Daniel Kosch setzt sich mit zwei spannenden soziologischen Debattenbeiträgen auseinander, aus denen sich Lerneffekte für das kirchliche Selbstverständnis ergeben.
Fast zeitgleich haben zwei bekannte und anerkannte Soziologen spannende Beiträge zur Debatte um die Bedeutung von Religion und Kirche(n) in demokratischen Gesellschaften veröffentlicht.
Der jüngere, Hartmut Rosa (*1965), vertritt die mutige These, «die Antwort auf die Frage, ob die heutige Gesellschaft noch der Kirche oder der Religion bedarf» könne «nur Ja!» lauten[1]. Seine Sicht beruht zum einen auf einer kritischen Analyse der heutigen Gesellschaft. Sie lebe mit dem Widerspruch, dass sie «gezwungen ist, sich permanent zu steigern, zu beschleunigen, sich voranzutreiben», aber den Sinn dieser zwanghaft gewordenen Beschleunigung nicht mehr einsieht, was sie und viele ihrer Mitglieder in ein «Burnout» treibe und zu einem Lebensgefühl führe, das von «rasendem Stillstand» geprägt sei. Zudem stifte diese Logik des «immer mehr, immer schneller» ein «Aggressionsverhältnis zur Welt», mit der Folge, dass politisch Andersdenkende zu «Feind*innen» werden, die «man zum Schweigen bringen muss». Demokratie aber funktioniere «im Aggressionsmodus nicht».
Demokratie erfordert Stimmen, Ohren und hörende Herzen
Es gelte deshalb, ein «anderes Weltverhältnis» zu entwickeln, das auf «Resonanz»[2] und darauf beruht, dass Menschen mit dem «weiter so!» aufhören und wieder bereit sind, einander wirklich und in der Tiefe zuzuhören. Demokratie brauche «hörende Herzen» und die Bereitschaft, dass ich «mich anrufen und erreichen lasse von etwas anderem, von einer anderen Stimme, die etwas anderes sagt». Dass es dazu kommt, lasse sich allerdings nicht erzwingen, sondern sei «unverfügbar»[3].
Religion hat ein Ideenreservoir.
Die Religion, «insbesondere die katholische» sei jedoch in der Lage, dafür die entsprechenden Räume bereitzustellen. Denn sie gibt ein «Resonanzversprechen»: «Am Grund meiner Existenz liegt nicht das schweigende, kalte, feindliche oder gleichgültige Universum, sondern eine Antwortbeziehung». «Religion hat die Kraft, sie hat ein Ideenreservoir und ein rituelles Arsenal voller entsprechender Lieder, … Gesten, … Räume, … Traditionen und … Praktiken, die einen Sinn dafür öffnen, was es heisst, sich anrufen zu lassen, sich transformieren zu lassen, in Resonanz zu stehen».
Auch die Kirche ist gefährdet, ihr Resonanzversprechen einzubüssen
Diese von Hartmut Rosa in seinem kleinen, gut lesbaren Buch pointiert vorgetragene These ist anregend. In den Kirchen, in der Theologie und in der Pastoral dürfte sie nicht zuletzt deshalb auf die dem Autor so wichtige «Resonanz» stossen, weil sie aufzeigen will, dass Kirchen und Religion von unserer Gesellschaft nicht nur aufgrund des sozialen und karitativen Engagements ihrer Anhänger*innen, sondern aufgrund ihrer Grundbotschaft und Grundhaltung dem Leben gegenüber wichtig ist und «gebraucht» wird.
Wenn es der Kirche nicht gelingt,
ihr Resonanzversprechen einzulösen.
Überraschend und für einen Soziologen erstaunlich ist allerdings, dass Hartmut Rosa dabei nicht näher darauf eingeht, dass es den Kirchen derzeit immer weniger gelingt, das «Resonanzversprechen» ihrer Botschaft einzulösen. Sie stossen damit zunehmend auf «taube Ohren» und Gleichgültigkeit, statt auf «hörende Herzen». Schon aus diesem Grunde tun kirchlich engagierte Leser*innen gut daran, die Tragfähigkeit der Resonanz-These und insbesondere ihre Übertragbarkeit auf die real-existierende(n) Kirche(n) auch kritisch zu reflektieren[4].
Dabei scheint mir die Auseinandersetzung mit den Beiträgen von Franz-Xaver Kaufmann (*1932) aufgrund ihrer grösseren Tiefenschärfe sehr hilfreich zu sein. Der aus Zürich stammende, seit Jahrzehnten in Deutschland lebende Altmeister der Kirchen- und Religionssoziologie konstatierte schon vor vielen Jahren nüchtern, dass die Kirchen «den Kontakt zur ‘Seele’ der meisten Menschen verloren zu haben scheinen, sie also innerlich nicht mehr ansprechen können»[5].
«Zukunftsfähigkeit des Christentums» mit Fragezeichen
Sein neues Buch[6] unter dem Titel «Katholische Kirchenkritik» unterscheidet sich von vielen anderen Publikationen zur Kirchenkrise insbesondere durch ihre historische Tiefenschärfe und ihren Fokus auf institutionelle Fragen. Kaufmann zeigt auf, dass «Selbstfesselung» und «doktrinäre Zentralisierung» über teils Jahrhunderte dauernde Entwicklungen dazu geführt haben, dass die katholische Kirche ihre «Veränderungsfähigkeit» einbüsste. Darauf nimmt auch der Untertitel des Buches Bezug, der mit einem Zitat von Karl Marx dafür plädiert, man müsse «diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt!». Das korrespondiert gut mit Kaufmanns Überzeugung, «es sei mit Hilfe soziologischer Einsichten möglich, kirchliches Denken vom Ballast überholter Welt- und Sozialvorstellungen zu befreien».
