Klaus von Stosch fragt nach der Bedeutung des Terrorangriffs der Hamas – auch für die christlichen Theologien.
Bei allem Streit zu Einzelfragen scheinen mir drei Einsichten zum Konflikt im Gazastreifen unabweisbar zu sein, sodass es sich lohnt zu fragen, was aus diesen Einsichten für eine christliche politische Theologie folgt.
Ziel dieses Terrorakts ist nicht die Befreiung Palästinas, sondern die Vernichtung Israels.
Erstens ist der Angriff der Hamas auf Israel kein legitimer Akt der Selbstverteidigung, sondern ein Akt des Terrorismus. Ziel dieses Terrorakts ist nicht die Befreiung Palästinas, sondern die Vernichtung Israels und die Polarisierung der Welt in zwei Lager. Besonders deutlich sieht man die polarisierende Logik des Terrors an den Bildern, die die Hamas in die Welt zu setzen versucht. Die Hamas zeigt uns Kämpfer, die sich selbst dabei filmen, wie sie Kinder exekutieren, Frauen vergewaltigen und Menschen bei lebendigem Leibe verbrennen. Sie zeigen, wie sie Menschen die Arme und Beine abschlagen, bevor sie von dem verbliebenen Rumpf auch den Kopf abtrennen. Letztlich geht es hier nicht nur um die Traumatisierung der Gegner und auch nicht nur um einen Überbietungswettbewerb mit dem IS um die bestialischsten Bilder der Unmenschlichkeit, sondern auch um eine konsequente Kampfansage an den Gedanken der Humanität. Ziel ist es, dass Israel und mit ihm der Westen sich durch ihre Reaktionen selbst entlarven, indem auch der Westen den Gedanken der Humanität zerstört und damit für alle erkennbar zeigt, dass der Westen nur heuchelt, wenn er sich über die Ermordung Unschuldiger empört. Die Hamas hat durch die von ihr erzeugten Bilder ganz bewusst versucht, die Werthaltungen des Westens insgesamt anzugreifen und die Doppelmoral des Westens in einer Weise offenzulegen, dass am Ende nur noch die Logik des Stärkeren und nicht mehr die Logik der Humanität regiert.
Eine konsequente Kampfansage an den Gedanken der Humanität.
Zweitens wird man feststellen müssen, dass der bisherige Kriegsverlauf die von der Hamas geplante Dramaturgie geradezu perfekt erfüllt. Von Anfang an war es das leicht durchschaubare Ziel der Hamas, dass durch die Luftangriffe Israels in Gaza unschuldige Menschen sterben, weil nur so die Bilder entstehen, die ihr eigenes Morden rechtfertigen und die ihre Narration vom Kampf gegen die Ungläubigen als Selbstverteidigung glaubwürdig machen. Die Luftschläge der Regierung Netanjahu liefern nun täglich genau die Bilder getöteter Kinder und Frauen, die die Terroristen für ihre Ziele benötigen. Das erklärte Ziel, die Hamas auszulöschen, rückt das monströse Ziel der Terroristen, Israel vom Erdboden zu vertilgen und alles jüdische Leben zu vernichten, in ein neues Licht. Damit entsteht der Eindruck einer wechselseitigen Exklusions- und Vernichtungslogik mit dem Vorteil für die Hamas, dass die Bilder getöteter Menschen aus der Zivilbevölkerung Palästinas jetzt seit Wochen auf allen Fernsehkanälen der islamischen Welt immer neu gezeigt werden und so genau die Emotionen wecken, die das Handeln der Hamas als legitim erscheinen lassen. Während diese Bilder in der islamischen Welt Assoziationen mit einem Völkermord wecken, gerät der Schrecken, den der Terror der Hamas in Israel ausgelöst hat und der die Vergeltungsschläge Israels provoziert hat, angesichts der militärischen Überlegenheit Israels immer mehr in den Hintergrund des öffentlichen Bewusstseins – und zwar nicht nur in der islamischen Welt, sondern auch im Westen.
Das erklärte Ziel, die Hamas auszulöschen, rückt das monströse Ziel der Terroristen, Israel vom Erdboden zu vertilgen und alles jüdische Leben zu vernichten, in ein neues Licht.
Drittens ist genau dieser Schrecken, den der terroristische Angriff der Hamas für Jüdinnen und Juden bedeutet, etwas das wir in Deutschland unbedingt im Blick behalten müssen. Jüdische Menschen sind durch den Terrorangriff in ihrer Identität und Existenz so sehr bedroht wie seit der Schoa nicht mehr. Wir dürfen nicht vergessen, wie zentral es in der jüdischen theologischen Verarbeitung der Schoa ist, dass der mörderische Vernichtungswahn der Nazis nicht zum Erfolg geführt hat und aus den Trümmern jüdischer Existenz ein eigener Staat entstehen konnte. Die Sicherheit jüdischen Lebens in Israel ist in dieser Perspektive so etwas wie Gottes Antwort auf den Schrecken der Schoa. Und auch wenn nicht alle diesen Punkt so zugespitzt formulieren würden, ist doch die Existenz Israels und die Sicherheit jüdischen Lebens in diesem Land ein Ankerpunkt für jüdische Existenz heute. Wenn der Terror der Hamas Israel beweist, dass Israels Sicherheitsversprechen nicht trägt, legt er die Axt an die vielleicht wichtigste Narration, aus der sich Hoffnung und Zuversicht jüdischen Lebens nach der Schoa speist – und zwar nicht nur in Israel. Dass die Ikonographie der Hamas sich auch noch von Vernichtungsmotiven der Nazis inspirieren lässt, erhöht noch einmal das so entstehende Erschrecken auf jüdischer Seite und muss auch uns aufrütteln.
Die Sicherheit jüdischen Lebens in Israel ist in dieser Perspektive so etwas wie Gottes Antwort auf den Schrecken der Schoa.
Damit bin ich schon bei den Anforderungen, die diese Analyse für die theologische Reflexion stellt. Zunächst einmal muss sich christliche Theologie dem jüdischen Erschrecken und der damit verbundenen Existenzangst stellen und sie handelnd begleiten. Sie muss das Ziel der Gefangenenbefreiung in den Blick bekommen, das die Berichterstattung in Israel dominiert und das in unseren Medien nur am Rande diskutiert wird. Sie muss sich der hier entstehenden moralischen Dilemmata auch für die eigene Positionierung stellen. Sie muss sich angreifbar und verletzlich machen und angesichts des Schreckens des Terrors für Israel das Vermissen Gottes zur Sprache bringen und Gottes Treue zu seinem Volk betend und handelnd einfordern. Jüdinnen und Juden brauchen gerade jetzt unsere Zivilcourage im Einsatz für das Existenzrecht Israels und sein Recht zur Geiselbefreiung, aber auch unsere kritische Hinterfragung antisemitischer Tendenzen in unserer eigenen Tradition. Leider herrscht auch in Deutschland immer noch ein Missverhältnis zwischen der Existenzangst in den jüdischen Gemeinden und der stillen Nachdenklichkeit im bürgerlichen Leben unserer Gesellschaft.
Aufgabe christlicher Theologie: angesichts des Schreckens des Terrors für Israel das Vermissen Gottes zur Sprache bringen und Gottes Treue zu seinem Volk betend und handelnd einfordern.
Zugleich darf dies aber nicht bedeuten, dass man sich die politischen Ziele der Regierung Netanjahu zu Eigen macht. Nüchtern betrachtet ist die Erfindung des Kriegs gegen den Terror, die George W. Bush als Antwort auf den 11. September auf den Weg gebracht hat, alles andere als eine Erfolgsgeschichte. Es wäre daher an der Zeit zu überlegen, wie Terror überwunden werden kann. Man wird dann sehr schnell sehen, dass zivile Opfer an dieser Stelle nicht weiterhelfen, sondern dass sie gerade die polarisierende Wirkung des Terrors verstärken. Von daher wäre die Regierung Netanjahu gut beraten, wenn sie sich in ihrer legitimen Selbstverteidigung sichtbar und unzweideutig an das humanitäre Völkerrecht hält, um dem Kampf der Hamas gegen die Humanität wirksam entgegentreten zu können.
Den Polarisierungsversuchen der Terroristen eine vernetzte Theologie entgegensetzen!
Zudem wäre es wichtig, auch muslimische Menschen in unserer Gesellschaft mit ihren Existenzängsten wahrzunehmen. Insgesamt dürfte die Etablierung islamischer (und eben auch jüdischer) Theologie an den Universitäten in Deutschland eine der klügsten Antworten westlicher Politik auf den Terror gewesen sein, weil sich dadurch jüdische und muslimische Menschen aus den Ressourcen ihrer spirituellen Traditionen heraus in unsere Gesellschaft einbringen können. Jetzt ist es Zeit, dass christliche Theologien sich intensiver mit diesen Theologien beschäftigen und vernetzen und so den Polarisierungsversuchen der Terroristen eine vernetzte Theologie entgegensetzen. Es ist Zeit, dass diese vernetzten Theologien die Religionsgemeinschaften inspirieren, wirkmächtige Zeichen der Verbundenheit zu setzen, die zeigen, dass religiöse Menschen die Leiden der je anderen an sich herankommen lassen und sich von ihnen zu denken geben lassen. Es ist Zeit, dass wir lernen auch betend und über Religionsgrenzen hinweg um den Frieden zu ringen und unseren Schrecken mit Gott zusammenzubringen.
Klaus von Stosch ist Schlegel-Professor für „Systematische Theologie unter besonderer Berücksichtigung gesellschaftlicher Herausforderungen“ an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn und ebenda auch Vorsitzender des International Center for Comparative Theology and Social Issues.
Beitragsbild: chuttersnap, unsplash.com