Sie sind vielen von uns in Fleisch und Blut übergegangen, die erlernten Rollenbilder. Doch: Wie aussteigen? Da hilft nur ein Mord, so Anna Noweck.
Advent 2022. Engel allenthalben. Statt aber mit vierzehn Engeln um mich sanft zu schlummern, liege ich wach im Bett. Das Gedankenkarussell dreht sich: Wie morgen möglichst smooth alle Termine umlegen, damit ich trotz sich im Nebenzimmer fiebrig wälzendem „Kind krank“ alle Gesprächspartner*innen zufriedenstelle, Lehre vorbereite, diesen Text schreibe, das Kind gut durch den Tag bringe und dabei dem Partner im neuen Job den Rücken freihalte. Apropos, daneben noch für ihn das Geschenk für seine Mutter organisiere, Fotokalender, welches Foto für den Mai bloß, – damit seine Beziehung zur Mutter und die meiner Kinder zur Großmutter wach, am Leben gehalten werden. Dann noch schnell die besinnliche Weihnachtsgeschichte raussuchen, die sich die Hochschulkommunikation von mir wünscht, „…denn als Theologin haben Sie doch sicher mit vielen schönen besinnlichen Geschichten zu tun …“, welche besinnliche Geschichte bloß? – „… und können Sie diese dann gerne auch selbst einsprechen, sehr authentisch“, sicher, doch wann. Die witzigen Weihnachtsgrüße für die Alumnigruppe, hab ich eigentlich schon die Sportschuhe eine Nummer größer bestellt, und hab ich grade am Knacken des Türschlosses gehört, ob der Große rechtzeitig nach Haus gekommen ist, und. Man nennt das Mental Load. Manche denken auch Overload der Sorge um andere und für andere, durch die die Care um einen selbst und die Care für meine wissenschaftlichen Care Ethik-Projekte immer weiter nach hinten, und dann hinten runterrutschen.
Man nennt das Mental Load. Overload.
Virginia Woolf kannte den Begriff und das Konstrukt des Mental Loads so nicht, sie spricht aber, und damit kommen wir zu ihrem wirklich wichtigen Beitrag in dieser Debatte, vom „Engel im Haus“. Sie spricht nicht nur von ihm, vielmehr ruft sie dazu auf, diesen Engel im Haus zu töten. Er hält sie ab vom Schreiben, von der vollen Verwirklichung ihrer schriftstellerischen Berufung. Das Bild des Engels im Haus, das Woolf in ihrer Rede „Berufe für Frauen“ vor der „National Society for Women´s Service“ 1931 entfaltet, geht auf einen Gedichtzyklus von Coventry Patmore zurück und beschreibt ein Idealbild der Frau, oder, wie Woolf sagen würde, die Frau, wie sie sich Männer wünschen:
„Diese Person war voll inniger Einfühlsamkeit. Sie war unendlich liebenswürdig. Sie war gänzlich selbstlos. Sie war unübertroffen in den schwierigen Künsten des Familienlebens. Täglich opferte sie sich auf. Gab es Hühnchen, nahm sie das Bein; war irgendwo Zugluft, saß sie darin – kurzum, sie war so beschaffen, dass sie weder einen eigenen Kopf noch einen eigenen Wunsch hatte, sondern es immer vorzog, mit den Köpfen und den Wünschen anderer übereinzustimmen. Vor allem – ich brauche es kaum zu sagen – war sie keusch.“
…der Mord am Engel, die Dekonstruktion des Bildes der perfekten Frau…
Diese Idee von Frau steht, so schreibt Woolf, beim Schreiben hinter ihr, ihre Röcke rascheln im Zimmer, sie lugt ihr über die Schulter, drängt sich zwischen sie und ihr Papier. Der Engel flüstert ihr ein, einfühlsam, sanft zu sein, zu schmeicheln und ja niemand ahnen zu lassen, dass „du deinen eigenen Kopf hast“. Diese engelsgleiche Frau quält Woolf und, um schreiben zu können, „[…] kehrte [ich] mich gegen sie und ging ihr an die Kehle. Ich tat, was ich konnte, um sie umzubringen“. Doch „[s]ie hatte ein zähes Leben. Ihre fiktive Natur kam ihr sehr zu Hilfe. Es ist weit schwieriger, ein Phantom totzukriegen, als eine Realität. […] der Kampf war hart; er forderte viel Zeit, die man besser darauf verwendet hätte, griechische Grammatik zu lernen; oder auf der Suche nach Abenteuern durch die Welt zu streifen.“ Aber „[h]ätte ich sie nicht getötet, dann sie mich. Sie hätte mir das Herz aus meinem Schriftwerk gerissen“. Dieser Mord am Engel, die Dekonstruktion des Bildes der perfekten Frau, das wir selbst von Frauen, von uns selbst haben, ist die notwendige Voraussetzung für Woolfs Überleben und ihre Selbstverwirklichung.
