Der jüdisch-katholische Dialog erlebt 50 Jahre nach Nostra Aetate einen Schub durch zwei Dokumente, die fast zeitgleich erscheinen: eines von orthodoxen Rabbinern unterzeichnet, das andere heute, am 10. Dezember, in Rom. Der Jesuit Christian M. Rutishauser (Zürich), Provinzial der Schweizer Jesuitenprovinz (2012-2021) und Experte im christlich-jüdischen Dialog, analysiert diese beiden Texte.
Zum 50-Jahr-Jubiläum von Nostra aetate veröffentlicht nicht nur die vatikanische Kommission für die religiöse Beziehung zum Judentum ein neues, theologisch gewichtiges Dokument. Zum ersten Mal nimmt auch eine Gruppe von orthodoxen Rabbinern aus Israel, Europa und Nordamerika zum Dialog und zum Christentum mit einer eigenen Erklärung pointiert Stellung. Darunter sind namhafte Persönlichkeiten und Gelehrte, wie zum Beispiel Rabbiner David Rosen, der seit Jahrzehnten den Dialog mit dem Vatikan von jüdischer Seite her prägt. Da er bei der Präsentation des vatikanischen Dokuments auch anwesend war, darf davon ausgegangen werden, dass das jüdische Papier am 3. Dezember 2015 bewusst eine Woche vor dem vatikanischen Dokument veröffentlich wurde.
Die Kirche stünde ohne ihre jüdischen Wurzeln in der Gefahr, ihre heilsgeschichtliche Verankerung zu verlieren und erläge damit einer letztlich unhistorischen Gnosis.
Das 49 Artikel starke Dokument aus dem Vatikan ist von Kardinal Kurt Koch unterzeichnet. Es eröffnet mit einem Kapitel, das die positive und wertschätzende Neuausrichtung der Kirche gegenüber dem Judentum seit dem Konzil nachzeichnet. Dabei werden die zahlreichen Dokumente und Akteure des Dialogs der letzten 50 Jahre in Erinnerung gerufen. Nostra aetate Nr. 4 habe sich als «solides Fundament» für die jüdisch-katholischen Beziehungen herausgestellt und im Verlaufe der Jahre wären aus «verlässlichen Partnern» sogar «gute Freunde» geworden, die auch Konflikte positiv austragen konnten. (Nr. 2) Zu solchen Auseinandersetzung führte zum Beispiel die Neuformulierung der Karfreitagsfürbitte für den ausserordentlichen tridentinischen Ritus durch Papst Benedikt 2009. Allen Beteuerungen von Kardinal Kasper zum Trotz wurde damals diese Fürbitte auf jüdischer Seite auch als Bitte um eine traditionelle Bekehrung der Juden zum Christusglauben verstanden. Noch in diesem Sommer hatte Dr. Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, öffentlich gefordert, die Kirche hätte diese Fürbitte zurückzunehmen. Auch der Prozess der Seligsprechung von Papst Pius XII., dessen Rolle in der Zeit der Schoa umstritten bleibt, sorgt zum Beispiel immer wieder für Irritationen in der katholisch-jüdischen Beziehung. Doch ob all dieser kleineren oder grösseren Streitpunkte betont das vatikanische Dokument, «dass Christen und Juden unwiderruflich aufeinander angewiesen sind… Die Kirche stünde ohne ihre jüdischen Wurzeln in der Gefahr, ihre heilsgeschichtliche Verankerung zu verlieren und erläge damit einer letztlich unhistorischen Gnosis.» (Nr. 13)
Während also gewisse religiöse Gruppen im Namen Gottes Andersglaubende angreifen und sogar terrorisieren, wird hier der Wille Gottes darin gesehen, als Opfer den Tätern von einst zu vergeben.
