„Ich glaube die Kirche“ – so heißt es im großen Glaubensbekenntnis, nicht an die Kirche, sondern schlicht und einfach die Kirche. Saskia Wendel zu einem sehr eigenen Glaubensartikel und seinen Konsequenzen.
Die Kirche glauben, das heißt: im Glaubensvollzug Kirche sein und leben und so Kirche allererst hervorbringen, entstehen lassen, und umgekehrt Glauben in einer Ausdruckform leben und vollziehen, die Kirche genannt wird. Die deutschsprachige Bezeichnung „Kirche“ wird in der Regel vom griechischen kyriake – „Haus den Herrn“ – abgeleitet, so auch das englischsprachige church. Doch im Französischen und Spanischen z. B. wurde eine andere Bezeichnung bewahrt (l’eglise, la iglesia) ecclesia, zu Deutsch: „die Herausgerufene“, womit in der Antike ursprünglich die Volksversammlung bezeichnet wurde. Genau diese Bezeichnung passt eigentlich viel besser mit der Intention des Glaubensbekenntnisses, nicht an, sondern die Kirche zu glauben, zusammen, weil in ihr anders als in der Bezeichnung kyriake keine Ortsmetaphorik aufgerufen wird.
Kirche als Widerfahrnis
Mit „Kirche“ wird weder Haus noch Ort assoziiert, in diesem Sinne auch kein Objekt, sondern ein Geschehen, ein Widerfahrnis, nämlich herausgerufen zu werden und zu sein – wobei zunächst noch nicht mitgesagt ist, von wem, wozu und woraufhin. Kirche, verstanden als ecclesia, ist nicht nominal bzw. substantivisch zu verstehen, sondern verbal, wenn das auch nicht grammatikalisch korrekt abzubilden ist, ohne sprachlichen Unsinn zu produzieren. Dennoch ist aber eigentlich mit „die Kirche glauben“ gemeint, das „Herausgerufen-sein“ glaubend zu vollziehen bzw. den Glauben „herausgerufen seiend“ zu vollziehen.
Es gilt, sich in den Debatten um Kirchenreformen daran zu erinnern, dass Christ*innen im Glaubensbekenntnis bezeugen, dass sie die Kirche zu glauben bereit sind, und dass damit ein konkretes Geschehen gemeint ist, das immer wieder neu vollzogen wird, um darin eine Wirklichkeit namens „Kirche“ performativ zu setzen. Denn dann öffnet sich nämlich der Blickwinkel weg von der Konzentration auf Erlaubnisdiskurse um Reformanliegen hin zur Frage nach der grundsätzlichen Möglichkeit dessen, was es heißen könnte, Kirche zu sein.
Suche nach einer anderen Kirche
Es geht dann um die Suche nicht nur nach ein wenig Anderem in der Kirche, sondern nach einer anderen Kirche, und das betrifft in unterschiedlichen Aspekten ja genau genommen auch nicht allein Katholik*innen, sondern alle Christ*innen, die die Kirche glauben (wollen). Anvisiert ist somit eine im besten Sinne des Wortes radikale Suche nach dem, was Kirche eigentlich sein könnte.
Wenn die Kirche als Geschehen zu verstehen ist, dann gilt es genauer zu bestimmen, worin und wodurch sich dieses Geschehen bestimmt. Das erste Moment dieses Geschehens ist das Herausgerufen-sein. Das zweite Moment ist der Gehalt dieses Herausgerufen-seins, der als eine Praxis, als ein Tätig-sein zu verstehen ist, zu dem sich diejenigen herausgerufen fühlen, die sich als ecclesia konstituieren. Das dritte Moment ist der Charakter dieser ecclesia selbst: Es handelt sich um eine Versammlung der Herausgerufenen.
Kirche – Versammlung der zur Vergegenwärtigung des Heils Herausgerufenen
Legt man die ursprüngliche Bedeutung der Volksversammlung zugrunde und überträgt sie auf unseren Kontext, dann lässt sich an dieser Stelle auf eine Grundbestimmung der Kirche zurückgreifen, die das II. Vatikanum wieder ins Zentrum gestellt hat: diejenige des Volkes Gottes auf dem Weg. Ecclesia ist Versammlung des herausgerufenen Gottesvolkes und darin ist sie permanent auf dem Weg und in Bewegung, dynamisch, nicht statisch, und in Veränderung, nicht unveränderlich.
Die Praxis, zu man sich nun versammelt, knüpft an die Praxis Jesu an, auf die man sich glaubend bezieht, an eine Praxis, die, so christliche Überzeugung, realsymbolisch ein göttliches Heilsversprechen vergegenwärtigt, die das „Leben in Fülle“ antizipiert, das einem jeglichen verletzlichen Leben zugesagt ist. Es handelt sich in diesem Sinne um eine sakramentale Praxis, eine Zeichenhandlung, und daher ist auch die Versammlung derjenigen, die sie vollziehen, Sakrament, Zeichen jenes „Lebens in Fülle“.
Kirche ist also Versammlung derjenigen, die sich von Jesu Zeugnis, seiner Botschaft, seinem Leben und seinem Sterben, dazu herausgerufen und aufgerufen fühlen, das zu bezeugen, was Jesus selbst bezeugt hat: die Hoffnung auf ein Leben in Fülle, die dem beschädigten, verletzlichen, sterblichen Leben zugesagt ist.
