Nicht mehr zu wissen, wie man das geben kann, woraus man lebt. Das ist ein noch kaum beleuchteter Aspekt der Krise von Glaube und Kirche. Daniel Bogner geht dem Schmerz nach, den das verursacht. Und den Möglichkeiten, die darin liegen.
Die Corona-Pandemie unterbricht Lieferketten und weist auf die Verwundbarkeit eines vernetzten Wirtschaftsmodells hin. Darin ist sie der religiösen Krise der Gegenwart ähnlich. Hier sind es die Überlieferungsketten, die reißen. Wie kann es eigentlich weitergehen, wenn das Religiöse in der Gegenwart so wenig plausibel wirkt und kaum mehr geeignet erscheint, einen Weltzugang zu eröffnen?
Es war eine der für mich markantesten Erfahrungen, nachdem ich vor drei Jahren mein Buch zur Kirchenkrise veröffentlicht hatte. Bei fast jeder der Veranstaltungen, in denen ich mit engagierten, enttäuschten, hoffnungsvollen Menschen aus der Kirche und um sie herum über meine Diagnose einer grundständigen Verfassungsproblematik des römischen Katholizismus diskutierte, wurde irgendwann die Frage gestellt: Was muss denn nun passieren, damit es weitergehen kann?
Weitergehen, weitergeben
Es ist die Frage der Überlieferung, oder, wie es die Sprache der Theologie sagt: der Tradierung, der Tradition. Oft sind es ältere Menschen, die diese Frage stellen – sie sind voller Enttäuschung, zugleich aber noch erfüllt von einer stillen Hoffnung. Sie erzählen, dass ihre Kinder und Enkel den Faden verloren haben, und sie fragen sich, was sie hätten besser tun können, um das weiterzugeben, was ihnen selbst so wertvoll ist am christlichen Glauben.
Ist das nicht der «heiße Kern» der Kirchenkrise? Dass viele sich fragen: Was kommt eigentlich von dem, was mir wichtig ist, bei denen an, denen ich vorausgehe – wenn der Boden, der mich lange hielt, so brüchig geworden ist? Wie kann ich dazu beitragen, das auf eine Weise weiterzugeben, in der ich mir selbst treu bleibe und die für jene nach und neben mir etwas zu sagen hat? Ich spüre, dass diese Fragen meine Arbeit an einer erneuerten Gestalt kirchlicher Existenz zutiefst antreiben. Es sind die anderen – und für mich heisst das zuallererst: meine Kinder, für die ich doch Zeuge dieses Glaubens sein mag.
Eine Frage der Theologie
Was für eine Aufgabe. Ich fühle mich eigentlich überfordert. Aber auch herausgefordert. Und ist es nicht eine Chance, Theologe zu sein? Ich habe diese Berufung immer als eine zutiefst kirchliche Funktion verstanden, wenn ich ehrlich bin. Es ist eine schöpferische Aufgabe – ich darf dabei helfen, das zu modellieren, reifen und arbeiten zu lassen, was da weitergegeben werden soll. Theologische Arbeit als eine Hilfe, den Glauben auf eine Weise ansehbar, erfahr- und erfühlbar zu machen, dass andere sich darauf einlassen mögen und selbst sagen: Ja, das ist ein Weg nach vorne.
Eine Aufgabe der Theologie ist das, und sie besteht in etwas anderem als darin, die Sache des Glaubens möglichst verlustfrei von hier nach da zu transportieren.[1] Es ist die Arbeit einer ständigen, nie fertigen Übersetzung, einem Prozess der Transformation näher als einem Transfer. Und das in einer Zeit der Krise, ja, des zerfallenden kirchlichen Rahmens, welcher Menschen Jahrhunderte hindurch dazu diente, sich von Gottes Wort so wundersam transformieren (verwandeln) und alterieren (verändern) zu lassen.