Dass die röm.-kath. Kirche die anti-judaistischen Vorwürfe aus der Geschichte zurückgewiesen und seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu einem echten Dialog gefunden hat, unterstreicht auch die Erklärung der 25 orthodoxen Rabbiner explizit. Die offene Hand der Kirche zum partnerschaftlichen Unterwegssein sei ernst gemeint. Diesen Handschlag wollten sie annehmen, heisst es in der Eröffnungspassage des Textes, der den Titel trägt To do the Will of our Father in Heaven. Während also gewisse religiöse Gruppen im Namen Gottes Andersglaubende angreifen und sogar terrorisieren, wird hier der Wille Gottes darin gesehen, als Opfer den Tätern von einst zu vergeben. Dies ist ein starkes Zeichen der Versöhnung. Die kontinuierliche Dialogarbeit der Kirche von einem halben Jahrhundert als «Reinigung des Gewissens» und Weg der Umkehr, zu dem auch die Bitte um Vergebung gehört, die Johannes Paul II. 1998 in Wir erinnern formuliert und beim Bussgottesdienst im Petersdom zum Millennium und als Gebet an der Klagemauer in Jerusalem gesprochen hat, findet hier also eine gewisse Erhörung.
Bereits im Jahr 2000 hatte eine grosse Gruppe von Rabbinern und Gelehrten aus dem konservativen und Reformjudentum – es waren nur wenige Orthodoxe dabei – mit ihrem Statement Dabru emet in der New York Times gefordert, dass Juden die neue Theologie des Judentums der röm.-kath. Kirche zu Kenntnis nehmen und würdigen sollten. Dabru emet formulierte in acht Punkten auch ein neues Verhältnis von Juden und Christen, stiess dabei in jüdischen Kreisen jedoch auf grosse Kritik. Die Orthodox Union bezeichnete den Text als «mit zu grossen Gefahren» behaftet und als «zu relativistisch», wird doch davon gesprochen, dass Juden und Christen denselben Gott anbeteten (Nr. 1), was angesichts des Trinitätsglaubens für Juden nicht ohne weiteres akzeptierbar ist. To do the Will aus orthodoxer Feder kann in einigen Punkten jedoch sogar weiter gehen als Dabru emet, weil es dezidiert aus jüdischer Perspektive geschrieben ist und nicht den Konsens mit Christen sucht: Die grossen Autoritäten aus dem Mittelalter, Moses Maimonides und Jehuda Halevi, wie auch Rabbiner der Neuzeit werden zitiert, die im Christentum eine monotheistische Religion sehen, die Nicht-Juden zum Gott Israel geführt habe. (Nr. 3)
Wir Juden und Christen haben viel mehr gemeinsam, als was uns trennt.
Damit wird die Aneignung der Hebräischen Bibel durch Christen nicht mehr als Usurpation eingestuft. Auch wird unterstrichen, dass Christen nicht zu Götzenverehrern gerechnet werden könnten, wie dies in der rabbinischen Tradition immer wieder geschehen ist: «Wir Juden und Christen haben viel mehr gemeinsam, als was uns trennt: den ethischen Monotheismus Abrahams; die Beziehung zum Einen Schöpfer des Himmels und der Erde, der liebt und für uns alle sorgt; die jüdischen Heiligen Schrift; der Glaube an eine verbindliche Tradition; die Werte des Lebens, der Familie, mitfühlender Rechtschaffenheit, der Gerechtigkeit, unveräußerlicher Freiheit, universeller Liebe und des letztendlichen Weltfriedens. Rabbi Moses Rivkis (Be’er Hagoleh) bestätigt dies und schrieb, dass „die Weisen nur auf die Götzendiener ihrer Tage Bezug nahmen, die nicht an die Schöpfung der Welt glaubten, den Exodus, an Gottes Wundertaten und an das von Gott gegebene Gesetz. Im Gegensatz dazu glauben die Menschen, unter die wir verstreut sind, an all diese Grundfakten der Religion.