„Hatschi – steck mich nicht an!“ Annett stellt sich eine Frage, die Ihnen vielleicht bekannt vorkommt. Daniel Bogner, Moraltheologe und feinschwarz-Redakteur, beantwortet die Gewissensfrage.
Annett K.: Mein Banknachbar neulich im Gottesdienst war offensichtlich stark erkältet. Beim Friedensgruß streckte er mir die Hand entgegen. Ich habe den Gruß zwar erwidert, hätte den Menschen aber am liebsten nicht berührt. Darf ich den Handschlag verweigern, ohne anschließend ein schlechtes Gewissen haben zu müssen?
Antwort: Ich möchte zurückfragen: Was hindert Sie daran so zu handeln, wie es Ihnen naheliegend erscheint? Ich stelle mir vor allem zwei unterschiedliche Reaktionen vor, die Sie fürchten könnten: Der Banknachbar könnte Sie für feindselig und friedensunfähig halten. In seinen Augen sind Sie eine Zeitgenossin, die noch keinen inneren Frieden gefunden hat, mit sich und der Welt über Kreuz liegt und deshalb auch nicht in der Lage ist, anderen den Frieden (welchen Frieden?!) zu wünschen. Der von Gott verheißene und im Gottesdienst erbetene Frieden prallt, so könnte man meinen, an der verschlossenen Tür Ihres Herzens ab.
Man könnte Sie, das wäre die zweite Deutung Ihres Verhaltens, auch für ein bisschen vorkonziliar halten. Verweigern Sie vielleicht den Gruß, weil innerhalb der Heiligen Messe für horizontale Verbrüderungsrituale kein Platz sein sollte? Es handelt sich Ihrer Ansicht nach schließlich vor allem um ein vertikales Geschehen zwischen Gott und Mensch, deshalb bitte nicht so viel „unfromme Kumpelei“…
Was genau bereitet Ihnen das schlechte Gewissen?
Ich vermute, es besteht darin, dass Sie eigentlich gerne und überzeugt den Frieden wünschen wollen, aber sich eben aus praktischen Erwägungen daran gehindert fühlen – dies aber Ihrem Nebenmann während des Gottesdienstes nicht lang und breit darlegen können.
Und diese praktischen Erwägungen sind in diesem Augenblick für Sie wichtig. Sie schreiben nichts davon, aber vielleicht haben Sie Kinder, einen harten Wochenalltag, sind allein erziehend oder haben einen für Sie wichtigen beruflichen Termin vor sich: Da können Sie sich eine vermeidbare Infektion wirklich nicht leisten! Aufs Ganze gesehen wäre es vielleicht sogar leichtfertig, die Ansteckung zu riskieren, weil Sie damit den vielfachen Anforderungen Ihres Alltags nicht mehr nachkommen können und anderen (Ihren Kindern, Kolleginnen und Kollegen etc.), aber auch sich selbst gegenüber einen Schaden in Kauf nehmen. Und das alles durch einen rein symbolischen Akt. Dass Sie „in Wirklichkeit“ durchaus friedenswillig und aufgeschlossen gegenüber Ihren Mitmenschen sind, steht für Sie sowieso außer Frage.
Zweckfrei, aber sinnhaft – Liturgie
Gerade hier könnte man einem kleinen, aber feinen Gegenargument Gehör schenken. Denn eben weil die Liturgie eine Symbolhandlung ist (ein „heiliges Spiel“, wie Romano Guardini sagt), kommt es so sehr auf Ihre Gesten an. In unserem technischen Alltagsbewusstsein haben wir längst einen harten Bruch eingeführt zwischen vermeintlicher Realität und Fiktion. Im Glauben ist das fließender. Im strengen Sinne lässt sich da nichts beweisen und die Liturgie ist eines der wenigen Mittel, um überhaupt etwas zu unternehmen als einigermaßen würdige Antwort auf die biblisch zugesagte Zuwendung unseres Gottes.