Schließlich trifft mich die Frage irgendwie «lebensmittig». Ich glaube, es ist nicht trivial, in welchem Alter man über die Tradierung des Glaubens nachdenkt. Mein Gefühl momentan ist es, in einer Zeit zu sein, in der es neben dem Vorausschauen auch das Zurückschauen gibt. Eine spezielle Lage ist das, weil Erfahrungsraum und Erwartungshorizont aufeinander bezogen werden können. Eine Lage mit Chancen und Grenzen. Erdung und Realismus speisen das, worauf man hoffen mag; Handeln und Streben haben – hin und wieder immerhin – einen (ampel-deutsch gesprochen) «Wumms», aus einem Wissen um die Endlichkeit von Ressourcen und Möglichkeiten.
Passagen-Glaube. Ein unfertiges Bild
Weitergeben, was einem wichtig ist, als Christ und Theologe. Eine konkrete Erfahrung und Aufgabe, an meiner Universität. Und das heisst zunächst: Nachwuchs gewinnen für die theologische Wissenschaft. Es ist eine schwierige Aufgabe. In einem Land der technischen Ideale, in einer Kirche mit unklaren Berufsbildern und stotternder Reformbereitschaft, inmitten einer Zeit, die das Religiöse ins Unwirkliche entfärbt. Für jene allerdings, die dabei sind: beglückende Erfahrungen gemeinsamen Denkens, existenzielle Bedeutung, die spürbar wird im konkreten Wirken, auch in Bewusstsein und Absicht, mit der eigenen theologischen Praxis einladend zu sein für andere… Aber was, wenn die nur sporadisch des Weges ziehen, eine kritische Größe längst unterschritten ist, damit so etwas wie das Gefühl eines gemeinsamen Unterwegs-Sein entsteht?
Den Glauben weitergeben an meine Kinder. Aber in welchen Gottesdienst gehen? Der Jüngste, religiös gar nicht unmusikalisch, will nicht, wie die älteren Schwestern, Ministrant werden. Das wäre immerhin ein, wenn auch oft nur holprig laufender, aber doch recht passabler Integrationsapparat. Auf die Suche nach einem Gottesdienst also. Und dann: «Hier gibt’s nur Kleinkind-Gottesdienste oder Omi-Messen, nix für mich». Das sitzt, denn er hat recht. Mal bei der Jugendkirche vorbeischauen? Sonntagabend – da drückt sich schon der nächste Schulmorgen hinein, das frühe Aufstehen. Schlechter Termin für einen Zehnjährigen, weitersuchen…
Rosenkranz & Krippentour
Was funktioniert: Rosenkranz beten. Zuhause auf dem Teppich, bei Kerze und Franziskus-Klappbild, vom Assisi-Urlaub mitgebracht. Nicht «schmerzhaft» oder «gnadenreich», sondern mit eigenen Widmungen versehen, den Tageserlebnissen angepasst. Früher, in der bayerischen Heimatkirche, habe ich das verschmäht, jetzt bin ich dankbar, von meinem Vater irgendwann – ebenso assoziativ wie ich es jetzt tue – eingeführt worden zu sein in dieses Beten. Ich komme zur Ruhe, er kommt zur Ruhe, wir stehen in einem anderen Raum, es kann irgendetwas geschehen, wer weiß. Selten genug, aber wenn, dann fühlt es sich richtig an.
Was auch funktioniert: In der Weihnachtszeit auf Krippentour gehen. Die Kirchen in der Stadt abklappern, Parameter definieren, wie eine gute Krippe beschaffen sein sollte, differenzierte Evaluationsgespräche im Flüsterton, im Licht trüber Dezember- und Januarnachmittage.
In diese Kirche hineinsozialisieren – will ich das für meine Kinder?
Mit den Töchtern ist es anders. Die regelpastoralen Angebote zeigen noch Wirkung, es findet so etwas wie eine zumindest «langwellige» gemeindliche Sozialisation statt. Aber hier fühle ich anders: Will ich das denn überhaupt, trotz des authentischen und ganz und gar redlichen Mühens der Kräfte vor Ort, dass die Töchter hineinsozialisiert werden in diese Kirche mit ihrer ontologisch bewehrten Platzanweisung für Mädchen und Frauen? Was gebe ich ihnen mit auf den Weg, wenn sie gerade die mir selbst so existentiell bedeutsame Lebensdimension des Glaubens innerhalb einer religiösen Organisation leben lernen, die zwischen männlicher und weiblicher Spezialwürde unterscheidet? Es ist ein Dilemma, denn durch diese Kirche habe ich meinen eigenen Glauben leben gelernt. Vielleicht sollte ich eine Selbsthilfegruppe gründen. Andere Väter bitte mal melden.