Hoffnung auf ein „Mehr“
Herausgerufen zu einer konkreten Lebensdeutung und Lebenspraxis, in deren Zentrum diese Hoffnung steht, die Hoffnung auf ein „Mehr“ als das, was ist, die Hoffnung auf vollkommenes Heil für alle, für die Lebenden und für die Toten, und auf eine Heilszusage, die jetzt schon gilt und keine billige Jenseitsvertröstung darstellt. Die als Kirche Versammelten eint diese gemeinsame Praxis einer christlichen Selbst- und Weltdeutung, die sie reflektieren, interpretieren und vor allem: die sie immer wieder neu vollziehen.
Idealiter ist Kirche folglich selbst auch das, was Jesus theologisch zugesprochen wird: Realsymbol, also vergegenwärtigendes Zeichen des Heils zu sein. Diejenigen, die sich im Namen Jesu versammeln, sind zwar nicht mit ihm identisch, aber sie sind in seiner Spur unterwegs. So wie Jesus von Nazareth Gottes für die ganze Schöpfung entschiedene Liebe verkörpert hat, so sollen auch diejenigen, die sich dazu herausgerufen fühlen, diese Liebe im eigenen Tun und Zeugnis verkörpern und zur Erscheinung bringen. Darin entsteht neue Wirklichkeit, weshalb man dieses Tun auch als ein performatives Tätigsein verstehen kann.
Eine performative Versammlung, die tut, was sie glaubt
Im Anschluss an Judith Butlers Überlegungen zur „performativen Macht der Versammlung der Körper“ lässt sich denn auch Kirche (ecclesia) als solch eine performative Versammlung des Volkes Gottes denken, welches prinzipiell die Macht besitzt, ein konkretes Heilsversprechen zu antizipieren und so dazu beizutragen, dass das zugesagte Leben in Fülle momenthaft Wirklichkeit wird, mitten in den unheilen, ungerechten und leidvollen Zuständen endlicher Existenz. Eine performative Versammlung, die in ihrem Vollzug das zum Ausdruck bringt, was Gabriel Marcel so formuliert hat: „Jemanden lieben heißt sagen: Du wirst nicht sterben!“
Elisabeth Schüssler-Fiorenza kennzeichnete die Gemeinschaft der Apostel*innen und Jünger*innen Jesu als „Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten“. Auch Kirche lässt sich so verstehen, wenn man herausstellt, dass die in ihr Versammelten gerade in Bezug auf Christus und die Aufgabe, ihn im performativen Geschehen, dass die Versammlung selbst schon darstellt, zu repräsentieren, gleichgestellt sind. Alle sind in gleicher Weise herausgerufen, alle sind in gleicher Weise in die Aufgabe gestellt, Zeichen der Hoffnung auf ein Leben in Fülle zu sein und so performativ neue Wirklichkeit zu setzen.
Eine Versammlung von Gleichgestellten in der Repräsentanz Christi
Alle verkörpern in gleicher Art und Weise und gleicher Hinsicht das zugesagte Heil und die unbedingte Liebe Gottes. Insofern wird Christus von der ganzen ecclesia verkörpert und repräsentiert; Christusrepräsentanz vollzieht sich nicht top down, sondern bottom up, von der Versammlung des Volkes Gottes her. Hinzu kommt die Kraft des Geistes, in und durch die die ecclesia ihre performative Macht besitzt und ausübt. Entscheidend ist hier aber, grundsätzlich allen, die ecclesia konstituieren, die Fähigkeit und die Aufgabe zuzusprechen, in persona Christi zu handeln. Ausgehend von diesem Verständnis von Kirche als performative Versammlung des Volkes Gottes im Sinne einer „Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten“ ergeben sich dann auch konkrete Folgerungen für die strukturelle und rechtliche Verfasstheit jener Versammlung, für ihre Organisationsform, für die in ihr zu versehenden Funktionen und Aufgaben, für deren Legitimation und deren Verantwortlichkeit anderen gegenüber, für die Praxis der Bestellung, für die Ausübung der damit verbundenen Macht.
„Kein Ort. Nirgends“?
Kirche, so wurde eingangs gesagt, ist kein Ort, sondern Geschehen. Das gilt noch in einer anderen Hinsicht: Kirche, so wie sie hier skizziert wird, stellt einen „Nicht-Ort“ dar, einen u-topos. Weder ist sie in ihrer Struktur eine performative Versammlung des Volkes Gottes noch verkörpert sie darin das allen zugesagte Leben in Fülle, im Gegenteil steht sie selbst der ihr überantworteten Aufgabe, Zeichen des Heils zu sein, immer wieder entgegen und verstellt so ihr eigenes Zeugnis. Für eine Kirche, verstanden als Versammlung derjenigen, die sich dazu herausgerufen fühlen, mitten in Geschichte und Gesellschaft das Leben in Fülle zu verkörpern, scheint auf unabsehbare Dauer hin Christa Wolfs Buchtitel zuzutreffen: „Kein Ort. Nirgends“.
Der Blick auf diesen u-topos scheint die Hoffnung auf die Verwirklichung einer konkreten Utopie zum Versiegen zu bringen, und die anvisierte radikale Suche nach dem, was Kirche sein könnte, endete so in radikaler Verzweiflung. Die Alternative hierzu wäre jedoch, sich nicht mehr nur am Status quo abzuarbeiten, bestimmte Dinge immer wieder neu einzufordern und in stets wachsender Verzweiflung darauf zu warten, dass diesen Forderungen irgendwann einmal stattgegeben werden könnte. Die Alternative wäre, sich auf die eigene performative Macht zu besinnen und selbstbestimmt wie selbstverantwortlich damit zu beginnen, eine andere, eine neue Wirklichkeit zu setzen, sprich: sich an das Glaubensbekenntnis zu erinnern und versuchen, die Kirche zu glauben.
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Saskia Wendel ist Professorin für Fundamentaltheologie an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen.