Sakrales ereignet sich nach christlichem Verständnis wohl gerade dort, wo Höchstes und Tiefstes zusammenfinden. Wolfgang Beck entdeckt dies mithilfe einer bemerkenswerten Publikation zum Werk des Architekten Friedhelm Grundmann.
Wenn in der Betrachtung des Menschen Höchstes und Tiefstes, Heiliges und Abgründiges gemeinsam in den Blick kommen, wird es spannend. Theolog*innen beschreiben dies im Zentrum des christlichen Glaubens als einen „Heiligen Tausch“, in dem sich die Verbindung von Göttlichem und Menschlichem ausmachen lässt. Diese Dynamik findet ihre Fortsetzung in vielen kulturellen Feldern. In besonderer Weise konkretisiert sich die Verbindung von Höchstem und Tiefstem in den Arbeiten des Hamburger Architekten Friedhelm Grundmann (1925-2015). Sein architektonisches Werk ist durch zwei faszinierend konträre Schwerpunkte geprägt: dem Bau von U-Bahnstationen und dem Bau von Kirchen. Diese Konstellation kann zunächst grotesk erscheinen, entwickelt aber bei näherer Betrachtung eine große Faszination.
Der von Daniel Bartetzko, Karin Berkemann und Frank Schmitz herausgegebene Sammelband „Turm und Tunnel. Friedrich Grundmann baut für Kirche und U-Bahn“ bringt diese Faszination mit vielen Bildern der Architektur Grundmanns zum Ausdruck.
Mit Türmen und Tunneln,
mit Kirchen und U-Bahnen beschäftigt.
Zu Beginn wird klar: Wer sich mit Türmen und Tunneln, mit Kirchen und U-Bahnen beschäftigt, hat es mit Auf- und Abstiegen zu tun. So bietet ein Blick auf die Gestaltung von Treppen, Stufen und Geländern einen ersten Eindruck der Arbeiten. Grundmann ist ein Architekt, der auch die Details dieser Auf- und Abstiege bewusst gestaltet hat.
Dass dann die Theologin Karin Berkemann einen ersten Blick auf die Kirchengebäude Grundmanns wirft, die vor allem in den 1960er Jahren in einer Epoche des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufbruchs in Hamburg und dem ganzen norddeutschen Raum entstanden, ist ein Gewinn. So kommen nicht nur die Entwicklungen im Werk in den Blick, sondern auch die liebevollen und aussagekräftigen Details. Das gilt vor allem für den von Grundmann vielfach vorgesehenen und für den Dom von Greifswald auch eigens entworfenen Klappstuhl.
Der Klappstuhl als Symbol einer mündigen Gemeinde.
Mit dem Klappstuhl drückt sich die Vorstellung einer mündigen und synodal agierenden Gemeinde aus, die ihren Gottesdienstraum je neu nach Bedarf ausbildet. Was heute vermutlich vielen als ästhetische Panne oder als Provisorium erscheint, drückt nicht nur große Liebe zum Detail, sondern auch das Verständnis eines partizipativen kirchlichen Lebens aus. Er wirkt vor dem Hintergrund milieuverengter Kirchenästhetik des 21. Jahrhunderts wie ein Statement: Gerade weil der Klappstuhl auch im Frühstücksraum einer Werkshalle stehen könnte, verhindert er eine zu abgehobene Ästhetik des Sakralen. Funktionales und Sakrales geraten hier nicht in Widerspruch.
Aus dem „Behelfsgestühl“ wird ein kirchliches Statement gegen kirchenleitende Kontrolle und für eine basisdemokratische Kultur, mit der statische Ordnungen subversiv unterwandert werden können. Auch in die großen Kathedralen Norddeutschlands, wie Lübeck und Greifswald, konnten die Klappstühle im Zuge von liturgischen Neuordnungen und als „Bauen im Bestand“ einziehen. Aus dem „Behelfsgestühl“ der Nachkriegszeit wird nach und nach das Symbol eines demokratischen Gesellschaftsaufbruchs – mit Effekten auf das kirchliche Selbstverständnis. Grundmann ist dabei beeinflusst von seiner evangelischen Kirchenprägung, aber auch von der Liturgischen Bewegung in der katholischen Kirche und ihren architektonischen Protagonist*innen von Le Corbusier bis Rudolf Schwarz.
Viel Beton und asymmetrische Konzepte.
Konfessionsübergreifend prägt das gemeindetheologische Ideal der Vertrautheit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Kirchenverständnis. So sollen auch in der evangelischen Kirche Norddeutschlands viele „Kleinkirchen“ entstehen, die als Netzwerk ihrerseits einen dezentralen Gegenentwurf zu den großen Kathedralkirchen der Vergangenheit bildeten – und heute mit ihrer Baulast vielen Verantwortlichen in den Landeskirchen (und vergleichbar in den katholischen Diözesen) Sorgen bereiten.
Der Architekt Grundmann bemüht sich um markante Lichteffekte, arbeitet mit Beton und asymmetrischen Formen und versteht seine Kirchen als Schutzräume. Darin liegt eine wichtige Verbindung zu seinen U-Bahn-Stationen, die eben nicht nur dem Fortkommen dienen, sondern als Bunker häufig auch dem Schutz der Bevölkerung in der Mentalität des Kalten Kriegs. Der öffentliche Nahverkehr gilt als Inbegriff einer demokratischen Gesellschaft, wie Daniel Bartetzko zeigt, und er bewegt sich damit in großer Nähe zu Grundmanns Kirchenbauten.
Die besondere Bedeutung von Eingängen.
Wo U-Bahn-Stationen mit einer großen Kuppelkonstruktion überwölbt werden (Hamburg-Hohenfelde) oder große Kirchtürme den öffentlichen Raum eines Stadtteils prägen (Geesthacht), da werden sie nicht nur zu prägenden gesellschaftlichen Akzenten. Da bekommen gerade die gestalteten Eingänge besondere Bedeutung und lassen zusammen mit der „Auflösung von Raumgrenzen“ Kirchen zu „Schwellenräumen“ (Frank Schmitz) zwischen Gesellschaft und Sakralem werden.
Frühes Bemühen um Barrierefreiheit.
Die brutalistische Freude an Sichtbeton und Spannbeton-Gestaltungen prägen die von Grundmann und seinen Büro-Kollegen gestalteten Neubauten von Gemeindezentren in Reinbeck und Lübeck. Das Bemühen um Barrierefreiheit macht ihn dabei aus heutiger Sicht ebenso zum Visionär, wie sein Engagement für den Öffentlichen Personennahverkehr in einer Epoche auto-freundlicher Stadtplanung. Der Band zeichnet sich nicht nur durch großartige Fotos von Gregor Zoyzoyla und Detail-Betrachtungen der Architektur Grundmanns aus, sondern auch durch das Nachzeichnen seiner unterschiedlichen Werkepochen.
Friedhelm Grundmann hat nicht nur kooperative Arbeitsformen mit Kolleg*innen und Akteur*innen der Bildenden Kunst gesucht. Er hat sich auch in eigenen Publikationen in die fachlichen und öffentlichen Diskurse zur Rolle der Architektonischen Bewegungen in der Gegenwartsgesellschaft des 20. Jahrhunderts aktiv eingebracht (Matthias Ludwig). Auch wenn sich sein Werk überwiegend auf Norddeutschland begrenzt, zeigt die aktuelle Veröffentlichung die gesellschaftliche und kirchliche Tiefe, die sich an architektonischen Konzepten des 20. Jahrhunderts entdecken lässt. Sie zu würdigen und ihre Signaturen auch nach Jahrzehnten zu lesen, ist konfessionsübergreifend für eine Theologie, die sich von gesellschaftlichen Entwicklungen anfragen lässt und selbst öffentliche Bezüge sucht, ausgesprochen lohnend.
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Wolfgang Beck ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik an der PTH Sankt Georgen, Frankfurt/M. und Redaktionsmitglied von feinschwarz.net.
Foto: PTH Sankt Georgen
Literaturhinweis: Bartetzko, Daniel / Berkemann, Karin / Schmitz, Frank (Hg.): Turm und Tunnel. Friedhelm Grundmann baut für Kirche und U-Bahn, Dölling & Galitz Verlag, Hamburg 2022.
Titelbild: Gregor Zoyzoyla, 2019. Hamburg-Hohenfelde, U-Bahn-Haltestelle Lübecker Straße, Sandtmann–Grundmann, 1960/61.
Bild 2: Buch-Cover
Bild 3: Gregor Zoyzoyla 2022. Klappstuhl Dom Greifswald.
Bild 4: Gregor Zoyzoyla, 2022. Geesthacht, St. Petri, Aufgang zum Turm, Grundmann–Sandtmann, 1961–1963.
Autorenbild: Angelika Kamlage