Norbert Krüger empfiehlt am jüdischen Purimfest die Essenz von Norbert Recks Auseinandersetzung mit dem Juden Jesus.
Norbert Recks „Büchlein“ mit 77 Seiten ist ein echtes Juwel. Es erzählt von einem Christentum, das den Juden Jesus in den Mittelpunkt rückt. Damit ist nicht nur gemeint, dass Jesus Jude war, sondern, dass Jesus die Thora als Mittelpunkt seiner Botschaft begriffen und gelebt hat. So beschreibt Norbert Reck einen Jesus, der der Thora nichts hinzufügen wollte, was über den jüdischen Diskurs hinausginge, der zu seiner Zeit bis heute unter Juden gepflegt wird. Einen Jesus, der mit seinen jüdischen Glaubensbrüdern und -schwestern diskutiert, zuweilen sicher auch gestritten hat, jedoch die Thora niemals in irgendeiner Form „überwinden“ wollte.
Ein Jesus, der die Thora niemals in irgendeiner Form „überwinden“ wollte
Dies widerspricht dem kirchlichen Bild eines gottgleichen Christus’, der nur allzu oft gegen das Judentum ausgespielt wird, indem man ihn zu einem Gegner des Judentums stilisiert. Dies ist etwas, was in kirchlichen Predigten, in denen Jesus als von einem „degenerierten Judentum seiner Zeit“ unverstanden dargestellt wird, durchaus auch heute noch zu hören ist. Und sei es auch „nur“ im Sinne eines Storytellings, in dem Jesu Einzigartigkeit gegenüber der dunkel gemalten Negativfolie des damaligen Judentums zum Leuchten gebracht werden soll.
Mit seinem neuen Buch eröffnet Norbert Reck aber nicht nur Perspektiven für ein vom Antisemitismus befreites Christentum, er gibt auch wichtige Anstöße zur Korrektur gängiger kirchlicher Dogmen, die heute für viele Menschen an Glaubwürdigkeit verloren haben, die nicht mehr vermittelbar sind und auch unserem geschichtlichen Wissen über den historischen Jesus widersprechen. Ein Christentum, das den Juden Jesus in den Fokus rückt, braucht weder eine Opfertod- noch eine sexualfeindliche und lebensverachtende Erbsündenideologie. Das Reich Gottes kann sich bereits in dieser Welt finden und es ist die Verantwortung des Menschen, dafür zu sorgen, dass dies auch geschieht. Beim Lesen des Buches atmet man frische Luft, die gut tut.
Beim Lesen des Buches atmet man frische Luft, die gut tut
Ganz am Anfang stellt Norbert Reck drei wichtige Fragen: “Wenn er [Jesus] Jude war, stimmt dann alles noch, was über ihn gelehrt wurde? Oder muss die Geschichte jetzt anders erzählt werden? Ist der christliche Glaube dann überhaupt noch möglich?”
Damit ist der Kern eines Problems getroffen, das gerade Menschen mit einem theologischen Hintergrund beschäftigt: Wie kann man unser heutiges Wissen über die geschichtlichen Veränderungen der Botschaft Jesu vom Zeitpunkt seines Lebens als Prediger um das Jahr 30 n.Chr. herum bis zur Ausformulierung der gängigen Glaubensbekenntnisse und der Etablierung einer Staatskirche im Jahre 380 n.Chr. miteinander versöhnen?
Wenn Jesus Jude war, stimmt dann alles, was über ihn gelehrt wurde?
Norbert Reck geht dabei einen “versöhnlichen Weg”. Er skizziert in einer – im besten Sinne des Wortes – einfachen und gut lesbaren Weise die Botschaft des Juden Jesus, indem er selektiv aus dem Zweiten Testament zitiert, eben genau die Stellen, in der der jüdische Jesus zu uns spricht. Dabei baut er auf Arbeiten der letzten Jahrzehnte von christlichen Theologen wie Klaus Wengst auf, die Jesus in seinem jüdischen Kontext begreifen wollen und die Metamorphosen in der Entwicklung des christlichen Glaubens herausgearbeitet haben. Aber auch Arbeiten der jüdischen Leben-Jesu-Forschung, wie die von Martin Buber und Schalom Ben Chorin, in denen Jesus als Repräsentant des Judentums verstanden und in dieses ein Stück weit „heimgeholt“ werden soll, sind Pfeiler von Norbert Recks Jesusbild. Nur kurz geht der Autor dabei auf seine Selektionskriterien und die generellen Schwierigkeiten einer Rekonstruktion eines „historischen Jesus“ ein. Thema des Buches ist auch nicht, welche Konsequenzen für kirchlichen Rituale – wie dem Glaubensbekenntnis oder die Abendmahlliturgie – aus einem Ernstnehmen des Judentums Jesu folgen könnten, ja vielleicht müssten. Dies hätte auch den Rahmen des Buches gesprengt.
Ein Jesusbild, das jedem Antisemitismus von Anfang an einen Riegel vorschiebt
Norbert Reck fordert Christen*innen nicht auf, ihr Christsein aufzugeben, mahnt jedoch notwendige Korrekturen an, ohne dabei Gläubige vor den Kopf zu stoßen. Norbert Recks Jesusbild spricht den Menschen direkt an. Sein Jesus ist kein sich selbst erhöhender oder von Menschen Erhöhung oder gar Anbetung verlangender Erwählter, sein Jesus ist vielmehr in den Menschen zu finden, die mit uns leben, in dem Anderen, insbesondere dem Erniedrigten, dem Armen und dem Hilfsbedürftigen. Es geht nicht um Anbetung und Rituale, sondern um Handeln. Genau dies bedeutet Auferstehung in dem Jesusbild, das Norbert Reck in seinem unbedingt lesenswerten Büchlein vor uns ausbreitet. Ein Jesusbild, das erstaunlich einfach, eindringlich, aber auch fordernd ist und jedem Antisemitismus von Anfang an einen Riegel vorschiebt.
Ein guter Anfang für ein Neudenken der Botschaft Jesu in unserer Zeit
Norbert Recks Buch kann einen wichtigen Impuls setzen, um eine in vieler Hinsicht glaubwürdigere und humanere Erzählung des Christentums zu schaffen. In Zeiten von massenhaften Kirchenaustritten ist dies etwas, was dringend notwendig ist für unsere Welt, die ohne die Botschaft Jesu noch um vieles kälter und zerfranster wäre. Es ist zu wünschen, dass der Impuls, der von Norbert Reck gesetzt wurde, bei möglichst vielen gläubigen Christen*innen, Kulturchristen, aber auch Nicht-Christen Gehör findet. Das Buch ist auf jeden Fall ein guter Anfang für ein Neudenken der Botschaft Jesu in unserer Zeit.
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Literatur: Norbert Reck, Dem Juden Jesus auf der Spur – Was er wollte, was er glaubte, Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk 2024.
Bild: Verlag Katholisches Bibelwerk
Norbert Krüger arbeitet als Professor in den Bereichen Künstliche Intelligenz, Robottertechnologie und Wissenschaftstheorie an der Süddänsichen Universität in Odense. Unter dem Psyeudonym Jakob Matthiessen schreibt er historische Roman zu gesellschaftlich-religiösen Themen. Die jüdischen Wurzeln des Christentums sind sein besonderes Anliegen.