Die theologische Sprache ähnelt zu oft einem lange tradierten Familienjargon: Die Worte und der sprachliche Gestus, in welchem sie vorgetragen werden, sind vertraut, setzen die Zugehörigkeit zur Familie voraus, in der alle Mitglieder eine vergleichbare Sozialisation durchlaufen haben. Und sie blenden zu oft die soziale Realität aus. Eine Kritik des sprachlichen Habitus von Theolog:innen von René Buchholz.
Noch eine Klage über die komplizierte und weltfremde Fachterminologie in der Theologie? Aber darf die Theologie keine spezifische Terminologie entwickeln wie andere Wissenschaften auch? Als müsste sie sich gleich ins pralle Leben werfen und, um allgemeinverständlich zu bleiben, allen Fremdwörtern die Einreise in deutsche Texte verwehren. Die Schwierigkeit, die Texte ihren Leser:innen bereiten, wird kaum durch die Fachterminologie begründet, die man/frau ja nachschlagen kann, sondern durch die Komplexität des sprachlichen Zusammenhangs, in dem die einzelnen Begriffe stehen und von dem sie ihre genaue Bedeutung erhalten. Damit zeichnet sich schon ab, dass es hier nicht abermals um die Fachterminologie geht, sondern eher schon um die „unterminologischen Termini“[1], wie Adorno sie im theologisch kaum rezipierten Jargon der Eigentlichkeit nannte.
Marktgängige Edelsubstantive
Die Reihe „marktgängiger Edelsubstantive“, die Adorno ohne Anspruch auf Vollständigkeit anführte, sind für Theolog:innen alte Bekannte: „in der Entscheidung, Auftrag, Anruf, Begegnung, echtes Gespräch, Aussage, Anliegen, Bindung“[2]. In der theologischen Literatur bis weit in die neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts hatte dieses Vokabular prägenden Einfluss; „Entscheidung“ und „Begegnung“ behaupten sich auch heute noch. Die Worte suggerieren jenseits des Fachjargons eine Unmittelbarkeit und Lebensnähe, die souverän über die Widersprüche und Ambiguitäten eben dieses Lebens, das sich selbst nicht recht nahe ist, hinweggeht. So entstehen Sätze, die Unmittelbarkeit und Nähe suggerieren, sie begrifflich aber nicht einlösen; alle Radikalität erschöpft sich im sprachlichen Gestus.
Zu jenen marktgängigen Edelsubstantiven, die auch heute noch durch theologische Texte geistern, gehört „der Mensch“ oder gar „der ganze Mensch“, der ständig „in der Entscheidung“ steht. Er ist das Produkt einer abstrakten Anthropologie, denn der Mensch zerfällt, soziologisch betrachtet, in eine Vielzahl von Rollen, die er oder sie in den wenigsten Fällen frei gewählt hat und in das eigene Leben kaum bruchlos integrieren kann. Glaube, Religion bildet hier bestenfalls einen Sektor nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch im funktional zersplitterten Individuum. Die theologische Sprache geht souverän darüber hinweg, wobei gerade die positiv besetzten, aber unbestimmten Begriffe auf Einverständnis zielen. Die sozialen Konstellationen, in denen allein „der“ Mensch existiert, werden neutralisiert. Die soziologische Blindheit der systematischen Theologie holt sie dort ein, wo sie ihre zentralen Begriffe zu entfalten versucht.
Vergessen wir die Liebe nicht: Es gibt kaum ein Produkt systematischer Theologie, das diesen Begriff nicht früher oder später ins Zentrum rückte. Paulinische und vor allem Johanneische Theologie wird zum Kronzeugen, während die eigentliche Botschaft Jesu, das Gottesreich (Mk 1,15), bestenfalls ins zweite Glied zurücktritt: „All You Need is Love“. Wird heutigen Leser:innen theologischer Literatur der Gehalt des Christentums durch eine fast ausschließliche Betonung der Liebe Gottes tatsächlich besser erschlossen? Nun ist die die Rede vom liebenden Gott nicht weniger anthropomorph als diejenige von einem Gott, der Schwierigkeiten hat, seinen Zorn zu kontrollieren. Zudem: Wo genau wird denn diese Liebe als evident, ja überwältigend und den christlichen Anspruch verifizierend erfahren?
Wird die Faszination des Begriffs vom Wunsch gespeist oder gilt sie einem präzise benennbaren, geschichtlich ausweisbaren Erfahrungsgehalt? Eher, so scheint es, wird hier nach einem Substitut für das ausgebliebene Gottesreich gesucht. Zum Gottesreich gehört ein anderer, oft vernachlässigter Begriff: die Gerechtigkeit. Sie geht in der alles überflutenden Liebe unter. Der Gerechtigkeit soll Israel nachjagen (Dtn 16,20), die Gerechtigkeit geht vor JHWH her (Ps 85,14); Gott ist Inbegriff der Gerechtigkeit, und darum kann Abraham ihn wegen Sodom und Gomorrha zur Rede stellen: Will Gott etwa „den Gerechten mit dem Ruchlosen wegraffen?“ (Gen 18,23) Die Gerechtigkeit erlaubt es dem Geschöpf, seinen Schöpfer zur Verantwortung zu ziehen – ein im christlichen Kontext unerhörter Gedanke. In den Seligpreisungen wird jenen, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, Sättigung verheißen (Mt 5,6), nicht aber als deren Ersatz die überfließende Liebe. Begriffe können wie Drogen wirken.
