Die Diskussion, wie in schulischer Bildung religionspädagogisch angemessen mit polarisierenden politischen Themen umzugehen sei, mündete im „Schwerter Konsent“, der sich am Beutelsbacher Konsens orientiert. Von Claudia Gärtner, Jan-Hendrik Herbst und Robert Kläsener.
Eine religionspädagogische Variante des Beutelsbacher Konsenses
In Gesellschaft und Wissenschaft wird darüber debattiert, inwiefern schulische Bildung neutral sein sollte. Intensiviert wird dies durch kontroverse Auseinandersetzungen zu politischen Themen wie Migrationspolitik oder Coronamaßnahmen, die soziale Polarisierungsprozesse zu befeuern scheinen. Viele polarisierende Themen werden auch im Rahmen religiöser Bildung behandelt.
Die Frage, wie angemessen mit solchen Themen umzugehen ist, wurde im März 2022 auf einer religionspädagogischen Tagung diskutiert. Anhand der Themen Ökonomie, Ökologie und Antisemitismus wurden dort Fragen rund um Kontroversität, Positionalität und Neutralität thematisiert. Diese werden in Deutschland zumeist auf den politikdidaktischen Beutelsbacher Konsens (BK) bezogen. Eine Perspektive der Tagung war es, eine religionspädagogische Variante des BKs zu entwerfen. Ein vergleichbares Koordinatensystem gab es nämlich in der Religionspädagogik bisher nicht.
Der „Schwerter Konsent“ – Konsent statt Konsens
Nun wurde am 29. September 2022 der sog. „Schwerter Konsent“ als ein Tagungsergebnis publiziert. Bewusst wurde dabei auf den stärkeren Begriff „Konsens“ verzichtet und die schwächere Bezeichnung „Konsent“ gewählt. Diese Begrifflichkeit aus der Soziokratie zeigt an, dass keine essenziellen Einwände von den am Prozess Beteiligten mehr vorliegen. Hintergrund dessen ist, dass das Verfahren, welches der Prinzipienformulierung zugrunde liegt, nicht auf einer breiten Basis fußt und damit nicht zu einer direktdemokratischen Konsensherstellung geeignet ist.
Ein Bekenntnis zur Kontroversität
Diesem Sachverhalt liegen auch inhaltliche Überlegungen zugrunde: Der BK und ähnliche Prinzipiensets haben gezeigt, dass Konsensformulierungen aufgrund ihrer normativen Kraft schnell eine fachdidaktische Hegemonie gewinnen können, was wichtige Kontroversen unterbinden kann.[1] Unser Ausgangspunkt ist dagegen der Sachverhalt, dass man „[e]inen guten Kriteriensatz […] daran erkennen“ kann, wie es der Politikdidaktiker Grammes formuliert, „dass er kontrovers bleibt“[2]. Diese Kontroversität soll in einem Wochenschau-Sammelband hergestellt werden, in dem der „Schwerter Konsent“ aus verschiedenen Fachperspektiven diskutiert wird.[3]
Die Grundsätze des „Schwerter Konsent“
Der „Schwerter Konsent“ (hier ausführlich) besteht aus sechs Grundsätzen, den „3k3p-Prinzipien christlich-religiöser Bildung in der Schule“. Hiernach ist religiöse Bildung:
- kontrovers, so dass solche Themen kontrovers diskutiert werden, zu denen es differierende Positionen in Theologie, Kirche und Gesellschaft gibt,
- kritisch, indem religiöse Bildung Machtverhältnisse und soziale Ideologien (selbst-)kritisch reflektiert,
- konstruktiv, weil die Lernenden ermutigt werden, indem sie durch die Reich-Gottes-Verkündigung eine kontrafaktische Deutungsperspektive der Realität erschließen können,
- positionell, da sich religiöse Bildung (reflektiert) positionell als eine Anwältin marginalisierter Positionen und Personen versteht,
- partizipatorisch, so dass religiöse Bildung die Lernenden mit ihren persönlichen Hintergründen, Ressourcen und Perspektiven zur Teilhabe am Lerngeschehen ermutigt und zum Handeln befähigt,
- praktisch, da religiöse Bildung praxisorientiert Formen gelebter Religion erschließt, um Wege zu eröffnen, die Gesellschaft individuell und kollektiv handelnd zu verändern und gerecht zu gestalten.
Christlich, schulisch, politisch
Der „Schwerter Konsent“ ist auf eine christliche Perspektivik beschränkt, da die Beiträge auf der Tagung durch christliche, katholische wie evangelische Perspektiven bestimmt waren. Zudem bezieht sich der Konsent explizit auf schulische Bildungsprozesse und den konfessionellen Religionsunterricht. Außerschulische religiöse Bildung sowie interreligiöse Formate betrifft der Konsent damit nicht unmittelbar.
Vor dem Hintergrund des Tagungsthemas und der politikdidaktischen Bezüge sollte zudem berücksichtigt werden, dass die politische Dimension religiöser Bildung einen Fokus der sechs Grundsätze darstellt. Diese stehen insgesamt in einem diskursiven Kontext, der durch unterschiedliche Prinzipiensets wie den BK inspiriert wurden. Um den Bezug zur jeweiligen Debatte zu markieren, wurden manche Formulierungen an andere Erklärungen angelehnt. Verfahrensbezogene und inhaltliche Impulse sind vor allem von drei ähnlichen Prinzipiensets ausgegangen.
