Ludwig Müller. Sie wollen nicht akzeptieren, dass auch die Kirche und speziell die Eucharistiefeier sich in der Pandemie verwundbar zeigen. Ihre Souveränität ist angetastet. Aber statt den virologisch notwendigen Verlust von Privilegien zu akzeptieren, gehen sie zum Angriff über.
Das Schlimme hieran ist: Ihre Verschwörungstheorien spielen Regierungen wie der in Brasilien in die Hände, die die hohen Opferzahlen in Elendsvierteln schulterzuckend in Kauf nehmen. Eine „kleine Grippe“ nannte Präsident Jair Bolsonaro die neue Krankheit. Nun gibt es dort täglich neue Infektionsrekorde, allein am 6. Juni 1.473 registrierte Tote. Indigene Stämme müssen wegen erhöhter Vulnerabilität befürchten, dass das Virus sie auslöscht. Aber gut: ohne sie lässt sich der Regenwald schneller abholzen.
Das Opfern von Menschen ist nicht nur ein archaisches, sondern auch ein aktuelles Problem. Verschwörungstheorien aus der katholischen Kirche geben solchen Menschenopfern Rückendeckung. Um sich selbst, die eigene Kirche und die eigenen Privilegien zu schützen, werden sie vulnerant.
Regierungen , die die hohen Opferzahlen in Elendsvierteln schulterzuckend in Kauf nehmen
Die Vulneranz von Schutzmaßnahmen ist kein Alleinstellungsmerkmal der Corona-Krise. Vielerorts sind es ausgerechnet die Sicherungssysteme selbst, die neue Verwundbarkeiten erzeugen. So war es auch bei dem gezielten Absturz der Germanwings-Maschine 9525 an den Westalpen bei Prads-Haute-Bléone vor fünf Jahren. Um die Flüge vor terroristischen Anschlägen zu schützen, hatten die Fluggesellschaften nach 2001 ihre Flugzeuge mit schussfesten Türen, Spezialschlösser und weiteren Sicherungsmaßnahmen aller Art geschützt. Sie machten das Cockpit zu einem Hochsicherheitsraum. Aber genau deswegen konnte der Pilot den durch seinen Co-Piloten herbeigeführten Absturz nicht verhindern. Er rüttelte an der hochgesicherten Tür, die sich nicht öffnen ließ.
Das Wort Schutz hat im Deutschen einen überaus positiven Klang. Zur ganzen Wahrheit gehört aber, dass Schutz häufig auf Kosten Anderer geht. Vulnerabilität und Vulneranz hängen eng zusammen. Sie bilden ein Spannungsfeld mit vielschichtigen, gewollten und besonders auch ungewollten Machtwirkungen. Daher ist es notwendig, nicht allein auf die Vulnerabilität von Menschen und Gruppen zu schauen. Das gilt auch für die Vulnerabilitätsforschung, die in den letzten Jahren in allen Wissenschaftsbereichen Aufschwung gewinnt. Die menschliche Vulneranz ist bislang „la part maudite“ (Georges Bataille), „der verworfene Teil“ dieser Forschung, nicht einmal Judith Butler konnte daran etwas ändern.
auch der Vulneranz ins Gesicht sehen, die aus der eigenen Vulnerabilität entsteht
Vulnerabilität ist ein Thema der Corona-Zeit. Aber für ein humanes Zusammenleben ist es entscheidend, auch der Vulneranz ins Gesicht zu sehen, die aus der eigenen Vulnerabilität entsteht. Weil man sich selbst, die eigenen Kinder, die eigene Kultur, die eigene Religion schützen will, greift man zu Maßnahmen, die zwar die eigene Vulnerabilität verringern, die Vulnerabilität Anderer jedoch erhöhen. Die Migrationsabwehr in etlichen Ländern Europas liefert alltäglich Beispiele, wie sogar aus gefühlter Vulnerabilität heraus Vulneranz entsteht.
Die Vulnerabilität der Anderen …
Wenn Europa die Menschenrechte wahren will, braucht es einen anderen Umgang mit Vulnerabilität. Was dies bedeutet, führen derzeit jene Menschen vor Augen, die inmitten der Pandemie in Medizin und Pflege aktiv sind. Auch bei ihnen steht Selbstschutz ganz oben. Aber das ist nicht alles. Vielmehr durchbricht ein doppelter Blickwechsel den Tunnelblick auf sich selbst. Zwar ist die eigene Vulnerabilität im wahrsten Sinn des Wortes naheliegender, sie drängt sich schneller auf und ist stärker zu spüren. Aber gerade deswegen richten medizinische Kräfte die Aufmerksamkeit auf die Vulnerabilität der Menschen, die ihnen anvertraut sind. Sie begreifen die Notleidenden, egal woher sie kommen und wer sie sind, als ihre Nächsten. Der erste Blickwechsel richtet sich demnach auf die Vulnerabilität der Anderen.