Geben ist doch seliger als Nehmen; Hochmut kommt vor dem Fall; autonomes Denken vertreibt dich aus dem Paradies; Selbsthingabe aber bringt Heil; Reden ist Silber, Schweigen…
Dieser Engel der Rollenbilder, dieser Engel der Weiblichkeit sitzt auch mir nachts auf der Brust. Ich spüre ihn wie einen Alb auf dem Magenknoten. Doch wie kann man diesen Engel abwerfen, wie diese Rolle töten, die ich doch selbst bin? All das Sein für andere, Geben für andere, das empathische Bedenken, das ist doch sittlich gut, das ist ein hoher Wert. Das habe ich gelernt in meiner familialen, meiner mütterlichen Sozialisation, aufgesogen mit der Milch bis in die Knochen, in Kindergarten, Schule, in der Kirche: Geben ist doch seliger als Nehmen; Hochmut kommt vor dem Fall; autonomes Denken vertreibt dich aus dem Paradies; Selbsthingabe aber bringt Heil; Reden ist Silber, Schweigen sollen die Frauen sowieso. Theologisch dann nochmal gut reflektiert und verkauft, wenn es der neue Gedanke des Dienstes des Herrn an den anderen ist, der den Herrn ausmacht, und dieses Konstrukt gerade Frauen von Beginn des Christentums an anspricht. Ja, da will auch ich ganz vorne dabei sein, das bin doch ich!
Wieviel darf ich überhaupt töten, ohne mich selbst kaputt zu machen? Wieviel muss ich aber töten, um zu überleben?
Das zähe Ringen Woolfs mit dem Engel im Todeskampf, das ist so zäh, weil sie es ist, weil ich es selbst bin, mit dem ich kämpfe. Das bedeutet, dass sie, dass ich ein Stück weit selbst sterben muss. Weil ich ohne den Engel nicht mehr nur gut sein kann für andere, beschädigt dies mein Selbstbild, macht es mir den Abschied von diesem Ideal so schwer. Wieviel darf ich überhaupt töten, ohne mich selbst kaputt zu machen? Wieviel muss ich aber töten, um zu überleben?
Liv Strömquist hat in „Der Ursprung der Liebe“ noch einmal anschaulich herausgestrichen, wie Frauen die starke Orientierung an anderen und das Dasein für andere entwickeln, während Männer sich als autonome Einzelne verstehen lernen. Sie besitzen in dieser Rolle das „Privileg der Verantwortungslosigkeit“, das die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Joan Tronto für bestimmte Teile unserer Gesellschaften ausweist, während anderen qua Geschlecht und Sozialisation die Sorgeverantwortung alleine, umfassend und ohne Anerkennung zugeschoben wird. Die Beschreibung, wie und dass wir so werden, wie wir sind (sicher in großer Varianz innerhalb geschlechtlicher Zuordnungen), ist das Eine. Das Andere aber bleibt die Frage danach, wie wir da rauskommen.
Ob uns das Ideal doch mehr leiden als gewinnen lässt? Anfällig für den Mental Overkill…
Also doch: Den Engel im Haus töten! Die erlernten Zuständigkeiten hinterfragen und zurückweisen, Grenzen aufzeigen, Nein sagen und sich nicht entschuldigen. (Als wenn das so simpel wäre.) Die Dekonstruktion unserer Bilder, unseres Selbstbildes, unseres Selbst wagen und uns dabei selbstkritisch fragen, ob wir uns nicht in der Entsprechung unserer Rolle auch ganz gut eingerichtet haben, und von ihr als Macht der Allzuständigkeit und Allsorge profitieren. (Steht zu befürchten.) Oder aber, ob uns das Ideal doch mehr leiden als gewinnen lässt und uns anfällig macht für den Mental Overkill, und damit verletzlich und verletzt. In jedem Fall: Eine besinnliche Weihnachtsgeschichte bekommt die Hochschulkommunikation nicht, sondern nur die brutale Wahrheit: Tötet den Engel im Haus!
Anna Noweck ist Professorin für Theologie in der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungshochschule München.
Beitragsbild: Miguel Oros, unsplash.com