Dabei aber überschätzt er seine Möglichkeiten, die Kirche «zum Tanzen» bringen, genau so wenig, wie er die Tiefe der Kirchenkrise unterschätzt, die er gleichzeitig als «Missbrauchskrise», «pastorale Krise», «Strukturkrise» und «Glaubenskrise» diagnostiziert.
Eine Kirche, die sich (nur) auf einen
„Sockel der Kirchenverbundenheit“ stützen kann.
Für die bange Frage nach der «Zukunftsfähigkeit» der Kirche(n), die viele umtreibt, ist dabei insbesondere die Erkenntnis wichtig, dass «die gesellschaftlichen Veränderungen im Vergleich zu innerkirchlichen Entscheidungen und Weichenstellungen relevanter sind für das allgemeine Bewusstsein». Es ist daher – sofern sich die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht fundamental ändern – davon auszugehen, dass «das aktive Moment der Kirchenverbundenheit […] noch stärker als bisher zu einem Minderheitenphänomen [wird], und wahrscheinlich wird sich das auch in der öffentlichen Einschätzung der Kirchen ausdrücken». Allerdings geht Kaufmann aufgrund des Vergleichs mit der bereits weiter fortgeschrittenen Entwicklung in den reformierten Kirchen davon aus, dass sich die katholische Kirche hierzulande auch in Zukunft auf einen «Sockel der Kirchenverbundenheit» stützen kann, wobei diese Kirchenmitglieder «häufig auf einflussreichen Positionen zu finden sind».
Rückgriff auf die Gottesbotschaft Jesu
Für ihre Zukunftsfähigkeit sei allerdings wichtig, dass die Kirche der «Krise des Gottesglaubens» etwas entgegensetzt und eine «offensivere Haltung gegenüber der Moderne» einnimmt. Dabei plädiert der Soziologe für die Wiederentdeckung des Erfahrungsbezugs des Glaubens in Form der «Mystik» und der «Spiritualität», sowie der «Gottesbotschaft Jesu … in ihrer Bildhaftigkeit, in ihrem therapeutischen Charakter und in ihrer sozialen Dimension der Nächstenliebe und das Gewaltverbots».
Damit ist ein erstaunliches Ausmass an Übereinstimmung zwischen den Schlussfolgerungen von Franz-Xaver Kaufmann und der Grundthese von Hartmut Rosa festzustellen, der die gesellschaftliche und demokratiepolitische Relevanz der Kirchen mit dem «Resonanzversprechen» und der Sensibilität ihrer Grundbotschaft für das «Unverfügbare» in Zusammenhang bringt, weil sie damit eine Alternative zum von Beschleunigung und Aggressivität geprägten Weltverhältnis unserer Gesellschaft zu bieten haben.
Kirche kann sich nicht auf ihr hörendes Herz verlassen.
Gleichzeitig bleibt ein bedeutender Unterschied zwischen den beiden Positionen festzuhalten: Geprägt von historischem Bewusstsein, aber auch von eigener lebenslanger Kirchenerfahrung[7] ist sich der ältere der beiden Soziologen bewusst, dass die Kirche sich keineswegs selbstverständlich auf ihr offenes Ohr und ein hörendes Herz verlassen und die entsprechenden Haltungen in der Gesellschaft zum Klingen bringen kann. Gerade angesichts der akuten Krisenphänomene ist insbesondere die katholische Kirche aufs Äusserste gefordert, ihre «Selbstfesselung» an eine versteinerte Tradition und ein klerikal-zentralistisches Kirchenbild zu überwinden. Denn anders wird es ihr nicht gelingen, ihr «Resonanzversprechen» einzulösen und «Ressource» für die ebenfalls gefährdete Demokratie zu sein. Dies ist einer der Hauptgründe dafür, dass Kaufmann die Überschrift des letzten Kapitels zur «Zukunftsfähigkeit» der Kirchen in Deutschland mit einem Fragezeichen versieht.
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Titelbild: Diego Nunes / unsplash.com
Bilder: Buchcover
[1] Hartmut Rosa, Demokratie braucht Religion. Über ein eigentümliches Resonanzverhältnis, Kösel: München 2022. Alle folgenden Zitate sind dieser Publikation entnommen.
[2] Vgl. dazu die umfassende Publikation des Autors: Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung (stw 2272), Suhrkamp: Berlin 2019.
[3] Vgl. dazu Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit (st 5100), Suhrkamp: Berlin 2020.
[4] Zur theologischen Auseinandersetzung mit den Thesen von Hartmut Rosa s. insbesondere Tobias Kläden/Michael Schüssler (Hg.), Zu schnell für Gott? Theologische Kontroversen zu Beschleunigung und Resonanz (QD 286), Herder: Freiburg 2017.
[5] Franz-Xaver Kaufmann, Kirchenkrise, Freiburg 2011, S. 172.
[6] Franz-Xaver Kaufmann, Katholische Kirchenkritik. «…man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt», Edition Exodus: Luzern 2022. Alle folgenden Zitate sind dieser Publikation entnommen.
[7] Vgl. dazu Franz-Xaver Kaufmann, Zwischen Wissenschaft und Glauben. Persönliche Texte, Herder: Freiburg 2014.