Zur Dekonstruktion von gängigen Ratzinger-Bildern. Von Erich Garhammer
Was gibt es nicht alles für Selbst- und Fremdbilder über den Theologen Joseph Ratzinger: Wunderkind, Mozart der Theologie, einfacher und bescheidener Arbeiter im Weinberg des Herrn. Es gab auch Hürden auf seinem Weg: Sein Habilitationsverfahren wäre wegen des Einspruchs des Dogmatikers Michael Schmaus fast gescheitert. Wer Einblick in die akademische Welt hat, kann diesen Vorgang einigermaßen einordnen. Der Dogmatiker Schmaus war enttäuscht, weil sich der junge Theologe Ratzinger beim fundamentaltheologischen Kollegen Gottlieb Söhngen habilitieren wollte. Schmaus und Söhngen waren spinnefeind. Beim Erscheinen eines neuen Dogmatikbandes von Schmaus wies Söhngen zu Beginn seiner Vorlesung süffisant darauf hin: „Meine Herren, es sind wieder zwei Pfund Schmaus erschienen.“ So wollte Schmaus den Schüler von Söhngen treffen nach dem Motto: man schlägt den Sack und meint den Esel.
Allerdings verbaute Schmaus Ratzinger keineswegs die akademische Karriere, wie die nun in Publik-Forum (Heft1/2024) veröffentlichten Gutachten zeigen, sondern baute ihm eine goldene Brücke. Ratzinger konnte den im ersten Habilitationsgutachten von Schmaus beanstandeten Teil herausnehmen und so die Arbeit erneut einreichen. Jenseits der persönlichen Animositäten und des fachlichen Dissenses verblüffen allerdings einige Bemerkungen im Gutachten von Schmaus. Er attestierte dem Habilitanden eine „suggestive Sprachkraft und glänzende Formulierungsfähigkeit“.
Jedoch habe bei ihm nicht der auszulegende Text ein Vetorecht gegenüber dem Interpreten, sondern das Vorurteil des Interpreten habe Vorfahrt gegenüber dem Text. So nennt er ihn scharfzüngig und bissig „ecce, praeceptor theologiae“. Bei diesem Urteil bleibt er auch in seinem zweiten Gutachten, das die Arbeit durchwinkt, aber einen Vorbehalt formuliert: Er fürchte, dass der Verfasser durch seine Begabung für sprachliche Gestaltung die Leere oder das Dunkel des Gedankens zu kaschieren vermöge. Wer also war Ratzinger? Bescheiden und demütig, eingebildet und fast Opfer einer akademischen Intrige, Wunderkind und genialer Theologe? Im Folgenden sollen einige Selbst- und Fremdbilder zurechtgerückt werden.
Der selbstbewusste, keineswegs demütige Ratzinger
Relativ rasch bekam Ratzinger nach der Habilitation den Ruf an die Universität Bonn. Doch Kardinal Wendel hatte etwas anderes mit seinem jungen Startheologen vor: Er sollte an die Pädagogische Hochschule nach Pasing gehen und weiterhin die Professur in Freising vertreten. Ratzinger lehnte rundweg ab und nannte in einem ausführlichen Schreiben am 14. Oktober 1958 seinem Kardinal, der gerade beim Konklave in Rom weilte, seine Gründe. Seine Berufung sei ein Dienst an der wissenschaftlich-theologischen Forschung und der wissenschaftlichen Ausbildung des Klerus. Seine Zielgruppe seien die Priester. Für Pasing müsste er ein eigenes Lehrprogramm ausarbeiten. Diese Aufgabe würde ihn von seiner wissenschaftlichen Arbeit abhalten. Deshalb werde er am Ruf nach Bonn festhalten. Er hoffe in dieser wirren Zeit gerade in diesem Fach einen wichtigen Dienst für die Kirche zu leisten. Und dann fährt er gegen seinen Kardinal ein Argument auf, dem dieser schwer widersprechen könne: dieser Dienst sei gottgewollt. Der junge Theologe berief sich gegen den Wunsch des Kardinals auf Gottes unmittelbaren Willen und legitimierte damit seine Entscheidung:[1]
Als Peter Seewald den späteren Papst auf diesen Vorgang ansprach, gestand dieser zu, dass es diesbezüglich einen „komplizierten Briefwechsel“ gegeben habe. Auf die weitere Frage, ob er sich damit gegen die Weisung seines Bischofs gestellt habe, gab er lapidar zur Antwort: „Das nicht. Ich habe einfach nicht gleich seinen ersten Wunsch angenommen“. Der demütige Ratzinger entpuppt sich von Anfang an als selbstbewusst und zielstrebig, ja geradezu eigen-mächtig.