Der Beutelsbacher Konsens
Zuerst ist hier der erwähnte „Beutelsbacher Konsens“ zu nennen, dem ein ähnliches Verfahren zugrunde liegt: Hans-Georg Wehling hielt die drei Prinzipien des BK als Ergebnis einer Tagung fest, die 1976 im schwäbischen Beutelsbach organisiert wurde. Inhaltlich wurde im „Schwerter Konsent“ vom BK vor allem das Kontroversitätsprinzip aufgegriffen (P1).[4]
Aufgenommen wurden dabei die aktuelle Debatte um die ‚Grenzen der Kontroversität‘, die im Konsent durch den Bezug auf die Menschenrechte und wissenschaftliche Erkenntnisse begründet werden. In Bezug auf letztere wurde ein Ausdruck gewählt, der an die Aussage von „fachspezifischen Rationalitäts- und Methodenstandards“ des Pädagogen Johannes Drerup anschließt.
Daneben wird beim Prinzip „partizipatorisch“ (P5) auf den dritten Grundsatz des BKs zurückgegriffen, wobei dieser religiös bzw. weltanschaulich gedeutet wird: Die Schüler*innen „sollen lernen, wie sie entsprechend ihrer eigenen religiösen bzw. weltanschaulichen Überzeugungen praktisch handeln können.“ (P5)
Diese Orientierung an den Lernsubjekten und ihren Interessen wird dabei nicht subjektivistisch aufgefasst, sondern konfrontiert mit den universalen Glaubensansprüchen von „‚Friede‘, ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Schöpfungsverantwortung‘“ (P5). Damit wurde die politikdidaktische Kritik adaptiert, dass Schüler*innen dem BK entsprechend lernen sollen, „ihre Interessen zu erkennen und zu vertreten, ohne dabei das Gemeinwohl aus dem Blick zu verlieren“ (Widmaier 2016, 102; Kursivierung d. Verf.).
Die Frankfurter Erklärung für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung (2015)
Ein zweiter politikdidaktischer Orientierungspunkt des „Schwerter Konsent“ ist die „Frankfurter Erklärung für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung“ (2015). Diese wurde vom „Forum kritische politische Bildung“ initiiert. Dort wurde, wie beim Konsent, weniger eine Konsensbildung vorab anvisiert, vielmehr soll ein pointierter Diskussionsimpuls für die Fachdebatte gegeben werden. Inhaltlich wurde von der Frankfurter Erklärung die machtkritische Perspektive aufgegriffen. Sie wird vor allem im zweiten Grundsatz ‚kritisch‘ aufgenommen, was auch durch die Übernahme eines Wortlauts markiert wird: Es gehe darum, „‚Abhängigkeiten und sich überlagernde soziale Ungleichheiten‘ wahrzunehmen und ihnen entgegenwirken zu können“ (P2).
Der Dresdener Konsens für den Philosophie- und Ethikunterricht (2016)
Darüber hinaus stellt drittens der „Dresdener Konsens für den Philosophie- und Ethikunterricht“ (2016) einen wichtigen Impuls dar, hinter dem der Fachverband Philosophie e.V., der Fachverband Ethik e.V. und das Forum für Didaktik der Philosophie und Ethik stehen. Die dort formulierten Grundsätze zeigen die Möglichkeit und Notwendigkeit auf, für nichtpolitische Bildung eigene Schwerpunkte zu setzen.
Jüngere religionspädagogische Ansätze
Neben diesen drei veröffentlichten Prinzipiensets bezieht sich der Konsent auf jüngere religionspädagogische Ansätze.[5] Die christlich-konfessionelle Perspektive kommt etwa im dritten Prinzip ‚konstruktiv‘ zur Geltung, in dem auf „die hoffnungsvolle Perspektive der Reich-Gottes-Verkündigung“ (P3) rekurriert wird.
Auch beim vierten Grundsatz ‚positionell‘ wird eine theologische Denkfigur aufgegriffen, die biblische Botschaft einer ‚Option für die Armen‘. Dementsprechend solle religiöse Bildung als „Anwältin Marginalisierter verstanden werden.“ (P4) Gerade wenn ein weites und differenziertes Verständnis von Überwältigung angelegt wird, widerspricht dieser Positionalitäts-Ansatz auch nicht (zwingend) dem Indoktrinationsverbot des BKs.[6]
Und der sechste Grundsatz ‚praktisch‘ schließt an den Wortlaut einer katholischen Denkschrift zum Religionsunterricht an, dem „Vertrautmachen mit Formen gelebten Glaubens“[7] und weitet diese auf religiös motivierte sozialpolitische Aktionen (P6) aus.
Ausblick
Die weitere Diskussion und Rezeption wird zeigen, ob der „Schwerter Konsent“ inhaltlich überzeugt. Eine prägende Wirkung wird der Konsent nur entfalten können, wenn er ähnlich wie der BK diskursiv einleuchtet.
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Claudia Gärtner, Dr. theol. habil., Professorin für Praktische Theologie an der TU Dortmund.
Jan-Hendrik Herbst, Dr. theol., Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Praktischen Theologie an der TU Dortmund.
Robert Kläsener, leitet den Fachbereich politische Bildung der Kommende Dortmund.
[1] Vgl. z. B. Herbst 2021, 333.
[3] Vgl. Gärtner, Claudia/Herbst, Jan-Hendrik/Kläsener, Robert (Hg.) (2023): Der Beutelsbacher Konsens in der Religionspädagogik. Exemplarische Konkretionen und notwendige Transformationen. Frankfurt am Main: Wochenschau (i.E.).
[4] Verweise auf die sechs Prinzipien im „Schwerter Konsent“ werden im Folgenden mit P1–P6 vorgenommen.
[5] Vgl. z. B. Bederna 2021; Gärtner 2020.
[6] Vgl. dazu: Herbst 2022, 386–390.