Eine Fernsehdokumentation zu Papst Johannes Paul II. und seiner Beziehung zu einer Frau ruft irritierende Reaktionen hervor. Sie zeigen, unter welchen Hypotheken die katholische Beziehungsethik leidet. Moraltheologische Anmerkungen von Daniel Bogner.
Ein kurzes Flackern nur war das, letzte Tage. Die durch eine BBC-Dokumentation aufgekommene Nachricht, dass Papst Johannes Paul II. über mehr als drei Jahrzehnte eine intensive Beziehung zu einer Frau pflegte, ist dazu angetan, alte Reflexe wachzurufen: Reflexe aus einer Zeit, in der das Thema Zölibat noch eines der sogenannten „heißen Eisen“ der innerkatholischen Reformdebatten war.
Längst haben sich andere Fragen und Probleme in den Vordergrund geschoben seitdem – der Streit um neuen Atheismus und Säkularismus, Debatten zu Missbrauch, Laienrolle und Gendertheorie, christlich-muslimische Verständigung, die Frage nach der Zukunft des Christentums, ja, des Religiösen überhaupt. Sich angesichts solcher Herausforderungen noch dem Insider-Thema ‚Lebensform katholischer Priester’ zu widmen – ist das nicht ein bisschen sehr speziell? Um eine Menschenrechtsverletzung handelt es sich ja wohl nicht gerade. Dennoch: Das Thema hat es in sich. Es eignet sich, einige der Verdrehungen kenntlich zu machen, welche die kirchliche Beziehungs- und Sexualmoral markieren.
Wie kann man den Zölibat „brechen“?
Beinahe alle Medien, die über Papst Johannes Paul II. und Anna-Teresa Tymienicka, die amerikanisch-polnische Philosophin, mit der er befreundet war, berichteten betonten, es sei nicht davon auszugehen, dass der Papst „den priesterlichen Zölibat gebrochen“ habe. Wir dürfen fragen: Was heißt das eigentlich, den Zölibat „brechen“? Rasch wird deutlich: Die Matrix einer solchen Bewertung ist ein rein aktorientiertes, körperliches Verständnis des Ideals priesterlicher Ehelosigkeit. Solange die Beziehung zwischen Kirchenoberhaupt und Philosophin „rein platonisch“ stattgefunden hat, sei nichts zu beanstanden, so der suggerierende Unterton.
Auch die platonische Liebe kann eine exklusive Beziehung begründen.
Aber dürfen wir es uns wirklich so einfach machen? Jeder Spiritual eines Priesterseminares wird über die Verkürzung, die dieser beinahe schon biologistischen Vereinfachung des evangelischen Rates der Ehelosigkeit zugrunde liegt, auf die Barrikaden gehen. Gehört nicht zu diesem Ideal, auch insofern ein „eschatologisches Zeichen“ zu sein, als man sich unter bewusstem Verzicht auf eine wesentliche Dimension erfüllten Menschseins einen Freiheits- und Gestaltungsraum für die eigene priesterliche Berufung offen hält? Körperliche Begegnung ist eine Dimension der Bindung an einen anderen Menschen, eine hervorragend geeignete Weise, der Verbindlichkeit einer solchen Verpflichtung Ausdruck zu verleihen. Aber es ist nicht die einzige Weise. Auch eine sogenannte „platonische Liebe“ kann zu einem Grad an Verpflichtung auf einen einzelnen anderen Menschen führen, die der Idee des Zölibats widerspricht.
Die ‚Normalform‘ des gelebten Zölibats scheint es nicht zu geben.
Ziel solcher Überlegungen kann es nicht sein Spekulationen darüber anzustellen, wie der ehemalige Papst sein Gelübde des Zölibats interpretierte. Aber die Geschichte ist ein Stolperstein für unsere landläufigen und auch die in der Tradition kirchlicher Moral transportierten Vorstellungen von Ehelosigkeit und Keuschheit. Wird nur derjenige Priester dem Weiheversprechen gerecht, der sich einer strikten „haptischen Entsagung“ unterwirft – aber sein Herz vielleicht anderswo, nicht unbedingt für seine priesterliche Berufung, hingibt? Könnte es umgekehrt den Fall geben, dass jemand, der in einer etablierten, nährenden Beziehung zu einem anderen Menschen lebt, gerade dadurch die Freiheit erfährt, für jene anderen da zu sein, zu denen er berufen ist?