Perspektiven auf Vulnerabilität in Pflege und Medizin
… und die eigene Vulneranz
Der zweite Blickwechsel reagiert auf die Tendenz von Menschen, die Vulneranz, die sie direkt oder indirekt, gewollt oder ungewollt selbst ausüben, herunterzuspielen. Bei sich selbst will man die Gewaltsamkeit nicht wahrhaben, denn das Selbstbild besagt, dass man friedliebend, kommunikativ und human ist. Und natürlich nicht ansteckend, wie der britische Premierminister Boris Johnson von sich selbst gesagt hätte, bevor er lebensbedroht im Krankenhaus lag. Eine Gefahr sind immer nur die Anderen, am meisten diejenigen, die von anderswoher kommen. Will man die Menschenrechte wahren, muss man dieser menschlichen Tendenz entgegensteuern, indem man bei sich selbst den Blick auf die Vulneranz richtet. In Medizin und Pflege engagierte Menschen wollen sehr genau wissen, welche Gefahr von ihnen ausgeht.
doppelter Blickwechsel
Der doppelte Blickwechsel besagt, dass man bei sich selbst besonders auf die Vulneranz und bei den Anderen besonders auf die Vulnerabilität achtet. In Fortführung der Analysen des französischen Philosophen Georges Bataille (1897-1962) kann man einen solchen Umgang mit Vulnerabilität souverän nennen. Bataille setzt Souveränität gerade nicht bei jenen an, die über den Ausnahmezustand entscheiden (so Carl Schmitt), sondern die in ihn hineingeraten, die sich plötzlich in einer Extremsituation befinden, die alle Kräfte erfordert und mobilisiert. Souverän handelt, wer sich im Ausnahmezustand ganz anders verhält, als es unter der Maxime des Selbstschutzes zu erwarten wäre. Würden alle Menschen, die derzeit in Medizin und Pflege tätig sind, aus Gründen des Selbstschutzes ihre Arbeit niederlegen, hätte das Virus freies Feld und leichtes Spiel. Im Ausnahmezustand souverän zu agieren, heißt hingegen, sich nicht im Selbstschutz zu verschanzen, sondern im Bewusstsein möglicher Risse im eigenen Schutzschild Risiken einzugehen, die dem Leben dienen. Souveräne Vulnerabilität ist das Gebot der Stunde.
im eigenen Schutzschild Risiken eingehen, die dem Leben dienen
Dass das gefährlich werden kann, allem Gerede vom Postheroischen zum Trotz, zeigt der Tod des chinesischen Arztes und Erstentdeckers des Corona-Virus Li Wenliang. Souveräne Vulnerabilität sichert nicht immer das eigene Leben. Aber sie praktiziert Humanität. Würden alle Menschen ausschließlich auf ihren Selbstschutz achten, lebten wir von jetzt auf gleich in einer gnadenlosen Gesellschaft. Zum Glück ist das nicht der Fall, wie all die Menschen demonstrieren, die sich beherzt den Gefahren der Pandemie stellen. Das christliche Gebot der Nächstenliebe zeigt sich in neuer Form, selbst in jenem Mund-Nase-Schutz, den wir für Andere tragen. Dass die Nächsten insbesondere die Notleidenden sind, hat Europa erst noch aus der Pandemie zu lernen. Auch hier ist es nicht das schlechteste Motto: Schütze deine Nächsten wie dich selbst.
Dr. Hildegund Keul ist apl. Professorin für Fundamentaltheologie und Vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Würzburg und leitet das von der Projekt „Verwundbarkeiten. Eine Heterologie der Inkarnation im Vulnerabilitätsdiskurs“, gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 389249041.
Bild: Moria, Fereshte Hosseini
[1] Zur aktuellen Situation s. die Reportage von Franziska Grillmeier in der „Zeit“ vom 30.5.2020. www.zeit.de/politik/ausland/2020-05/fluechtlingslager-moria-lesbos-corona-krise-virus-isolation-asyl