Der harte, keineswegs sanftmütige Ratzinger
Wie drastisch Ratzinger in seinen späteren Ämtern mit selbstbewussten Klerikern umgehen konnte, zeigte er als Erzbischof von München und Freising. Der Jesuit Hans Bischlager zelebrierte am 21. Juni 1981 auf dem Marienplatz in München eine Messe im Jutegewand. Zusammen mit der christlichen Initiative „Ohne Rüstung leben“ wollte er damit auf das Problem der Wiederbewaffnung aufmerksam machen. Die Initiative versuchte auf die christliche Tradition der Buße hinzuweisen, wofür als äußeres Zeichen ein Bußgewand dienen sollte. Ratzinger hat Bischlager sofort die Suspension angedroht, wenn er sich nicht umgehend von der Aktion distanzieren würde.
Bischlager bat um ein Gespräch, er fühlte sich missverstanden. Das wurde ihm nicht gewährt. So wandte er sich schriftlich an den Kardinal: „Es gehört zu meiner tiefsten Glaubensüberzeugung, dass die Botschaft Jesu Christi in ihrer Mitte eine Botschaft des Friedens und der Gewaltlosigkeit ist. Dies gilt nach meinem Verständnis nicht nur für die ethischen Sätze der Bergpredigt, sondern für den Geist des Neuen Testaments insgesamt. Einleitend zu meinem Gottesdienst am Marienplatz habe ich aus dem Philipperhymnus zitiert: Er, der in Gottesgestalt war, erachtete das Gottgleichsein nicht als Beutestück; sondern er entäußerte sich selbst, nahm Knechtsgestalt an und ward den Menschen gleich. Ich sage das nicht, um Sie zu belehren, sondern nur um auszudrücken, wie ich es verstehe… Mag das Bußgewand vielleicht provozierend sein; eigentlich aber hat es einen echten Platz in der Tradition des Christentums, etwa in der Gestalt eines Franz von Assisi, dessen Verhalten in seiner Zeit weit provokativer war.“
Ratzinger ließ in dieser „wichtigen“ Frage der liturgischen Kleidung nicht mit sich verhandeln. Er forderte den Jesuiten auf, umgehend die beigelegte Erklärung zu unterschreiben, in der er sein Verhalten bedauern und versprechen sollte, in Zukunft „alle kirchlichen Grundsätze und Bestimmungen über die Feier der hl. Messe“ getreu einzuhalten. Bischlager war dazu nicht bereit, ohne vorher gehört worden zu sein. Er führte in seiner Antwort aus, „dass in dem ganzen Konfliktfall grundsätzlichere Fragen anstehen, als dass sie mit verwaltungstechnischen Maßnahmen bzw. mit meiner Unterschrift unter eine von Ihnen formulierte siebenzeilige Erklärung gelöst werden könnten.“ Damit zog er sich die Strafe der Suspension zu. Nicht nur in diesem Fall wäre auch eine andere Lösung denkbar gewesen.
Der entschlossene, keineswegs scheue Ratzinger
Noch immer kursiert die Behauptung, Ratzinger habe deshalb Tübingen verlassen, weil die anfängliche Nähe zu Hans Küng zu einer immer größeren Entfremdung geführt und weil die Studentenrevolte von 1968 ihn erschreckt, abgestoßen und verängstigt habe. Aussagen von Zeugen zeigen jedoch, dass Ratzinger in seinen Vorlesungen souverän mit den Protesten umgehen konnte: er räumte am Anfang der Vorlesung Zeit zur Diskussion ein, setzte sich mit den Anfragen auseinander und beharrte anschließend darauf, in seinem Stoff weiterfahren zu können.[2] Etwas anderes setzte ihm viel mehr zu: der Konflikt mit Hubertus Halbfas und dessen Fundamentalkatechetik. Ratzinger hielt sie für mit der kirchlichen Lehre nicht vereinbar. Dies berichtete er seinem Philosophenfreund Josef Pieper in Münster in einem Brief vom 27.05.1969.
Der Einfluss von Halbfas, der in Reutlingen lehrte, auf die Studierenden in Tübingen sei nicht zu verkennen und führte zu dem geflügelten Wort: Wer in Tübingen studiere, verliere den Glauben. Da viele der Studierenden aber seinetwegen nach Tübingen kämen, könne und dürfe er diese Richtung nicht mehr mittragen. Er wäre dann mitschuldig am Negativen, eine positive Gegenwirkung sehe er nicht mehr. Entscheidend aber sei für ihn das Verhalten des Rottenburger Bischofs Carl Joseph Leiprecht, der Halbfas legitimiert und damit der kirchlichen Theologie den Boden entzogen habe. Das seien seine Gründe nach Regensburg zu gehen, er möchte das aber nicht öffentlich ausbreiten. Ratzinger spürte, dass er für seinen Kampf gegen eine „unkirchliche“ Theologie den jeweils zuständigen kirchlichen Amtsträger brauchte, am besten selbst das kirchliche Amt suchen musste.