Den Glauben weitergeben als Exkursion und Ereignis. Die dichten Tage im Team der Urlauber*innenseelsorge auf Wangerooge, bei der sorgsam vorbereiteten Taufe der Cousinen, vielleicht demnächst einmal in Rom, wenn ich in memoriam eigener Reiserlebnisse Katakomben, Sixtina, Pantheon und Petersdom erkunden möchte mit dem Nachwuchs. Das sind Erfahrungen, die eine Identität stiften, aber es sind punktuell-ereignishafte Geschehen. Und – kann ich eigentlich so nach Rom fahren, wie ich es selbst als Jugendlicher einst tat, in der Annahme einer guten religiösen Welt hinter den schönen Fassaden? Als stolzer Teilnehmer bei der Papstaudienz, fotodokumentiertes Händeschütteln inklusive? Vieles ist zerbrochen, ich fahre trotzdem. Und die jährlichen Erfahrungen in St. Willehad auf Wangerooge haben ihre Wirkung, der Ministrantendienst sogar des Jüngsten mit vier Jahren seinerzeit… Nicht wie früher, aber bei weitem nicht Nichts.
Nur Formeln und Worte…
«Kirche als Hauskirche», «missionarisch Kirche sein», «pastorale de l’engendrement»… So viele Weisen gibt es, das zu beschreiben, worum es dabei geht, was man auch einfach «Weitergeben» nennen könnte. Helfen die Konzepte mit ihrem strategischen Kalkül denn wirklich weiter? Sie benennen Zuständigkeiten, Haltungen und Ideale. Sie können aber nicht vergessen machen, dass die Weitergabe am Ende von Menschen abhängt, die spürbar werden lassen, was ihnen wichtig ist. Und auch die werden nicht als Zeuginnen und Zeugen geboren, sondern müssen dies einstudieren, einüben, trainieren.
Echo eines Aristoteles, mit ihm eines Thomas und der «Tugendethik» herüber in die Glaubenskommunikation… So, wie ich mich darin üben kann, ein gerechter, ein mutiger oder ein abwägender Mensch zu werden, so wie ich ein Instrument lernen kann, so hat auch die Weitergabe des Glaubens damit zu tun, zu merken, wofür ich eine Neigung verspüre, worin ich mich angesprochen und gerufen fühle. Gelingt es mir, genau das mit erfülltem Herz, Widerständen zum Trotz, immer wieder (mal) zu tun? So dass die um mich herum vielleicht fragen: Was bewegt den?
Der ursprünglichen Begeisterung auf der Spur
Kürzlich war ich als Referent bei einer Fortbildungstagung von bayerischen Gymnasiallehrer*innen eingeladen. Es war eine bewegende Erfahrung. Einige haben geklagt, man müsse sich an den verlorenen Positionen der Kirchenleitungen und des Lehramtes abarbeiten, mit deren Erwartungen, der Religionsunterricht solle die Kinder und Jugendlichen wieder zur Kirche führen. Aber sobald wir in die eigentliche theologische Arbeit eingestiegen waren, war beinahe allen anzumerken, welch ursprüngliche Begeisterung und Leidenschaft sie für dieses Fach, das sie unterrichten, aufbringen können.
Und ich selbst empfinde es genauso. Ich kann mich dafür begeistern, Tafelbilder zur theologischen Ethik bei Augustinus oder Thomas von Aquin zu entwerfen, und eben daran unsere heutigen Perspektiven auf Welt und Mensch, unser Handeln, Wollen und Können zu schärfen. Zu lernen, welche Ressource der Glaube in genau dieser Gegenwart sein kann und dass dieser Glaube mein Verstehen und Denken nicht abschwächt, sondern vielmehr auslöst und anschärft.
