Die Zukunft der Demokratie hängt nicht zuletzt davon ab, dass sie demokratische Bildung und eine Diskurs-Kultur fördert. Anknüpfend an Meister Eckhart plädiert Dietmar Mieth für eine «Demokratie von Innen» als tragendes Bewusstsein.
Das Böckenförde-Dilemma
Das geflügelte Böckenförde-Diktum oder „Böckenförde-Dilemma“ lautet: „Der freiheitliche, säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ [1] Dieses Dilemma lebt von der historischen These, dass Griechentum, Christentum, Konfessionsstreit und Aufklärung gleichsam unwillentlich die moderne Demokratie als Effekt des Ausgleiches zwischen vorhergehenden und kommenden Perioden hervorgebracht haben.
Auch wenn man dies als historische These für plausibel hält, kann man nicht umhin, sich als überzeugter Demokrat für eine freie und verbindliche Selbsterhaltung der Demokratie einzusetzen. Das bedeutet m.E. eine Fortsetzung, ohne die direkte Wiederbelebung oder eine Kopie dieser Traditionen zu suchen. Das Verhältnis zu diesen Traditionen ist „historisch“, d.h. es handelt sich um eine Erinnerung, die als Wiederbelebung nicht das Gleiche hervorbringen kann.
Aus Voraussetzungen zu leben ist keine identitäre Rückkehr zu diesen Voraussetzungen sondern ihre Modifikation durch eine Bildung, die Erinnerungen in die modifizierte Aktualität versetzt.
Das ist ähnlich wie die Erneuerung von „Notre Dame“ in Paris 2024, d.h. wie sie bewerkstelligt und inszeniert werden konnte. Dies war nur möglich mit modernen Rekonstruktions-Methoden, d.h. mit Hilfe der heute zeitgleich möglichen Veränderungen. Aus Voraussetzungen zu leben ist keine identitäre Rückkehr zu diesen Voraussetzungen sondern ihre Modifikation durch eine Bildung, die Erinnerungen in die modifizierte Aktualität versetzt. Dies, so scheint mir, ist heute die Aufgabe einer selbsterhaltenden Transformation der Demokratie durch eine historische Bildung, die sich angesichts von bedrohlichen Veränderungen bewährt, indem sie neue Herausforderungen einbezieht. [2]
Es gibt freilich immer noch eine offene Tradition der Primärtugenden, die auch im demokratischen Wandel eine übergreifende moralische Orientierung mit Varianten ermöglichen. Diese lassen sich mit dem Grundmuster verbinden, das von Aristoteles seinen Ausgang nimmt: Klugheit, Maß, Gerechtigkeit, Tapferkeit (heute auch: Resilienz, Widerstandfähigkeit) jedoch auch Einsatz für den Frieden.[3] Vielleicht können diese Tugenden bei allem Wandel zu einer Kontinuität verhelfen?
Immer mehr hängt die Demokratie von einer Diskurs-Bereitschaft und Diskurs-Fähigkeit ab.
Weitere Haltungen sind in einer Demokratie erforderlich: mit einer aufgeklärten Bildung wächst die Befähigung, Fakes/Lügen zu erkennen. Immer mehr hängt die Demokratie von einer Diskurs-Bereitschaft und Diskurs-Fähigkeit ab, um Differenzen im Austausch unterschiedlicher Ansichten zu regeln. Sie verbindet sich mit einer praktischen Kompromissbereitschaft ohne eine langfristige Perspektive aufzugeben, die eigene Präferenz zu verfolgen und zu verwirklichen.
Eine Gefahr stellen „Identitäre“ Bewegungen dar. Identität wird darin nicht mehr als individuelle Bestimmung der Person sondern als Zugehörigkeit zu einer Gruppe verstanden. Man ist „identisch“ mit Anderen, und bestimmt sich selbst genau und zentral dadurch. Demokratie verlangt freilich die Anerkennung des anderen bei individueller und politischer Differenz.
Dialektische Bedeutung der Religion in der Aufklärung
Mit dem Religionsverlust verringert sich ein dialektisches Bildungs-Element. Gerade, indem sich die Religion als Besonderheit im Allgemeinen interpretierte, wurden die Grundsätze der Demokratie auch im Religions-Unterricht vorausgesetzt und gelehrt. Das Staats-Kirchenverhältnis war nach der Konfessions-Toleranz nicht mehr „identitär“, aber gerade dadurch schulte es die Differenz. Auf diese dialektische Bedeutung der Religion in der Aufklärung verweist u.a. der eingangs zitierte Böckenförde. Nun gehe ich aber davon aus, dass demokratische Bildung dazu helfen kann, Böckenfördes Dilemma zu verringern.