“» (Nr.5) Vielmehr wird betont, dass Juden und Christen je in einem Bund mit Gott stehen und gemeinsam eine Sendung in der Welt hätten: «Nun, da die katholische Kirche den ewigen Bund zwischen Gott und Israel anerkennt, können wir Juden die bestätigte konstruktive Gültigkeit des Christentums als Partner in der Welterlösung anerkennen, ohne jede Angst, dass dies für missionarische Zwecke genutzt werden würde.» (Nr. 3) Selbstverständlich anerkennen orthodoxe Rabbiner nicht den Bund des Neuen Testaments, gestiftet durch Jesus Christus. Auch wird im ganzen Dokument kein Wort über Jesus von Nazareth gesagt. Aus rabbinischer Perspektive wird aber – so ist zu schliessen – anerkannt, dass Christen zum noachidischen Bund gehören. Die ethischen Forderungen des noachidischen Bundes werden eigens betont (Nr. 6) und dazu gehört auch der Glaube an den einen Gott. Damit wird diejenige rabbinische Theologie zurückgewiesen, die Christen wegen des Trinitätsglaubens zu Götzendienern erklärt. Das Dokument schafft mit den Kategorien der eigenen Tradition eine Wertschätzung des Christentums und macht überhaupt einen Dialog aus orthodoxer Perspektive erst möglich. Ziel und Fokus der jüdisch-christlichen Zusammenarbeit bleibt das ethische Handeln: «Juden und Christen müssen als Partner zusammenarbeiten, um die moralischen Herausforderungen unserer Zeit ansprechen zu können.“ (Einleitung)
Vielmehr geht es auch aus christlicher Sicht darum, den eigenen Glauben so zu formulieren, dass der Andere wertgeschätzt und in seiner unverwechselbaren Berufung anerkannt wird.
Wie im rabbinisch orthodoxen Papier, geht es auch im vatikanischen Dokument nicht darum, einen Konsens über die Gesamtdeutung von Judentum und Christentum zu finden. Wer als Christ meint, ein Jude müsste dem vatikanischen Dokument inhaltlich in der Gesamtschau zustimmen, trägt eine falsche Erwartung an den Text heran. Vielmehr geht es auch aus christlicher Sicht darum, den eigenen Glauben so zu formulieren, dass der Andere wertgeschätzt und in seiner unverwechselbaren Berufung anerkannt wird. Das Suchen nach Gemeinsamkeiten kann nur einzelne Elemente betreffen, wie sie gerade zitiert wurden, und in der Ethik sowie einigen Grundelementen liegen.
Das vatikanische Dokument hat zum Ziel, «Reflexionen zu theologischen Fragestellungen in den katholisch-jüdischen Beziehungen» zu geben, wie es im Untertitel heisst. Es geht um Klärungen in christlichen Glaubensfragen angesichts des Judentums, damit der Glaube seine Kohärenz und Logik behält. Diese Fragen gehen aus der Sonderbeziehung hervor, die die Kirche mit dem Judentum hat, die in Kapitel 2 skizziert wird. Die Paragraphen zeichnen gemäss den aktuellsten wissenschaftlichen Einsichten die historische Entwicklung dessen nach, was heute «Das Auseinandergehen der Wege» genannt wird, also die Entstehung von Kirche und Synagoge als zwei legitime und je unterschiedliche Neudeutungen der biblischen Offenbarungsgeschichte; Christusereignis und Tempelzerstörung forderten neue Selbstvergewisserungen. Das vatikanische Dokument betont, dass sich die sogenannte Substitutionslehre, gemäss der die Kirche als «verus Israel» das Judentum als erwähltes Volk abgelöst hätte, seit der Patristik entwickelt habe und durch Interpretationen des Hebräerbriefs immer wieder genährt wurde, heute von der Kirche jedoch nicht mehr vertreten werde. «Mit… Nostra aetate Nr. 4 bekennt sich die Kirche eindeutig in einem neuen theologischen Rahmen zu den jüdischen Wurzeln des Christentums.» (Nr. 17) Kapitel 2 schliesst religionstheologisch, indem es den Abschnitt zum Judentum als «Herzstück» von Nostra aetate bezeichnet und dann fortfährt: «Das Verhältnis zum Judentum kann in dieser Hinsicht als Katalysator zur Verhältnisbestimmung zu den anderen Weltreligionen betrachtet werden. Aus theologischer Sicht jedoch hat der Dialog mit dem Judentum einen völlig anderen Charakter und liegt im Vergleich mit anderen Weltreligionen auf einer andere Ebene.» (Nr.19f)
Die Selbstbegrenzung der Erkenntnis durch die Vernunft steht einem theologischen Schreiben gut an.
Die Kapitel 3 bis 6 befassen sich nun mit vier besonderen theologischen Fragestellungen, die alle das Verhältnis von Judentum und Christentum betreffen, wie sie sich aus der Perspektive der Christen ergeben. Zunächst geht es um die Offenbarung in Geschichte und in den Heiligen Schriften. Tora und christliche Bibel wie auch das jüdische Volk und die Kirche als «neues Volk Gottes» werden je positiv gewürdigt und in den Bezug zueinander gesetzt. Die Einheit von AT und NT, die in der alten Kirche von Markion wie auch in der Moderne im Luthertum – kürzlich im von Prof. Slenzka in Berlin ausgelösten Streit – immer mal wieder angezweifelt wird, unterstreicht der Text unmissverständlich. (Nr. 28) Rabbinische und christliche Exegese würden zudem eine «reiche Komplementarität» ergeben, wird Papst Franziskus zitiert. (Nr. 31) Christen könnten Jesus Christus als «lebendige Thora» sehen, so wie das Matthäusevangelium ihn auch als «neuen Mose» zeichnete. (Nr. 26) Die seit Papst Johannes Paul II. vorgetragene Lehre vom «ungekündigten Bund» zwischen Gott und Israel wird mit dem Bund in Christus und auch mit dem Abrahambund in Verbindung gesetzt, der für den jüdisch-christlichen Dialog besonders wichtig sei, weil er beide Traditionen verbindet. (Nr. 33) Judentum und Christentum haben je ihre positive Bedeutung. Dass damit aber «zwei Heilswege» nebeneinander bestehen würden, einer mit Christus und einer ohne Christus, wird explizit und wiederholt abgelehnt. (Nr. 25; 35; 37) Wie schon Abrahams Berufung ein Segen für alle Völker sei, so sei auch Christi Heilswerk universal. Wie diese Heilsuniversalität mit dem «ungekündigten Bund» Gottes mit Israel zusammenzuschauen ist, ist der eigentlich theologische Fokus des ganzen Dokuments. Es umschreibt in verschiedenen Durchgängen, wie Kirche und Synagoge zueinander in Beziehung stehen und folgt schliesslich Paulus, der bei aller Zuordnung, die er in Röm 9-11 vornimmt, letztlich von einem göttlichen Geheimnis spricht: «Dass die Juden Anteil an Gottes Heil haben, steht theologisch ausser Frage, doch wie dies ohne explizites Christusbekenntnis möglich sein kann, ist und bleibt ein abgrundtiefes Geheimnis Gottes.» (Nr. 36) Die Selbstbegrenzung der Erkenntnis durch die Vernunft steht einem theologischen Schreiben gut an.
Die sensibelste Frage, die sich aus dem christlichen Wahrheitsanspruch angesichts des «ungekündigten Bundes» von Gott mit Israel ergibt, ist die Frage nach der Mission unter Juden.
