Am 12. und 13. Dezember 2015 fand – initiiert von der Deutschen Botschaft beim Heiligen Stuhl – an der Gregoriana in Rom die Internationale Tagung „Aggiornamento damals und heute“ statt. feinschwarz.net dokumentiert Auszüge des Beitrags von Elmar Klinger.
Der Kampf um das Zweite Vatikanum beginnt auf dem Zweiten Vatikanum. Er betrifft den zeitlichen Ablauf, die Geschäftsordnung, den institutionellen Rahmen, das Recht auf eigene Initiativen, das Thema selber. Man hatte es erst noch zu finden.
Der Kampf um das Zweite Vatikanum beginnt auf dem Zweiten Vatikanum.
Das Konzil entwickelt einen eigenen Standpunkt in Leben und Lehre. Es macht eigene dogmatische Aussagen. Sie haben die zentralen Inhalte des katholischen Glaubens zum Gegenstand, nämlich die Offenbarung selbst in Schrift und Tradition, die ganze Kirche – das Volk Gottes in Christus – sowie das Bekenntnis zum Menschen in der Pastoral, das Aggiornamento ihrer anthropologischen und soziologischen Schwerpunktsetzung.
Das Konzil musste seine dogmatische Linie erst finden. Aber es hat sie gefunden. Wie es sie fand, lässt sich literarisch überprüfbar feststellen – anhand der Dokumente, die es verabschiedet hat. Sie machen seinen eigenen Standpunkt greifbar – er wurde auf ihm neu entwickelt – , zeigen, dass er die Basis der Umgestaltung vorgegebener Texte war, die auch deren Korrektur beinhalten, und lassen dadurch erkennen: Es besitzt Eigenständigkeit, man kann und muss alles, was es sagt, von ihm selber her verstehen.
….man kann und muss alles, was es sagt, vom II. Vatikanum selber her verstehen.
Dies zu tun, ist wichtig, um zu erfassen, dass es Authentizität besitzt und etwas verkörpert, das man in der Theologie auch signifikant benennen kann: Es ist ein dogmatischer Fortschritt, ein „Sprung nach vorn“ in Lehre und Leben, wie ihn Johannes XXIII. in der Eröffnungsrede gefordert hat, ein Standpunkt des Glaubens, der in der Tradition seiner Überlieferung steht, der aber zugleich diese Überlieferung erschließt und unverzichtbar ist, um sie hier und heute fruchtbar zu machen und sie authentisch zu vertreten.
Diese Veranstaltung fragt nach dem „Aggiornamento gestern und heute“: Was unterscheidet gestern und heute? Meine Antwort lautet: das Zweite Vatikanum. Es macht die Gegenwart, das Heute, zum Thema und ist der ausgewiesene Ort in der Kirche, ihr dogmatisch relevanter Ort, die Vergangenheit, das Gestern, von der Gegenwart, dem Heute, zu unterscheiden. Der Fortschritt des Konzils ist dogmatischer Natur. Er liegt in seiner Lehre von der Offenbarung selbst, seiner Lehre von der ganzen Kirche sowie dem Glauben an die Berufung des Menschen durch Gott.
Was unterscheidet gestern und heute? Das Zweite Vatikanum.
Man kann und muss das Konzil von ihm selber her verstehen, denn es ist ein Maßstab für die Kirche insgesamt. Ein Schlüssel zu diesem Verständnis des Zweiten Vatikanum liegt in der ersten Umsetzung vor, die auf ihm selber stattgefunden hat, nämlich im Katakombenpakt. Ihn haben 40 Bischöfe am 16. November 1965 in den Domitilla-Katakomben hier in Rom unterzeichnet. 500 weitere schlossen sich ihm später an. Er ist eine Selbstverpflichtung der Unterzeichner zu einem Leben in Armut für eine Kirche der Armen im Geist und aus der Kraft des Evangeliums. Es geht somit um die Offenbarung selbst, das Evangelium, die Kirche insgesamt, das ganze Volk Gottes, und die Berufung dieser Bischöfe zum Dienst in dieser Kirche – daher ihre Selbstverpflichtung.(….)
Der Ernstfall der Umsetzung des II. Vatikanum sind für die Vertreter des Katakombenpaktes die Armen. Die Tradition des Lehramts macht sie in einem sozialen und politischen, nicht in einem dogmatischen Sinn zum Thema. Das Konzil jedoch nennt sie ein Zeichen der Zeit und ist damit selbst herausgefordert, nämlich in seinem „Bekenntnis zur hohen Berufung des Menschen, eine brüderliche Gemeinschaft aller zu errichten, die dieser Berufung entspricht.“ (GS 3) Kann man den Glauben heute so verkünden, als wenn es die Armen gar nicht gäbe? Nimmt man sie und ihre Lage ernst, hat der Glaube ihnen dann überhaupt etwas zu sagen oder ist er nur ein Überbau, mit dem man die Probleme vertuscht, aber nicht erfasst und schon gar nicht löst?
Der Ernstfall der Umsetzung des II. Vatikanum sind für die Vertreter des Katakombenpaktes die Armen.
Die Grundlage der Umsetzung des Zweiten Vatikanum ist das Zweite Vatikanum. Es hat das Verhältnis zum Menschen, an den sie sich wendet, so bestimmt, dass es die Lehre über ihn von ihm selber her verstehen kann. Es ist ein Programm von Aussagen über die Kirche dieser Menschen. Wer es daher programmatisch umsetzen will – und nicht nur punktuell –, ist auf das Konzil direkt verwiesen. Er muss es von ihm selber her verstehen. Daher die Schlüsselfunktion des Katakombenpakts. Die Bischöfe, die ihn unterzeichnen, sind Mitglieder des Konzils und bringen es mit ihrer Verpflichtung auf die Pastoral der Armen programmatisch zur Geltung. Sie und die Armen sind darin mit Jesus verbunden, der für beide steht und beide umfasst.
Es gibt somit eine objektive Hermeneutik des Konzils in seiner Umsetzung. Sie versteht es nicht von der Tradition her, zu der es gehört, sondern diese Tradition von ihm selber her, um sie in der Gegenwart zu verankern. Sie zeigt, man muss sie nicht aus Anhänglichkeit zur Tradition vertreten – schon gar nicht traditionalistisch –, sondern um der Sache willen, die sie überliefert, weil sie höchste Aktualität in der Situation des Lebens der Menschheit heute besitzt.
Das Konzil ermöglicht den Katakombenpakt. Er wird von ihm getragen und geht auch von ihm aus. Aber er ist zugleich der Schlüssel zu seiner authentischen Umsetzung. Denn er nimmt seine Eckdaten zur Kenntnis und geht an ihnen nicht vorbei, nämlich an der Offenbarung selbst, dem Evangelium Jesu Christi, an der Kirche, dem Volk Gottes, der pastoralen Aufgabe, den Zeichen der Zeit. Er verweist mit seiner anthropologischen und soziologischen Schwerpunktsetzung auf den Dienst der Kirche an Freiheit und Befreiung aller Menschen.
Die soziale Frage stellt sich im Bekenntnis zu Gott selber.
Es ist wichtig, das Konzil authentisch zu vertreten. Denn es hat die Aufgabe tatsächlich gelöst, vor die es Johannes XXIII. in der Eröffnungsrede stellt, nämlich ein Sprung nach vorn zu sein in der Gewissensbildung und im Glaubensbewusstsein. Die soziale Frage und das Bekenntnis zu Gott sind eng verbunden; denn wir Menschen sollen uns zueinander so verhalten, wie sich Gott zu uns verhält. (….)
Die Lehre von der Kirche ist von diesem dogmatischen Fortschritt ganz besonders betroffen. Sie hat integralen Charakter. Man darf sie weder auf die Institution noch auf ihre getauften Mitglieder beschränken. Sie ist nicht nur eine Kirche für die Menschen, sondern eine Kirche der Menschen, die für die Menschen da sind. Ihre Mitglieder insgesamt haben diesen Auftrag. Ihre Stellung wird durch die Ämter Christi definiert, seinem königlichen, priesterlichen und prophetischen Amt. Der Katakombenpakt zeigt einen Weg, ihr Verhältnis zueinander auf dieser Grundlage zu bestimmen. Die Kirche der Armen ist eine arme Kirche, die für die Armen steht.
Das Programm der Umsetzung dieses Projekts liegt auf dem Konzil in der Pastoralkonstitution vor. Sie bestimmt Pastoral dogmatisch neu. Sie besteht nicht mehr nur im Dienst der Priester an den Laien, sondern im Dienst der ganzen Kirche – also Priester und Laien zusammen – an allen Menschen. Dieses Handeln der Kirche macht sie zu dem, was sie ist, zum messianischen Volk unter den Völkern der Erde, in einer Gemeinschaft der Gottes- und Nächstenliebe, einer „unzerstörbaren Keimzelle der Einheit, der Hoffnung und des Heils“ (vgl. LG 9) für alle Menschen.
Pastoral besteht nicht mehr nur im Dienst der Priester an den Laien, sondern im Dienst der ganzen Kirche an allen Menschen.
Pastoral hat somit wechselseitigen Charakter. Die Kirche steht im Dienst von allen und wird dadurch zu dem, was sie immer schon ist – ein Ort der Verbundenheit aller mit allen in Gott und Christus und dem Heiligen Geist. Der Katakombenpakt geht diesen Weg. Die Armen, an die sich die Kirche wendet und für die sie einsteht, macht sie zu einer Kirche der Armen und lässt sie auch selbst eine arme Kirche sein. Der soziale Einsatz entfremdet sie nicht von sich, sondern bringt sie dem eigenen Glauben und seinem Bekenntnis näher. Sie ist immer das, was sie wird, und muss das, was sie wird, auch wirklich sein.
Der Katakombenpakt ist ein Basisdokument des Konzils. Er beinhaltet sein Programm und bildet zugleich den Schlüssel zur Umsetzung dieses Programms vor Ort unter Menschen, die zur Kirche gehören oder auch nicht zu ihr gehören. Er hat in seinem speziellen Charakter allgemeine Bedeutung. Er ist richtungsweisend. Man kann seine Tragweite gar nicht überschätzen. Er ist mit seiner Schwerpunktsetzung in der sozialen Frage ein missionarisches Projekt. Der Katakombenpakt ist ein Basisdokument des Konzils.
Der Katakombenpakt ist ein Basisdokument des Konzils.
Die Armut lässt er für die Kirche insgesamt zu einer ganzheitlichen Herausforderung werden. Sie muss ihr nicht nur politisch, sondern auch geistlich genügen. Er stellt sie vor eine dogmatische Aufgabe. Sie befähigt, das Evangelium in seiner ganzen Länge und Breite der Gegenwart offenbar zu machen und erschöpft sich daher nicht im sozialen Einsatz.
Theologen sind dafür unersetzlich. Sie stehen noch vor großen unerledigten Problemen. Zweites Vatikanum und Katakombenpakt aber sind das Programm von Papst Franziskus.
(Text: Elmar Klinger; Bild: angieconscious / pixelio.de)