Papst Franziskus ruft am Sonntag, 15. November 2020, bereits zum vierten Mal den Welttag der Armen aus. Nora Tödtling-Musenbichler, die Koordinatorin der VinziWerke Österreich, sagt, warum er dieses Jahr wichtiger denn je ist und welche Auswirkungen die Coronakrise auf die Armut hat.
„Streck dem Armen deine Hand entgegen“ ist die Botschaft von Papst Franziskus am heurigen Welttag der Armen. Doch wie können wir in diesem schwierigen und herausfordernden Jahr 2020, das von Krankheit und Tod, von wirtschaftlichen Krise und ungewisser Zukunft geprägt ist, den Armen die Hand entgegenstrecken, wenn wir Abstand halten sollen und der „Babyelefant“ sich zwischen uns drängt?
Das Virus macht betroffen.
Die Corona-Pandemie hat das Leben aller Menschen auf den Kopf gestellt. Das Virus trifft nicht nur Länder, deren medizinische Versorgung unzureichend ist, sondern es hat sich schnell und unkontrollierbar auf der ganzen Welt verbreitet und hat auch vor den wohlhabenden und fortschrittlichen Ländern keinen Halt gemacht. Und das Virus macht betroffen. Es trifft jede und jeden einzelnen in unterschiedlicher Art und Weise, doch es greift unsere wertvollsten Güter in voller Wucht an – Freiheit, Gesundheit und Sicherheit, um nur einige zu nennen.
Während ein Teil der Menschheit noch immer davon ausgeht, dass es sich um ein harmloses Virus handelt, müssen unterdessen Pflegepersonal, Ärzt*innen und Wissenschaftler*innen in vielen Ländern darüber entscheiden, wen sie zuerst behandeln oder wer die besseren Chancen aufs Überleben hat.
Die Corona Pandemie lässt notleidende Menschen noch ärmer werden und erzeugt zusätzliche ganz neue Formen der Armut.
Auch abseits der Krankenhäuser geht der Kampf ums Überleben weiter. Das Virus greift nicht nur unseren Körper an, sondern bedroht auch unsere wirtschaftliche Existenz und unser soziales Miteinander.
Die Corona Pandemie lässt notleidende Menschen noch ärmer werden und erzeugt zusätzliche ganz neue Formen der Armut. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Armut, sondern auch Einsamkeit, Isolation, Beziehungskrisen und Überforderungen prägen die neuen Gesichter der Armut.
Wenn Papst Franziskus uns am Welttag der Armen auffordert, die Hand den Armen entgegenzustrecken, dann müssen wir zuerst herausfinden, wer die Armen sind, besonders auch in dieser Zeit der Corona Pandemie.
In den Einrichtungen der Vinzenzgemeinschaft Eggenberg, die vor 30 Jahren vom Grazer Pfarrer und Lazaristen, Wolfgang Pucher, gegründet wurden und mittlerweile in ganz Österreich Notschlafstellen, Dauerherbergen, Sozialmärkte und Essensausgaben wie den VinziBus betreiben, finden jede Nacht über 400 Menschen einen warmen Schlafplatz und über 1200 Menschen werden täglich mit Nahrung versorgt.
Im Frühjahr, am Beginn der Corona Pandemie, fragte ich einen unserer Bewohner der Dauerherberge VinziDorf, einer Einrichtung für ehemals obdachlose Männer, wie er die Corona Krise erlebt. Er schaute mich ein wenig verwundert an und sagte zu mir: „Für mich hat sich nicht viel verändert. Ich lebe seit Jahren auf 6 m², mache mir keine Gedanken darüber, wo ich den nächsten Urlaub verbringe, da ich schon lange das Geld dafür nicht habe und Einschränkungen kenne ich schon mein ganzes Leben.“
Unterschiedliches Verständnis von „arm“
Was können wir von dieser Aussage für den Blick auf die Gesichter der Armut mitnehmen? Wenn ich diesen Bewohner fragen würde, ob er sich arm fühlt, würde er wahrscheinlich verneinen. Auch wenn er wenig finanzielle Mittel zur Verfügung hat, meist Kleidung trägt, die bereits getragen und dann gespendet wurde und nur einen kleinen Container sein „Zuhause“ nennen darf, so fühlt er sich dennoch die meiste Zeit zufrieden. Er hat weitere, ehemals obdachlose Bewohner um sich, die er zum Teil seine Freunde nennt, ehrenamtliche Mitarbeiter*innen verbringen mit ihm und den anderen Zeit und schenken ihnen Geborgenheit und Verständnis. Und er hat „alles“, was er in seiner Situation zum Leben braucht.
Auch wenn wir auf den ersten Blick meinen, dass diese Menschen besonders arm sind, so trifft dies nicht immer zu.
Das heurige Jahr zeigt ganz neue Facetten der Armut.
Das heurige Jahr zeigt ganz neue Facetten der Armut. Ich denke da an den älteren Mann, der zur Risikogruppe gehört und keinen Besuch empfangen soll. Abgeschirmt vom Virus sitzt er zuhause und wartet auf die Tochter oder den Sohn, der ihm auf Abstand zweimal die Woche die Einkäufe vor die Türe stellt, um jede Ansteckung zu vermeiden. Oder aber die junge Singlefrau, die durch den Lockdown in Home Office ist. Sie leidet unter der Einsamkeit und der mangelnden Nähe. Da ist niemand, der sie in den Arm nehmen kann, da Abstand das Gebot der Stunde ist.
Das neue Gesicht der Armut sind aber auch Familien, die auf engstem Raum zusammenleben und sich nun den Esstisch teilen müssen, um Home Office und Home Schooling bewältigen können. Kinder müssen leise zuhause sein, während Mama und Papa mit Geschäftspartnern telefonieren oder auf Arbeitssuche sind, weil sie Firmenschließungen zum Opfer gefallen sind.
Der Auftrag, herauszufinden, wer die Armen sind,
„Strecke den Armen deine Hand entgegen!“ Diese Weisheit aus dem Buch Sirach, die Papst Franziskus als Titel seiner Botschaft für den heurigen Welttag der Armen genommen hat, fordert heraus.
Es ist ein Auftrag herauszufinden, wer die Armen sind, denen ich meine Hand entgegenstrecken soll. Dabei müssen wir unseren Blick nicht in die Ferne richten, auch wenn gerade die Corona Pandemie alle Grenzen sprengt und Menschen in den Flüchtlingslagern in Griechenland unsere Hilfe dringend nötig haben.
Vielleicht blicken wir aber auch in die Wohnung nebenan, wo der ältere Mann sehnsüchtig auf ein liebevolles Wort oder einen freundlichen Blick hofft.
Auch wenn wir zu Menschen Abstand halten müssen, so dürfen wir uns nicht von Menschen und ihren Schicksalen distanzieren.
Die Hand entgegenstrecken heißt auch, dass wir berühren und uns berühren lassen – von Menschen, von Schicksalen und Not. Auch wenn wir zu Menschen Abstand halten müssen, so dürfen wir uns nicht von Menschen und ihren Schicksalen distanzieren. Gerade jetzt braucht es die Hinwendung zum Nächsten und menschliche Wärme, die jede Distanz überwindet. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich der Bewohner des VinziDorfs nicht als arm bezeichnet, da er Geborgenheit und menschliche Wärme erfahren darf.
Die Corona Krise hat neue Gesichter der Armut hervorgebracht und nur wenige sind mit finanzieller Unterstützung zu beseitigen. Es braucht besonders jetzt Menschen, die ihre Hände nicht einstecken und tatenlos zusehen, sondern die ihre Hände den Armen entgegenstrecken und sich berühren lassen.
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Autorin: Nora Tödtling-Musenbichler, Graz, ist Koordinatorin der Vinziwerke Österreich.
Beitragsbild: Vinziwerke