Tugend-Bildung in Europa– demokratischer Internationalismus gegen Autoritarismus
Europa trägt viel im Erbe. Ein römisches Erbe? Ein griechisches Erbe? Oder ein Erbe des variantenreichen Mittelmeerraumes (z.B. unter Federführung islamischer Philosophen in Spanien: Juden, Griechen, Römer. Araber, Türken, Berber…
Europa trägt Religion im Erbe, insofern die Religionen auch Kulturvariablen und Kulturträger waren (siehe oben: die Rettung von Notre Dame in Paris).
Die Menschenrechte entstehen auf der Basis der Menschenwürde. Das wird heute analytisch oft bestritten: die „Würde“ tritt hinter die beanspruchten „Rechte“ zurück. Das bedeutet die Verwandlung der Menschenwürde in eine sekundäre Ausschmückung der Rechte.
Diskurs wörtlich: sich zusammensetzen, um sich auseinanderzusetzen
Was resultiert aus dieser Analyse? Meines Erachtens ist eine Diskurs-Kultur als Übersetzungskultur erforderlich. Was heißt „Diskurs“? Wörtlich: Sich zusammensetzen, um sich auseinanderzusetzen. Es bedeutet, die Gründe für die Ansicht des anderen in die eigene Ansicht dialogisch mit aufnehmen: Gegengründe anführen auf der Basis der Anerkennung von Diskursrechten des anderen. Diskurs ist keine reine Streitkultur, er ist nicht auf aufgestellte Transparente zu reduzieren: er ist aufmerksam, geduldig auf dem Weg des mit Gründen ausgestatteten eigenen Beitrages. Wo lernt man dies in den weiterführenden Schulen heute? Diskurs ist ein Formprinzip, das auf der Anerkennung von Basis-Werten beruht. Basiswerte nennen wir politisch auch die „Grundwerte“ einer Verfassung.
Die Verbindung von Rechtspflichten mit Tugendpflichten ist demokratisch konstitutiv.
Eine konstitutionelle Demokratie muss diese Prinzipien durch Bildung kultivieren. Die moralische Bildung wird durch Immanuel Kant ein neues Tugend-Projekt, das über die Anerkennung von Rechten hinausführt: es deutet die soziale Anerkennung von Pflichten, die nicht rechtlich erzwungen sondern als soziale Umsetzung von Fähigkeiten ermöglicht werden. Wir betrachten diese Tätigkeiten heute als „Ehrenamt“. Die Verbindung von Rechtspflichten mit Tugendpflichten ist demokratisch konstitutiv: das eine ist zu fordern, das andere zu fördern.[4]
Bürger:innenkonferenzen?
Es geht auch um die Ablösung einer oberflächlichen Medienkultur. Das Abfragen bzw. das Aufeinanderprallen von politischen Meinungen hat oft nur Unterhaltungswert.
Bürger:innenkonferenzen, die nach britischem Vorbild vor 20 Jahren diskutiert und als Muster durchgeführt wurden – ich erinnere mich an eine Bürger:innenkonferenz in Dresden 2003 zur Gendiagnostik am Menschen, im Rahmen von Ausstellungen über „Genwelten“ (Bonn, Mannheim, Genf, Dresden u.a.) an der ich beteiligt war. Nach einem offenen Schlüssel wurden 25 Menschen anonym ausgewählt, eingeladen und vor Ort mit den Informationen der kundigen Fachleute bzw. mit Auskünften auf ihre Fragen ausgestattet. Sie hatten dann unter sich selbst die Möglichkeit, sich aufgrund der erfragten Informationen zur Beantwortung vorgeschlagener und selbstbestimmter Themen in Gruppen zu treffen, ihre Ansicht zu bilden und sie dann im Plenum durch Sprecherinnen vortragen zu lassen. Es war erstaunlich, welches Diskursniveau dabei erreicht wurde. Dies ist nur ein Beispiel und eine Ermunterung medialer Versuche, mit einem solchen Konzept zu arbeiten.
Demokratie von Innen?[5]
Meister Eckhart (1260-1328) hat in seiner praktischen Glaubensinterpretation die Gerechtigkeit an die Spitze der Tugenden gestellt: Gottes Gerechtigkeit besteht in der Menschwerdung Gottes zugunsten der Menscherdung des Menschen. Gerechtigkeit ist demnach eine Form der Anerkennung der Wirklichkeit Gottes.
Offenbarung: die Offenheit Gottes für den Menschen
Die Wirkung der die Natur des Menschen als in Christus realisierte Option Gottes durchdringenden Menschwerdung ist ein offenes allgemeines Angebot, jeden Menschen als Menschen zu respektieren. Das war für Eckhart nicht abhängig von der kirchlichen Zuweisung eines Status. Offenbarung war für ihn die Offenheit Gottes für den Menschen. Dazu braucht man nur das Schöpfungsbild Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle zu betrachten um diese Dialogik zu erkennen: zwei Hände, die sich begegnen.[6]
Der die demokratischen Werte tragende Gedanke der Menschenwürde und der Menschenrechte bedarf einer „Demokratie von innen“ als tragendem Bewusstsein.
Der religiöse Beweggrund einer „Demokratie von innen“, in welcher der Gleichheitsanspruch der Menschen gesichert ist, ist kein strukturell wirksamer Beweisgrund. Aber ob die Beweisgründe der strukturellen Richtigkeit politischer Organisation wirklich hätten angedacht werden können, wenn ihnen dieses Motiv der Wechselseitigkeit gefehlt hätte, das darf man sich als Theologe fragen. Der Beweggrund der Ursprungsgleichheit aller Menschen in Gott scheint mir tiefer als etwa der Beweggrund der Friedenswahrung zwischen Wölfen, wie ihn der Vertragstheoretiker Thomas Hobbes wählte. Dieses Motiv ist streng äußerlich und mit einer strengen und zentralen Ordnungspolitik gut verträglich. Der die demokratischen Werte tragende Gedanke der Menschenwürde und der Menschenrechte bedarf einer „Demokratie von innen“ als tragendem Bewusstsein. Freilich bedeutet dies auch eine Herausforderung der gegenwärtigen Gestaltung von Religion. Ein religiös geprägter humanitärer Universalismus wartet noch auf seine Einlösung in der Geschichte: in der Weltpolitik, aber auch in der Kirchenpolitik.
[1]Ernst Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in ders.: Studien zur Rechtsphilosophie , Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt 1991, 92-114, hier: 112. (Zuerst 1964)
[2]Die folgenden Ausführungen sind etwas thesenhaft, getragen von der Absicht, Vielfalt zu Wort kommen zu lassen.
[3]Vgl. Dietmar Mieth, Die neue Tugenden, Ein ethischer Entwurf, Düsseldorf 1984. Über die Tugend – Thomas von Aquin, Meister Eckhart, hg .v. Kathi Beier und Martina Roesner, Baden-Baden 2023.
[4]Vgl. Bettina Hollstein, Ehrenamt verstehen: Eine handlungstheoretische Analyse. Frankfurt, New York 2015.
[5]Vgl. ausführlich unter diesem Titel: Dietmar Mieth, Jede Wende – ein Anfang. Eine theologisch-ethische Analyse gegenwärtiger Transformationen, Luzern 2024, Kapitel 7, 79-108.
[6]Vgl. Dietmar Mieth, Meister Eckhart als Interpret des Glaubensbekenntnisses, in: Silvia Bancel, Jean Ehret (Hg.), „Transformés dans son image“. – Théologie et mystique. Festschrift für Marie-Anne Vannier, Turnhout 2024, 467-485.
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Dietmar Mieth (*1940), studierte Theologie, Philosophie und Literatur.
Habilitation in Tübingen und – als erster Laie – Professor für Moraltheologie (1974, Fribourg) und 1981 bis 2008 für Theologische Ethik in Tübingen. 2009-2022 Fellow am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt und bis dahin Leiter der Forschungsstelle Meister Eckhart. Autor von über 30 Büchern über Experientielle Ethik, Christliche Ethik, Narrative Ethik, Sozialethik, Bioethik, Meister Eckhart.
Zuletzt erschienen: Jede Wende – ein Anfang. Eine theologisch-ethische Analyse gegenwärtiger Transformationen, Edition Exodus: Luzern 2024, sowie: Ketzerflammen in Paris. Marguerite Porete, Meister Eckhart und die Intrigen der Inquisition. Der blaue Reiter, Hannover 2024 (Roman).
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