Man könnte deshalb sagen: Wenn Sie sich den Gesten dieses heiligen Spiels verweigern, nicht der „homo ludens“ sein wollen oder können, der hier gebraucht wird, dann wird die ganze Veranstaltung – für Sie zumindest – hinfällig. Wir sollen ja nicht „im Gottesdienst beten“, sondern „den Gottesdienst beten“, also dessen Abfolge an Gesten, Gebeten und Gesängen aktiv praktizieren. Es gibt keinen Sinn jenseits dessen, was wir da tun. Die Differenz zwischen Gott und uns ist so groß, dass allein im symbolisch-rituellen Spiel so etwas wie Begegnung – vielleicht eher: Annäherung – stattfinden kann.
Fromm sein, aber wo?
Verpassen Sie also, wenn Sie den Friedensgruß verweigern, eine Chance der Gottesbegegnung? Vielleicht. Es ist aber sicher nicht ihre letzte Chance. Eine passende Hilfestellung für Ihr Problem findet sich bei Ignatius von Loyola und in der ignatianischen Tradition. Fromm zu sein ist für Ignatius (und andere in seiner Folge) weit davon entfernt, auf den Gottesdienst beschränkt zu sein: Das ganze Leben (also auch Ihr Alltag in der kommenden Woche) soll dem wahren Christen Gottesdienst sein – Ort und Gelegenheit, die eigene Berufung als Christin konkret zu erspüren und in vielen kleinen Momenten welthaft und experimentell umzusetzen. Wie können Sie diese Alltagsfrömmigkeit mit all ihren Verpflichtungen und Aufgaben leben, wenn Sie krank im Bett liegen und sich vornehmlich um Ihre Gesundung kümmern müssen?
Ethiker würden jetzt sagen: Es liegen genug Aspekte auf dem Tisch – Sie müssen eine Güterabwägung vornehmen. Aber wie? Ich möchte Ihnen den Mut zum gelegentlichen Nein – ohne schlechtes Gewissen – anempfehlen. Also: Mut zur Lücke, zum Riss im symbolischen Webteppich des Sonntagsgottesdienstes – lieber die kleine Irritation beim Banknachbarn riskieren und dabei Ihre Lebenstauglichkeit bewahren, als letztere zu verlieren, dafür aber eine korrekte Rolle im Gottesdienst abgegeben zu haben. Der wahre Gottesdienst findet ohnehin draußen vor den Kirchentoren statt und er geht nach der Dreiviertelstunde Liturgie weiter. Und vielleicht ergibt sich dann ja auch die Gelegenheit, dem Banknachbarn Ihre Unpässlichkeit kurz zu erläutern…
Freier Ausdruck für freie Christen
Außerdem bin ich – im Blick auf Ihren Banknachbarn – der Meinung, dass es Gottesdienstbesuchern gut anstünde, nicht allzu vorauseilend über die Seelenzustände ihrer Mitfeiernden zu urteilen. Der Gedanke kommt mir immer, wenn ich, was ich gelegentlich einmal tue, Mund- statt Handkommunion praktiziere. Wer nun in welcher Situation welche Geste oder Gebetshaltung für passend empfindet, das ist eine komplexe und auch sehr persönliche Angelegenheit. Auch wenn ich grundsätzliche theologische Überlegungen hierzu nicht für überflüssig halte, neige ich doch zu einer recht großzügigen Haltung diesbezüglich, nach dem Motto: Freier Ausdruck für freie Christen (und Christinnen natürlich). Es sollte keinen noch so subtilen Zwang hinsichtlich liturgischer Beteiligung, ritueller Gesten und Formen des „Mitmachens“ geben. Eine Lektion, die man, nicht nur im konservativ-traditionalistischen Spektrum des Christentums, oft noch lernen muss.
Mit dieser Überlegung bewehrt können Sie vielleicht das nächste Mal etwas unbeschwerter so handeln, wie es Ihnen klug erscheint – selbst im Gottesdienst.
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Haben auch Sie eine Gewissensfrage – vielleicht gar mit Bezug zu Glaube und Religion? Unser Redaktionsmitglied Daniel Bogner ist Moraltheologe – ein Beruf, der an seiner zweisprachigen Universität in französischer Sprache auch „moraliste“ genannt wird. In loser Folge wird er sich an einer Antwort versuchen, die Ihnen vielleicht weiterhilft. Foto: Harald Wanetschka / pixelio.de
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