Der Theologe mit Reserve gegen die akademische Theologie
Papst Johannes Paul II. war auf der Suche nach einem theologisch versierten Leiter der Glaubenskongregation auf den Theologen Joseph Ratzinger aufmerksam geworden. So wurde dieser zum einflussreichsten Theologen in dessen Pontifikat. Das verschaffte Ratzinger die Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Theologie und Lehramt neu zu ordnen. Die Kölner Erklärung von 1989 gab ihm die Gelegenheit, den Widerstand gegen das Lehramt durch eine Instruktion der Glaubenskongregation zu beenden. Sie trug den Titel „Instruktion über die kirchliche Berufung des Theologen“.
Darin forderte Ratzinger, dass die Theologie dem Lehramt zu folgen habe. Sie müsse die Lehre des Lehramts loyal annehmen. In keinem Fall dürfe die Theologie auf die Massenmedien zurückgreifen, denn durch das Ausüben von Druck durch die öffentliche Meinung könne man nicht zur Klärung von lehrmäßigen Problemen beitragen. Eine loyale Einstellung zur Kirche könne durch ein schweigendes und betendes Leiden unter Beweis gestellt werden in dem Wissen, dass sich am Ende die Wahrheit durchsetzen werde. Auf keinen Fall sei eine Haltung systematischer Opposition erlaubt durch die Bildung von organisierten Gruppen- hier durften sich die Unterzeichner der Kölner Erklärung angesprochen fühlen. Dahinter verberge sich eine Ideologie des philosophischen Idealismus, die der Freiheit des Individuums huldige und die die Autorität und Tradition negativ zeichne. Durch ein solches Verhalten entstehe ein „paralleles Lehramt der Theologie“, das großen geistlichen Schaden anrichte. Diese Denkform übernehme Verhaltensweisen der bürgerlichen Gesellschaft und der liberalen Demokratie.
Die Instruktion löste freilich den Konflikt nicht, sondern befeuerte die Kritik der Theologie noch mehr. Der Würzburger Fundamentaltheologe Elmar Klinger attestierte ihr eine fundamentalistische Grundhaltung.[3] Ein Lehramt, das nicht wisse, dass zur Lehre auch das Argument gehöre, verwische den Unterschied von Lehre und Propaganda. Unter Umgehung der Lehre des 2. Vatikanischen Konzils urgiere es sogar verhängnisvolle Verwechslungen: es verwechsle Subjektivität mit Subjektivismus, das Lehramt der Theologie mit einem parallelen Lehramt und blende die Bedeutung der Theologie für die Pastoral aus. Klinger schließt mit einer bitteren Erkenntnis: die Instruktion spreche nur Theologen an und unterschlage, dass es auch Theologinnen gebe. Wie soll ein Lehramt Beachtung verdienen, das so ersichtlich den Kontakt zur Wirklichkeit verloren habe?
In seiner geforderten Subordination der Theologie unter das Lehramt brachte Ratzinger die Theologie in eine ständige Bringschuld gegenüber dem Lehramt. Das schwächte die Theologie nicht nur in ihrem Eigenstand, sondern auch in ihrem Stand an der Universität. Wie Ratzinger die akademische Theologie einschätzte, gab er ungeschminkt seinem Interviewpartner Peter Seewald zu erkennen. Er begründete seine Freundschaft mit Hans Urs von Balthasar damit, dass hier die Präsenz der Theologie der Väter und eine spirituelle Vision der Theologie vorlägen, die wirklich aus dem Glauben der Betrachtung entwickelt sind, dadurch in die Tiefe gingen und damit zugleich und wieder erfrischend neu seien. Und er fügte vielsagend hinzu: „Nicht so akademisches Zeug, mit dem man letztlich nichts anfangen kann, sondern die Synthese an Gelehrsamkeit, wirklicher Professionalität und spiritueller Tiefe. Das hat mich für ihn eingenommen. Von da an waren wir einander verbunden.“
Das akademische Zeug der Theologie: Eine solche Aussage hätte man aus dem Mund eines Papstes, der fast 20 Jahre Professor an deutschen Universitäten war, in dieser Deutlichkeit und Schärfe nicht erwartet.
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Erich Garhammer, Prof. Dr., war Lehrstuhlinhaber für Pastoraltheologie an der Universität Würzburg von 2000 bis 2017, Schriftleiter der Zeitschrift „Lebendige Seelsorge“ (2004-2021) und Mitherausgeber der Reihe „Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge“.
Aktuelle Veröffentlichung: Erich Garhammer, Genie und Gendarm. Wenn eine Theologie amtlich wird Joseph Ratzinger/Benedikt XVI, Würzburg 2023.
[1] Vgl. dazu Erich Garhammer, Genie und Gendarm, Würzburg 2023, 17-19.
[2] Vgl. dazu jetzt: Frank Sobiech, Joseph Ratzinger (1927–2022) in Tübingen. Eine Lebenspassage zwischen Universitätsreform und Studentenrevolte, in: ThQ 202(2023), 188-212.
[3] Siehe: E. Klinger, Schwere Mängel, in: P. Hünermann/D. Mieth (Hrsg.), Streitgespräch um Theologie und Lehramt. Die Instruktion über die kirchliche Berufung des Theologen in der Diskussion, Frankfurt/Main 1991, 85-89.