Wie auch immer man diese Fragen beantworten mag, es wird deutlich: „Den Zölibat brechen“ – das tut so, als ob es sich um eine einmalige, quasi binäre Sache handelt. Das aber ist eine naive Vorstellung, die der komplexen psychologisch-emotionalen sowie sozial-kulturellen Realität gelebter priesterlicher Berufung nicht gerecht wird. Und eben weil klar ist, beim Zölibat gibt es keine „Normalform“, sondern so viele Wege, ihn zu leben, wie es Menschen gibt, wirft die Formulierung ein Zwielicht darauf, dass die zölibatäre Lebensform per Rechtsbefehl zur geltenden Norm des Weltpriestertums gemacht wird.
Paradoxe Beziehungen – freiwillig und unsichtbar
Eine ethische Bewertung zu den involvierten Akteuren der berichteten Geschichte macht stutzig. Denn die Position der beiden Protagonisten stellt sich sehr unterschiedlich dar. Es handelt sich, wie in den allermeisten Fällen solcher häufiger vorkommender Beziehungen zwischen Priestern und intellektuell gebildeten und selbständigen Frauen, um eine paradoxe Beziehung: Zwar wird sie von beiden sicherlich freiwillig eingegangen; sie entwickelt sich eben, wie das bei menschlichen Beziehungen natürlich ist, im Laufe der Zeit zu einem dichten freundschaftlichen Band, das beide Menschen emotional-seelisch berührt und aufeinander verpflichtet. Viele der im Film geschilderten Momente bezeugen diese durch und durch menschliche Dimension der Freundschaft zwischen Papst und Philosophin eindrücklich und schön.
Die Kultur des Verdachts ermöglicht die jederzeitige Leugnung des Gelebten.
Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Freundschaftsbeziehung im Halbdunkel und vor der innerkirchlichen Öffentlichkeit verborgen gelebt wird, weil es eine innerkirchliche Kultur des Verdachts („Da könnte ja noch mehr sein als nur Freundschaft…“) gegenüber solchen Beziehungen besteht. Die Folge ist, dass über dem zwischenmenschlichen Band, das grundsätzlich nach denselben Gesetzen geknüpft wird wie jede zwischenmenschliche Beziehung auch (Anziehung und Befremden, Begehren und Rückzug, Spannung und Entspannung) das Fatum des jederzeit möglichen und durch die Verhältnisse diktierten Beziehungsabbruchs – qua Leugnung – steht.
Ein Schatten aus Unfreiheit und Willkür
Das Rollenbild des geweihten Amtes verlangt von den Amtsträgern ein jederzeit mögliches Bekenntnis zu ihrer Gelübdetreue – und damit auch die Bereitschaft, jedes von Dritten als eventuellen Bruch dieser Treue interpretierbare Anzeichen sogleich öffentlich zu leugnen. Ein solcher „Wechsel“ muss nicht aktiv eingelöst werden, oftmals wird das gar nicht nötig werden, aber indem er als unausgesprochene Möglichkeit im Raum steht, wirft er einen Schatten der Unfreiheit und Willkürlichkeit.
Die Rollenmuster sind asymmetrisch: hier der aktive Priester, dort die passive Frau.
Solche Effekte wirken sich asymmetrisch aus: Leidtragende ist eher die Frau als der Mann, da von der ihm zukommenden Rollenerwartung ja der Impuls zur Flucht ins Halböffentliche ausgeht. Sie ist hier der passive Part und muss hinnehmen, was seine berufliche Rolle an Steuerbefehlen zur Gestaltung der Freundschaft verlangt. Hinnahme, Passivität, Unsichtbarkeit – es ist dramatisch, dass sich im kirchlichen Raum solche verhängnisvollen Rollenmuster doppeln, in denen Frauen in patriarchal geprägten Erwerbsgesellschaften auch sonst gefangen sind. Und für den Priester gilt: Zwar wird, modern gesprochen, seine „Ambiguitätstoleranz“ getestet, indem er ständig zwischen „noch möglich“ und „schon grenzwertig“ unterscheiden muss. Das geschieht aber unter dem Preis, dass gespalten wird in eine legitime, aber schwer lebbare Lebensform (das zölibatäre Priestertum) und eine menschlich natürliche, aber schnell illegitime Existenzweise (der priesterliche Mann mit seinen menschlichen Bedürfnissen).
Was bedeutet die Beziehung zwischen den beiden eigentlich für den Ehemann?
Eine letzte Bemerkung sei erlaubt, die weder der Film, noch die Kommentare in weltlichen und kirchlichen Medien aufwerfen: Wie mag es sich eigentlich für den Ehemann der Philosophin anfühlen, diese enge geistig-emotionale Beziehung seiner Frau zu einem attraktiven, gut situierten anderen Mann, mit dem sie hunderte von Briefen austauscht und den sie unzählige Male in Polen, Italien und den USA besucht? Hat er den Anspruch aufgegeben, auch selbst ein geistig-emotional attraktives Gegenüber seiner Frau zu sein? Oder ist die Außenbeziehung seiner Frau der Preis, den er gerne bezahlt, weil sie ihm die Karriere in Wissenschaft und Politik ermöglicht und die Kindererziehung übernommen hatte? Aber was war das dann für eine Ehe, deren Nutznießer Johannes Paul wiederum wurde? Hat dieser sich je darüber Fragen gestellt?
Unklare Verhältnisse – „von oben“ ins Recht gesetzt
Schließlich kann man fragen, welche Spuren die Geschichte in der inner- und außerkirchlichen Öffentlichkeit zurücklässt. Eines lässt sich jetzt schon sagen: Sie setzt eine Ambiguitätskultur ‚von oben’ ins Recht, die man bisher zwar stillschweigend toleriert hatte, von der man aber annehmen durfte, dass sie sich in dieser Form eigentlich nicht mit dem Zölibatsversprechen verträgt. Wenn sogar der Papst über Jahrzehnte ein Modell von Beziehungskultur pflegt und dieses offenbar zu seinem eigenen seelisch-geistigen Wohlbefinden bedarf, man solche Modelle aber in der Ausbildung junger Priester sicherlich nicht explizit anempfehlen würde, ist etwas faul im Staate Dänemark.
Keiner fragt danach: Was sind eigentlich die ‚Kosten’ der zölibatären Lebensform
So sehr es im Einzelfall und aus Perspektive des betroffenen Priesters hilfreich für dessen gesunde menschliche Entfaltung ist, eine solche Form zwischenmenschlicher Beziehung zu leben, so stabilisiert das Beispiel Papst Johannes Pauls II. doch auch die Kultur einer Beziehungspflege im Halbdunkel. Wenn mit dem Exempel ein scheinbar legitimer Weg angedeutet wird, mit der Fährnis des Zölibats umzugehen, bleibt es der Kirche letztlich erspart, sich eine grundsätzliche Frage zu stellen: Sind die nicht kalkulierten „Kosten“ des Zölibats für den Weltklerus nicht so hoch, dass es sinnvoll wäre, die Möglichkeit eines solchen „Gottesgeschenks“ gelebter Beziehung zu einem Menschen (P. Johannes Paul II. an Anna-Teresa Tymienicka) in öffentlich anerkannte Bahnen zu überführen – also die Pflicht zum ehelosen Leben aufzuheben? Im Umkehrschluss würde das Ordensleben der primäre Ort glaubwürdig gelebter Ehelosigkeit: Der Verzicht auf eine Bindung zu einem Menschen mit der Aussicht auf Nachkommenschaft wird eingebettet in den Kontext einer neuen Lebensgemeinschaft der Mitberufenen, mit denen man (im besten Fall) den Alltag und seine Sorgen und Freuden teilt.
Der Papst und die Philosophin – Partnerschaft de luxe?
Der Familienvater im Eheband blickt mit einem Schuss Wehmut auf eine solche „Partnerschaft de luxe“. Keine Alltagsbewältigung eines Mehrpersonenhaushalts mit seinen zentrifugalen Kräften und all den großen und kleinen Stolpersteinen trübt hier den Austausch und die Begegnung! Gemeinsam über „Person und Tat“ (Karol Wojtyla, 1981) nachzudenken wird zum Pfad intimer Begegnung von Geist und Gemüt. Wieviel prosaischer mutet da die Ehe an: „…in guten wie in schlechten Tagen“, so lautet das öffentlich (!) abgelegte Versprechen der Trauung. Alltag teilen, in Hell und Dunkel, und das aktenkundig – auch ein Aufstieg zum Berg Karmel…
Der Moraltheologe Daniel Bogner lehrt an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i.Üe. – Foto: Tim Reckmann / pixelio.de