Im Frühjahr 2017 startete eine lebendige Debatte über die Zukunftsfähigkeit der Theologie auf der italienischen Online-Pastoralzeitschrift »Settimananews«. Ein Rückblick und Zwischenbericht von Marcello Neri.
Welche Theologie ist zukunftsfähig? Angestoßen von einer Reflexion über die Formen einer zukunftsfähigen Theologie läuft in der italienischen Pastoralzeitschrift „Settimananews“ seit Mai 2017 eine lebendige Debatte. Auf internationaler Ebene wird über Wege der Erneuerung und Neugestaltung der Theologie bzw. des theologischen Studiums diskutiert (Link zur Debatte). Es handelt sich um einen offenen Raum der Diskussion mit unterschiedlichen Akzentuierungen, die aus der differenten Verortung der Theologie im jeweiligen soziokulturellen und kirchlichen Kontext entstehen.
Ein erstes, vorläufiges Ergebnis dieser Debatte ist das Bewusstsein, dass die katholische Theologie und ihr Verständnis gegenüber den Herausforderungen unserer Zeit weit vielfältiger ist, als man üblich denkt. Aus den Beiträgen, die bis jetzt veröffentlicht worden sind, kann entnommen werden, wie das „vor Ort“, wenn es ernst genommen wird, die Theologie und ihre Grundfragen tief beeinflusst. Schon eine gelungene Vernetzung dieser theologischen Pluralität im westlichen Kontext könnte einen bedeutenden Schritt nach vorne darstellen, um eine Theologie zu imaginieren, die über die bequemen Gewohnheiten einer Rede in geschlossener Gesellschaft hinaus zu gehen vermag.
Die Theologie erscheint augenscheinlich wie ein System, das am konkreten Leben einfach vorbeigeht.
In den Beiträgen, die von Studierenden verfasst worden sind, taucht die Notwendigkeit dieses Übergangs besonders auf: Von einer verhängnisvollen Selbstbezogenheit, die zu oft, vielleicht in unbewusster Weise, noch an Fakultäten und Instituten katholischer Theologie gepflegt wird, zielt dieser Übergang auf eine Verstrickung sowohl in die alltäglichen Erfahrungen des Menschlichen als auch in den „fremden“ Raum des öffentlichen Diskurses.
Aus dem Blickpunkt der jüngeren Generationen erscheint die katholische Theologie augenscheinlich wie ein System, das am konkreten Leben mit seinen existentiellen Fragen, die der Komplexität unserer Zeit und der Suche nach plastischen Orientierungswegen entspringen, einfach vorbeigeht.
Es geht um eine ursprüngliche Bindung – eine Adhärenz – des Christlichen an das Alltägliche des Menschen.
Die wirkliche Berührung mit dem Alltäglichen der menschlichen Existenzerfahrung wiederzugewinnen, würde sicher die aktuellen Fächer der Theologie de-lokalisieren, was auch mit einer Entortung ihres gewöhnlichen Selbstverständnisses und mit einer bestimmten Ortlosigkeit des theologischen Treibens einhergehen würde. Solch eine epistemische Unsicherheit bzw. Unbestimmtheit scheint aber der notwendige Preis zu sein, den die Theologie bereit zu bezahlen sein muss, wenn sie etwas mehr als eine Art von tribalem Nischenwissen sein will, das nunmehr auch für den engen Kreis der Dazugehörigen irrelevant und leer geworden ist.
Es geht hierbei nicht um eine friedliche Anpassung an den Geist der Zeit mit seiner Launenhaftigkeit und programmatischer Instabilität, sondern um eine ursprüngliche Bindung – eine Adhärenz – des Christlichen an das Alltägliche des Menschen. Deutlich ist die Alltäglichkeit des Menschen von Jesus im Narrativen der Evangelien als normativer Ort für seine eigene Verkörperung der Botschaft Gottes wahrgenommen und anerkannt worden.
So verstanden ist Theologie eine (An-)Rede, die ständig auf eine Antwort bzw. Reaktion von ihren konkreten Adressatinnen und Adressaten wartet.
Indem diese Normativität des Alltags ernstgenommen wird, eröffnet sich für die Theologie der Raum, um adressierte Rede an den Menschen, der konkret lebt, werden zu können. So verstanden ist Theologie eine (An-)Rede, die ständig auf eine Antwort bzw. Reaktion von ihren konkreten Adressatinnen und Adressaten wartet. Eine Antwort, die sie weder schon kennt noch irgendwie vorwegnehmen kann. Für die Theologie bedeutet dieses normative Warten-auf den Eintritt in einen fortwährenden, nie abschließbaren Lernprozess, der von ihr und von ihren akademischen Formen nicht bestimmt werden kann.
Dieser Lernprozess verlangt nach einer Haltung des aufmerksamen Zuhörens auf die Stimme des menschlichen Existierens, das sich in die öffentliche Arbeit der theologischen Rede einprägen muss. Dadurch kann Theologie wieder zu einem Sprachereignis im eigentlichen Sinne werden: Wandeln des Wortes, das vom alltäglichen Leben der Menschen affiziert wird. Mit diesem Affiziert-werden handelt es sich keineswegs um einen Abschied der Theologie von der Vernunft – was in einem Zeitalter der Emotionalisierung der öffentlichen Auseinandersetzung mit den brennenden Fragen der mitmenschlichen Existenz als unverantwortlich zu bedauern wäre.
