Zum 4. Advent – mit einem Ausblick auf Weihnachten. Von Franziska Loretan-Saladin
I
Es war an einem Samstag Anfang Advent. Ich sass im Zug stadtauswärts. Es regnete und der Morgen lag noch im Dunkeln. Doch schon lärmte von einer Baustelle am Rande der Stadt der Presslufthammer.
In dieser frühen Morgenstunde, auch am Wochenende, waren Arbeiter daran, den steilen Hang oberhalb der Strasse zu stabilisieren. Welch mühselige Arbeit zu dieser Zeit und bei diesem Wetter, ging es mir durch den Kopf.
Licht in das Dunkel der Welt
An den Häusern sah ich Lichterketten und Sterne leuchten.
Vielleicht möchten die Menschen auf diese Weise Licht in das Dunkel der Welt bringen. Damit es für alle etwas heller und wärmer werde.
II
Im Buch des Propheten Jesaja lese ich von Zukunftsvisionen für Israel und alle Völker. Zum Beispiel diese:
Gott der Heere wird auf diesem Berg
für alle Völker ein Festmahl geben mit den feinsten Speisen; mit erlesenen, reinen Weinen.
Er zerreisst auf diesem Berg den Schleier, der alle Nationen verhüllt,
und die Decke, die alle Völker bedeckt.
Er beseitigt den Tod für immer.
Gott, der Ewige, wischt die Tränen ab von jedem Gesicht.
Auf der ganzen Erde nimmt er von seinem Volk die Schande hinweg.
Ja, Gott hat gesprochen. (Jes 25, 6-8)
Es ist nicht gleichgültig, ob ich mich nach gutem Leben für alle sehne oder nur nach meinem privaten Glück.
Dass ich es gut habe, während so viele unter Trauer, Hunger und Tod leiden, löste in mir schon als Kind eine schmerzliche Spannung aus. Bis heute kann ich dieser nicht entfliehen. Eine Sprache dafür finde ich zum Beispiel bei Jesaja.
Für die aus Israel Vertriebenen kehrt er die Spannung um. Die jetzt in Mühsal leben, sollen hoffen können. Für jene, die sich im Exil unter Fremden durchschlagen und gottverlassen fühlen, spricht Jesaja von einer Zukunft ohne Tränen. Dazu gehört unter anderem ein festliches Gastmahl. So erlesen und fein wird es sein, dass einem schon bei der Vorstellung davon das Wasser im Munde zusammenläuft.
Die Tränen werden von jedem Gesicht abgewischt.
Alle sind eingeladen zu diesem Fest auf dem Berg, auf dem Gott wohnt. Freudig sollen die Geladenen kommen. Denn zerrissen wird der Trauerschleier über den Völkern, beseitigt der Tod, und die Tränen werden von jedem Gesicht abgewischt.
Die Spannung bleibt gross: zwischen hier und dort, zwischen jetzt und dann.
III
Die Visionen der Propheten sind mehr als fromme Wünsche. Sie helfen heute zu überleben.
Wie mich die Nachrichten vom Elend in der Welt nicht zur Ruhe kommen lassen, locken die hoffnungsvollen Bilder, andere Möglichkeiten im Blick zu behalten.
Die Möglichkeitsform
Für Dichterinnen und Dichter gehört die Möglichkeitsform, der Konjunktiv unverzichtbar zu ihrem Schreiben. Ingeborg Bachmann begründet dies so:
Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten. Dass wir es erzeugen, dieses Spannungsverhältnis, an dem wir wachsen, darauf, meine ich, kommt es an; dass wir uns orientieren an einem Ziel, das freilich, wenn wir uns nähern, sich noch einmal entfernt.[1]
Der Advent lenkt den Blick auf die Zukunft. Die adventliche Nüchternheit steht mit beiden Beinen auf dem Boden und ist ausgerichtet auf das Kommende, auf das Mögliche. Im Advent trägt die Gegenwart noch deutlicher Gottes Zukunft schon in sich. Oder wie Christian Bauer schreibt: Wir können «so leben, als ob eine andere Welt möglich wäre».
Leben als ob… Das klingt paradox. «Ästhetisch gewendet», so Christian Bauer weiter, könnte es heissen: «Feiern, als ob man an einem schönen Ort wäre. Und politisch: Sich engagieren, als ob man durch seinen Einsatz die ganze Welt verändern könnte.»[2]
Als ob Gottes Gerechtigkeit zum Greifen nahe wäre.
Paradox ist auch, was die Engel zur Geburt Jesu singen, wenn sie dem Hirtenvolk am Rand von Bethlehem ein Wickelkind in einer Futterkrippe als Retter der Welt und Friedensboten verkünden. Die Hirten und Hirtinnen liessen sich davon bewegen: «So eilten sie hin und fanden…», erzählt die Weihnachtsgeschichte nach Lukas.
Auch wenn ich nicht immer so leichtfüssig vorankomme, als ob der Himmel und Gottes Gerechtigkeit schon zum Greifen nahe wären, locken mich die biblischen Visionen stets neu auf diese Zukunft hin.
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Franziska Loretan-Saladin, Dr. theol., ist Lehrbeauftragte für Homiletik an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern und Mitglied der feinschwarz.net-Redaktion.
Foto: Franziska Loretan-Saladin
[1] Ingeborg Bachmann, Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden, in: Ingeborg Bachmann, Werke, hrsg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster, Band 4, München 51993, 275-277, 276.
[2] Christian Bauer, Christliche Zeitgenossenschaft? Pastoraltheologie in den Abenteuern der späten Moderne, in: IJPT 2016; 20(1): 4–25, 10.