Ein Privileg : dabei zu sein beim Zusammensetzen der Scherben
Ich fühle mich, in der entlaubten religiösen Landschaft unserer Zeit, beschenkt, den Beruf ausüben zu dürfen, in den es mich geführt hat. Bei den dramatischen Abbrüchen, die diese Kirche erlebt und selbstverschuldet verursacht, ist es für mich ein Privileg, dabei sein zu dürfen und mitgestalten zu können, wenn aus den Scherben einer zerbrochenen Einheit neue Formen und Gefäße entstehen. So wie der Religionsunterricht ein unschätzbarer Schatz ist, weil er es ermöglicht, mit jüngeren Menschen über die Frage nach den Zugängen und Wirklichkeitsweisen dieser Welt und unserer Rolle darin zu fragen.
Am Ende des langen Arbeitstages mit den Lehrer*innen waren wir in Benediktbeuern zum Gottesdienst beisammen. In der ehemaligen Tenne, unter alten Holzbalken, im Oval um den Tisch des Mahles und des Wortes, jede*r mit einem Becher Wein, einem Stück Brot in den Händen feierten wir den Glauben – dieses Versprechen auf eine Verwandlung unserer heillosen Welt. Die Gegenwart des lebendigen Gottes wurde spürbar, in den elementaren Zeichen des eucharistischen Mahles. Beim Singen der Lieder, diesem «demokratischen» Modus der Beteiligung, den ich mir niemals werde nehmen lassen.
Diese Gegenwart erahnen kann ich auch, wenn ich hin und wieder abends im dunklen Zimmer mit meinem Sohn das Vater Unser bete oder ein paar freie Sätze, die ich allerdings vorher herausverhandeln muss. Für mich legen sich die Lebenswelten übereinander: Ich bin mindestens genauso gern Vater wie Theologe und in beidem genauso gefordert, was den Glauben betrifft.
Äußeres Fühlen & glückseliger Schiffbruch
Den Glauben weitergeben in zerzauster Landschaft, wie geht das? «Schöpferische Treue» ist ein Wort, mit dem Bernhard Häring, einer der frühen Erneuerer der Theologischen Ethik im 20. Jahrhundert, den Anspruch der Theologie beschrieben hatte. Sie steht zwischen der Herausforderung, Anschlüsse herzustellen und der Verpflichtung, Neues damit zu knüpfen. Es ist mir zum Leitwort geworden für die Aufgabe der Glaubensweitergabe. Anknüpfen bei dem, was ich in mir habe, dank biografischem, familiärem Erbe, dank lebensgeschichtlichen Zufällen und Begegnungen, auch dank institutionellen Prägungen. Und dann überlegen, wie ich damit weitergehen kann, ganz «fussgängerhaft» (Jürgen Werbick), ohne institutionelle Versicherung, aber kreativ. Getragen und gehalten nur noch durch die gemeinsamen Praktiken, die bleiben: Mahl feiern miteinander, die alten und neuen Weisen singen, die Gebete sprechen, die man hervorkramt, darin eine Wiedererkennung spüren… Es ist das, was Mario Perniola als «äußeres Fühlen» bezeichnet und eben darin die Eigenart des Katholizismus erkennt.[2]
Es könnte getragen sein von einem Geist, der einen spüren lässt: Man kann immer wieder etwas anfangen, auch wenn das Geröll der zerfallenden Kulissen so viele Hindernisse bildet. Für Vilma Sturm geht man dann «[b]arfuß auf Asphalt»[3] und ein Mystiker (Jean-Joseph Surin) sprach vom «glückseligen Schiffbruch» (naufrage heureux), den das Ich in der Gottesbegegnung erleidet. Heute geht das alte Kirchenschiff baden, und wir müssen selber schwimmen.
[1] Vgl. Bruno Latour, Jubilieren. Über religiöse Rede, Suhrkamp: Berlin, 2011.
[2] Vgl. Mario Perniola, Vom katholischen Fühlen. Aus dem Italienischen von Sabine Schneider, Matthes & Seitz: Berlin 2013.
[3] Vgl. Vilma Sturm, Barfuß auf Asphalt, dtv: München, 1981.
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Daniel Bogner, Professor für Theologische Ethik an der Universität Fribourg/Schweiz und Mitglied der Redaktion von feinschwarz.
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