Die sensibelste Frage, die sich aus dem christlichen Wahrheitsanspruch angesichts des «ungekündigten Bundes» von Gott mit Israel ergibt, ist die Frage nach der Mission unter Juden. Durch die ganze Geschichte ziehen sich unwürdige Zwangsbekehrungen. Theologisch betonen die Einen, Jesus sei gerade der jüdische Messias, während die Anderen vom «Heidenheiland» sprechen. Auch in den letzten Jahrzehnten hat die Frage der Judenmission unter katholischen Theologen in den USA wie auch in Deutschland zu heftigen Auseinandersetzungen geführt. Da erst das Nein der Juden zu Jesus als Messias zur Christusbewegung und Kirche unter den Nicht-Juden führte, ist dieses Nein vom «Gesprächkreis Juden und Christen» beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken in einem Papier von 2009 auch positiv gedeutet und durch die Argumentation im Römerbrief untermauert worden. Jüdischerseits wird der Verzicht auf Judenmission oft als wichtigste Vorbedingung für den Dialog mit der Kirche genannt. Im Kapitel 6 stellt sich das vatikanische Dokument dieser Frage, leitet die Sendung der Kirche von der Sendung Jesu Christi in die Welt und zu allen Menschen ab und formuliert: «Die Kirche ist von daher verpflichtet, ihren Evangelisierungsauftrag gegenüber Juden, die an den einen und einzigen Gott glauben, in einer anderen Weise als gegen über Menschen anderer Religionen und weltanschaulichen Überzeugungen zu sehen.» (Nr. 40) Dies bedeutet, so im Folgenden, dass die Kirche «keine spezifische institutionelle Missionsarbeit, die auf Juden gerichtet ist, kennt und unterstützt», doch Christus müsse überall bezeugt werden. Dieses Zeugnis wird mit den Selbstvollzügen der Kirche beschrieben als Verkünden, liturgisches Feiern und karitatives Handeln, stets mit Verzicht auf jede Gewaltausübung. (Nr. 42) Im folgenden Paragraphen wird dann auf die Kirche hingewiesen, die sich seit Anbeginn aus Nicht-Juden und Juden zusammengesetzt hat. Zum ersten Mal scheinen damit in einem Dialogdokument der Kirche überhaupt die sogenannten Judenchristen als Grösse auf. Ein Minenfeld wird angesprochen. Viel Gesprächsbedarf wird sich also gerade aus diesen Passagen des sorgfältig theologisch gearbeiteten Dokuments geben.
Das Dokument schliesst mit einem Kapitel über die Ziele des Dialogs, wie sie sich von jüdischer und christlicher Seite in einem grossen Konsens der letzten Jahre herauskristallisiert haben: Gemeinsames Engagement in ethischen, ökologischen und sozial-karitativen Anliegen und Bekämpfung jedes Antisemitismus und Rassismus. Die Katholiken sollen zudem immer mehr das Judentum kennenlernen.
Man mutet sich gegenseitig zu. Dies ist ein Zeichen, dass die Beziehung solide geworden ist.
Das vatikanische Dokument, das den Titel „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt (Röm 11,29)“ trägt, ist ein Bekenntnis zum ungekündigten Bund Gottes mit Israel. Dabei werden nicht nur die für den Dialog lieb gewordenen Stellen aus der Bibel, sondern auch sperrige wie der Hebräer- oder der Epheserbrief einbezogen. Das Konzept einer doppelten Kirche, aus Juden und Heiden, wofür sich die hebräischen Katholiken seit Daniel Rufeisen in Israel einsetzen, wird ganz neu ins Spiel gebracht. Die rabbinische Erklärung To do the Will wiederum greift ebenso auf Konzepte aus der Tradition zurück, wie sie seit der Katastrophe der Schoa kaum mehr verwendet worden sind. Der jüdisch-katholische Dialog scheint mit beiden Texten in eine neue Phase einzutreten, die über die Schoa dominierte Pionierphase hinausgeht. Man mutet sich gegenseitig zu. Dies ist ein Zeichen, dass die Beziehung solide geworden ist. Wohltuend ist auch, dass nicht um Konsens gesucht wird. Der jüdisch-christliche Dialog führt, wie beide Texte zeigen, gerade nicht zur Verwässerung der je eigenen Glaubensposition. Im Gegenteil. Eine echte Vertiefung wird erst erreicht, indem das Eigene bewusst mit dem Anderen in Beziehung gesetzt wird, in An- und in Abgrenzung, im Mut zur Differenz mit grossen Respekt vor der Sicht des Andern. In Zeiten der wieder stärker werdenden religiösen Abgrenzung vieler Glaubensgemeinschaften – von fundamentalistischer und konfrontativer Selbstbehauptung ganz abgesehen – , ist diese aus dem Dialog gewachsene Glaubensvertiefung bemerkenswert. Dabei werden auch die schwierigsten Fragen angesprochen, die alle Interessierte in herausfordernde Diskussionen führen werden. Dass der Dialog relevant bleibt und in einer neuen Phase das gemeinsame Ringen um Glaubensüberzeugungen weitergeführt wird, ist nach diesen beiden Dokumenten nur zu hoffen.
Beitragsbild: https://www.nostra-aetate.uni-bonn.de/theologie-des-dialogs/menschwerdung-des-sohnes-gottes-als-judewerdung