Notwendig: die kritische Stellung zum eigenen sozialen Ort
Mit dem bisher Gesagten ist aber das Spezifische des Theo-Sounds noch nicht hinreichend bestimmt. Die theologische Sprache ähnelt einem lange tradierten Familienjargon: Die Worte und der sprachliche Gestus, in welchem sie vorgetragen werden, sind vertraut, setzen die Zugehörigkeit zur Familie voraus, in der alle Mitglieder eine vergleichbare Sozialisation durchlaufen haben, zu der auch der Glaube gehört, dessen Genese in souveräner Abstraktion von der eigenen Biographie einschließlich ihrer sozialen Bedingungen der theologische Diskurs in die kierkegaardsche „Entscheidung“ verlegt. Wer so spricht, ist eine(r) von uns, von dort droht keine Gefahr: Er oder sie ist Teil der eigenen Gruppe, ähnlich religiös sozialisiert, man/frau teilt das soziale und kulturelle Kapital, den sprachlichen wie sozialen Habitus[3], an dem alle sich wiedererkennen. Diese Loyalität geht jeder Kritik an kirchlicher Autorität, an der Verweigerung von Reformen, an patriarchalen Strukturen und am Mangel transparenter, demokratischer Entscheidungsprozesse voraus. Der Theo-Sound schiebt sich wie eine Wand zwischen die soziale Wirklichkeit, die intellektuelle Krise des Christentums einerseits und das Bewusstsein von Theolog:innen andererseits; er stiftet mental Gemeinschaft (auch dieser Begriff ist zuständig) noch dort, wo deren realer Zerfall kaum zu übersehen ist.
Was von der frühesten Sozialisation an, die religiöse eingeschlossen, wie transformiert auch immer, im Erwachsenen sich zum Habitus verstetigte, ist kein Kleidungsstück, das je nach Milieu angepasst und gewechselt werden kann, sondern die bis ins Innere der Person sich verlängernde Gesellschaft mit ihren Möglichkeiten und Zwängen, ihren angeblichen Selbstverständlichkeiten, subtilen Distinktionen und Exklusionen. Der Habitus ist, wie Bourdieu es formulierte „eine inkorporierte Geschichte, … eingeschrieben in das Gehirn, aber auch in die Falten des Körpers, die Gesten, die Sprechweisen, den Akzent“[4]. Er ist eine Form, in welcher Gesellschaft und Gruppen im Subjekt bis in die unbewussten Schichten den Schein des Selbstverständlichen, „Natürlichen“ annehmen – aber unentrinnbares Schicksal ist er nicht.
Die Verabschiedung vom Theo-Sound, die Problematisierung der Binnenperspektive und die kritische Stellung zum eigenen locus socialis als klandestinem locus theologicus bedürfen keines Wunders. Vielleicht werden einmal auch jene Studierenden, die nicht die überlieferten Formen der religiösen Sozialisation durchlaufen haben, es bis zu den höheren akademischen Weihen schaffen und jenen Prozess erheblich beschleunigen. Die theologische Sprache wird dann, horribile dictu, Fremdwörter und Fachtermini beinhalten, weil die Theorie jenseits des Theo Sounds nicht etwa simpler, sondern komplexer wird und an die Stelle „des“ Menschen die, mit dem frühen Marx gesprochen, „Welt des Menschen, Staat, Societät“[5] tritt. Sie wäre bewusst gemachtes „Formalobjekt“ und Gegenstand einer Theologie, die nicht nur die soziale Realität endlich in die eigene Denkbewegung aufnimmt, sondern auch die Phrase mehr fürchtet als die Heterodoxie.
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Dr. René Buchholz ist Mitarbeiter in der kirchlichen Erwachsenenbildung der Erzdiözese Köln und Apl. Professor für Fundamentaltheologie an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn.
Beitragsbild: Norman Bruderhofer. Collection of John Lampert-Hopkins, CC BY-SA 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1308343
[1] Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann u.a., Band 6, Frankfurt/M. 41990, S. 413-526, hier: S. 417.
[2] Ebd.
[3] Zum Habitus-Begriff vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Zur Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt/M. 41987, 277-332; ders. Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Übersetzt von Günter Seib, Frankfurt/M. 1987, 97-121.
[4] Pierre Bourdieu: Wie die Kultur zum Bauern kommt, Über Bildung, Schule & Politik (Schriften zu Politik & Kultur 4). Übersetzt von Jürgen Bolder u.a., hrsg. von Margareta Steinrücke, Hamburg 2001, 165.
[5] Karl Marx / Friedrich Engels, Gesamtausgabe, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Abteilung I, Band 2 (Werke – Artikel – Entwürfe März 1843 bis August 1844), Berlin 1982, 170.