Theologinnen und Theologen stehen vor der Herausforderung, neue Sprachformen zu schaffen, die dem konkreten Dasein der Menschen gerecht werden.
Vielmehr stehen Theologinnen und Theologen vor der Herausforderung, neue Sprachformen zu schaffen, die dem konkreten Dasein der Menschen gerecht zu werden vermögen. Dazu gehören die expressive und narrative Sprache, die den Alltag menschlichen Existierens im Rahmen des öffentlichen Raums bzw. Diskurses berechtigen können. Der ständige Lernprozess der Theologie geht somit mit einer existentiellen Ästhetik der Sprache zusammen. Dadurch kann die Theologie die Sensibilität ihres Unterscheidungsvermögens in einer Weise verfeinern, die den Herausforderungen der Zeit und den konkreten Erfahrungen der zeitgenössischen Mitmenschen gewachsen ist.
Die omnipräsente Ökonomisierung aller menschlichen Lebensbereiche und die zunehmende Privatisierung der gesellschaftlichen Öffentlichkeit gestalten neue herrschaftliche Maßstäbe, an denen entschieden wird, wem Recht und Würde zugeschrieben wird. Um diesen evaluativen Messwerten zu entsprechen, steht der zeitgenössische Mensch vor der ungeheuerlichen Aufgabe einer fortwährenden Selbstprofilierung, die ständig zu scheitern droht. Falls diese Selbstprofilierung dem investierten bzw. zu investierenden Wert nicht entspricht, wird der Mensch völlig im Stich gelassen – was wir das Tragische an der Hyperindividualisierung unseres Zeitalters nennen könnten.
Jede Erfahrung des gegenwärtig Tragischen am menschlichen Existieren stellt einen eigenen Ort der Theologie dar.
Im Horizont eines Gottes, der sich in totaler Ohnmacht der Liebe und in bedingungsloser Hingabe für alle Verlorenen ereignet, stellt jede Erfahrung des Tragischen am menschlichen Existieren einen eigenen Ort der Theologie dar. Um dies aber adäquat wahrnehmen zu können, und um gerade mitten im Tragischen die mit dem gebrechlichen Leben versöhnende Kraft der Ohnmacht der Liebe des christlichen Gottes spüren zu lassen, bedarf die Theologie eben jene empfindsame Unterscheidungskraft, von der oben die Rede war.
Ich habe versucht, die Schwerpunkte der bis jetzt in Settimananews publizierten Beiträge zusammenzufassen und einige wesentliche Zusammenhänge darzustellen, damit deutschsprachige Leserinnen und Leser eine Einsicht in die laufende Debatte gewinnen können. Was den unterschiedlichen Ansätzen dieser Diskussion über eine zukunftsfähige Theologie gemeinsam ist, ist eine Deutung von Pastoral, die sich vom herkömmlichen Verständnis dieses Begriffs unterscheidet.
Die Pastoral als organisierenden Stil des theologischen Denkens begreifen.
Theoretisch ist man einverstanden, dass Pastoral weder einfach Ausübungsfeld des Glaubens noch bloße Anwendung eines theologischen Wissens ist, das im akademischen Labor mit einer aseptischen Distanz zur konkreten Glaubenserfahrung kultiviert wird. Dass Pastoral aber zum systemischen Prinzip der ganzen Theologie wird, bleibt bislang für den westlichen Katholizismus ein Desiderat – trotz des Anstoßes durch das Zweite Vatikanische Konzil. Ein Großteil der Beiträge, die den Grundrahmen der skizzierten Debatte bilden, bewegen sich eben in diese Richtung. Sie wollen die Pastoral als organisierenden Stil des theologischen Denkens insgesamt begreifen.
Ein Verständnis der Pastoral als stilistische Adhärenz an die alltägliche Erfahrung des glaubenden Menschen, der konkret lebt, ist aus meiner Sicht für eine zukunftsfähige Theologie wegweisend. Mir scheint es, dass solch ein Verständnis von Pastoral eine zentrale Aufgabe sowohl von ›feinschwarz.net‹ als auch von ›Settimananews‹ darstellt.
Zusammenarbeit von ›Settimananews‹ und ›feinschwarz.net‹ zur Imagination einer zukunftsfähigen Theologie?
Als Redakteur der italienischen Pastoralzeitschrift und Stammleser von ›feinschwarz.net‹ bin ich überzeugt, dass eine sprachübergreifende Zusammenarbeit zwischen den beiden digitalen Medien, in ihrer jeweiligen kulturellen Arbeit, zur Imagination einer zukunftsfähigen Theologie beitragen könnte. Diese Berichterstattung der Debatte in Settimananews ist sicher ein erster, bedeutender Schritt in diese Richtung – für ein tieferes Verstehen des Evangeliums als Zeitgenossenschaft mit den Menschen unserer Zeit.
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Marcello Neri lehrte in Italien, Österreich, Deutschland und den USA. Heute lehrt er an der Europa-Universität Flensburg, ist Gastprofessor am ISSR der Kessler-Stiftung in Trient und Redakteur von „Settimananews“.
Link zur besprochenen Debatte bei Settimananews: »Teologia oggi: il dibattito«
Bild: pixabay / CCO Creative Commons
Vom Autor außerdem zum Thema bei feinschwarz.net erschienen: