Mit dem Tod von Rio Reiser ist eine spannungsgeladene Brücke zwischen linksalternativer Szene und christlicher Theologie abgebrochen. Aus dem widerborstigen Rockpoeten macht Gerrit Spallek keinen christlichen Theologen. Sein theologisches Portrait zeigt jedoch, warum der „König von Deutschland“ auch aus christlicher Perspektive fehlt.
Vor zwanzig Jahren verstarb Rio Reiser. Der Krautrockpionier und Poet starb am 20. August 1996 auf seinem Gutshof in Nordfriesland. Der Frontsänger der Kultband Ton Steine Scherben (1970-1985) hieß mit bürgerlichen Namen Ralph Christian Möbius. Nach Auflösung der Scherben war er als Solokünstler erfolgreich. Bis heute klettern Coverversionen und Neuinterpretationen posthum die Chartleiter hinauf. Sie belegen, dass Rio Reiser zu den prägendsten Gestalten der deutschsprachigen Rock- und Popgeschichte des vergangenen Jahrhunderts gehört. Auch aus theologischer Sicht lohnt sich eine Rückschau auf das Lebenswerk des rebellischen Musikers.
Bereits in der Anfangszeit von Ton Steine Scherben hatte der Rockpoet seine Anhänger durch zwei Coming-outs verunsichert. Als Rio Reiser sich zu seiner Homosexualität bekannte, war die Zeit noch nicht reif für einen schwulen Frontmann einer rebellischen Rockband. Bis heute unvereinbar erscheint jedoch für viele, dass das Sprachrohr einer sich gerade erst konstituierenden linksalternativen Szene in Deutschland Christ gewesen ist. Mit institutionalisierter Religion konnte Rio nichts anfangen, schon gar nicht mit der katholischen Kirche. Den damaligen Papst Johannes Paul II. bezeichnete der Künstler als Verbrecher und Topmanager einer kriminellen Vereinigung. Speziell warf er ihm vor, die Bibel nicht zu lesen, welche Rio seit seiner Jugendzeit für sich entdeckt hatte. In ihr las er täglich, sowohl aus dem Alten als auch aus dem Neuen Testament. Erträge dieses Bibelstudiums verarbeitete er in zahlreichen seiner Texte.
Glaube, Liebe, Hoffnung
Standesgemäß gewährte das Land Schleswig-Holstein dem „König von Deutschland“ die Sondergenehmigung einer letzten Ruhestätte in seinem eigenen Garten in Fresenhagen. Diese Ehre wurde bis dato einzig Franz Josef Strauß zuteil. Rios Grabstein trägt die Symbole von Glaube, Liebe, Hoffnung (vgl. 1 Kor 13). Ganz paulinisch dominiert ein alles überragendes Herz das Motivfeld. Er vertraute auf die Liebe, die für ihn eine alles verändernde Kraft war. Weil das Interesse am musikalischen Genie kontinuierlich verloren ging und weil sich ein authentischer Kapitalismuskritiker äußerst schlecht vermarkten ließ, musste das zur Gedenkstätte gewordene Rio-Reiser-Haus verkauft werden. Heute liegt der Politrocker back to the roots in Berlin begraben.
Dort gründeten sich 1970 Ton Steine Scherben. Ihr Sound war experimentell und ihre Texte wortgewaltig. Sie rebellierten gegen die Generation und Leitkultur des Wirtschaftswunders, die Arbeit und Kapital als Existenzziele propagierten. Programmatisch war der Refrain des allersten Albumtracks: „Ich will nicht werden, was mein Alter ist. Ich möchte aufhören und pfeifen auf das Scheißgeld. Ich weiß, wenn das so weitergeht, bin ich fertig mit der Welt.“
„Macht kaputt, was euch kaputt macht“
Den Umgang mit der Kraft ihrer Worte musste die Band erst lernen. Gerade das eigentümliche Wechselverhältnis von Macht und Ohnmacht wurde den Scherben zunehmend unheimlich: auf der einen Seite die Macht durch das Texten und Singen von Songs auf Bühnen und Tonträgern; auf der anderen Seite die Ohnmacht gegenüber der Rezeption ihrer Songs durch die Massen. Dieser Lernprozess begann bereits beim Bühnendebut auf dem Festival der Liebe auf Fehmarn. Während des allerletzten Konzerts von Jimmy Hendrix brannten die Konzertveranstalter mit der Festivalkasse durch. Eine Wutrede von Rio Reiser und der Song „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ brachte das Fass zum Überlaufen. Das ohnehin aufgeheizte Publikum zündete Veranstaltungsbüros und Bühne an. Im Folgejahr wurde ein Konzert der Scherben zum Ausgangspunkt einer im Vorfeld bereits geplanten Hausbesetzung (das spätere Georg-von-Rauch-Haus). Beide Konzerte wurden zum Geburtsort eines musikalischen Mythos.
„längst verloren Geglaubte werden von den Toten auferstehen“
Rio Reisers Blick auf die Welt erinnert an die Haltung spiritueller Sucherinnen und Sucher. Er wird bestimmt durch ein Wechselverhältnis von Melancholie und Hoffnung, von Kontemplation und Aktionismus. Seine Mischung aus visionärer Spiritualität und Unangepasstheit wurde nicht zuletzt zum Anlass eines Rockpoems, das den Lebensweg des Heiligen Franziskus mit Liedern von Rio Reiser unterlegt.1 Zeit seines Lebens blieb der Musiker ein Träumer. Generell können Träume und die Vision eines Lebens in Freiheit und Gerechtigkeit als das Leitmotiv seines musikalischen Schaffens angesehen werden. Dabei ist markant, dass er die biblisch eschatologische Dimension – mitsamt des Tierfriedens (Der Traum ist aus) – in seinen Traum miteinzuschließen verstand. Er stellte eine Welt in Aussicht, in der die Tränen von gestern trocknen, Spuren der Verzweiflung verwehen, durstige Lippen getröstet werden und längst verloren Geglaubte von den Toten auferstehen (Land in Sicht bzw. Offb 21).
„wo man die Mörder belohnt und die Heiligen hängt“
In den Texten von Rio wurde das paulinische „zur Freiheit sind wir befreit“ konkret und angesichts der vielzähligen Kontrasterfahrungen geschärft: „Wir sind geboren um frei zu sein!“ Der Weg zu der Welt, von der er geträumt hat, war für Rio jedoch keiner, der sich gnadenhaft von selbst ebnen würde. Wie auch Paulus machte der Rockpoet mobil („Wir müssen hier raus!“) und war nicht weniger siegesgewiss: „Was kann uns hindern? Kein Geld, keine Waffen! Wenn wir es wollen!“ Gott selbst hat er dabei sowohl als öffentliche Größe wie auch als Gegenüber in das Suchen und Erstreiten dieses Traums miteinbezogen. Wie ein Psalmist schreit Rio einem nicht weiter definierten Adressaten aus tiefster Seele entgegen: „Ich komm vom Planeten der verzweifelten Götter. Ich komm vom Planeten der reichen Bettler, wo die Liebe verkauft wird und der Hass verschenkt, wo man die Mörder belohnt und die Heiligen hängt… Hilf mir! Zeig mir den Weg hier raus! Lass mich nicht hängen! Gib mir ne Antwort! (Durch die Wüste)“
„Keine Macht für Niemand!“
Aber: „Träume verwehen, wenn sie nicht wissen, wo sie schlafen sollen.“ Auch Rio und seine Freunde machten die ernüchternde Erfahrung, dass der Traum, wie sie ihn träumten, von weitaus weniger Menschen ihres Umfeldes mitgeträumt wurde, als erwartet. Stattdessen wurde zunehmend versucht Profit aus dem Genie und der Popularität von Ton Steine Scherben zu schlagen. Als ursprüngliches Auftragswerk radikalisierender Kreise entstand in diesem Zusammenhang eines der bekanntesten Lieder der Band. Gewünscht war ein massenmobilisierender Kampfsong. Geradezu ein Musterbeispiel Politischer Theologie wurde dagegen, was Rio daraus machte: „Keine Macht für Niemand!“ Diese Parole ließ sich zwar schreien und an Wände schreiben. Sie sperrte sich jedoch gegen eine Vereinnahmung durch Akteure, die im Grunde nur bestehende Mächte zu ihren Gunsten umverteilen wollten. Eine wirkliche Option für die Ohnmächtigen ist aber durch einen solchen Gewaltakt nicht realisierbar. Der so gesehene Antischlachtruf der Scherben legt dies mit seiner doppelten Negation schonungslos frei. Bis in die Chefetage der RAF soll sich über diese „blödsinnige, irrelevante und für den antiimperialistischen Kampf unbrauchbare“2 Parole schwarz geärgert worden sein.
Mitte der 1970er Jahre zog Rio Reiser mit Bandmitgliedern und Freunden auf einen Gutshof in Nordfriesland. Wie zuvor lebten sie in der selbsternannten Freien Republik Fresenhagen in Gütergemeinschaft. Auch die heutige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Claudia Roth kam später als Tourmanagerin hinzu. In Zurückgezogenheit entstand hier später das letzte Album der Scherben. Musikalisch bezeugt es, wie weit die Musikgruppe in 15 Jahren Bandgeschichte gereift war. Finanziell spielte es jedoch nicht genug ein, um den hohen Schuldenberg zu finanzieren. Die Band löste sich auf und Rio nahm seinen persönlichen Gang nach Canossa auf sich. Als Einzelkünstler versuchte er sich im Genre der Popmusik. Auf diese Weise gelang es ihm, die angehäuften Bandschulden abzubezahlen.
„Da war ein Wort am Anfang der Welt“
Dass der Sänger sich selber treu geblieben ist und auch als Einzelkünstler nicht angepasster wurde, haben nicht alle Anhänger so gesehen. Bei genauer Betrachtung scheint der frisch gekrönte König von Deutschland aber sogar kreative Freiräume hinzugewonnen zu haben. Insbesondere seine Balladen wurden sinnlicher und die religiösen Motive expliziter. Bestes Beispiel: Sein letztes Soloalbum (Himmel und Hölle) öffnet mit einer Adaption des Johannesprologs: „Da war ein Wort am Anfang der Welt; ein Wort, das die dunkelste Nacht erhellt. Das Wort war Liebe (war das Wort) und das ist der Schlüssel zum großen Tor.“
Auch die Zeit als Solokünstler macht aus dem linksalternativen Musiker keinen Christrocker. Jedoch wird deutlich, dass Rio Reiser Gott und die Dimension des Religiösen weder aus seinem Protest gegenüber dem Status-quo, noch aus seinem Traum von der Möglichkeit dieser Welt ausgeklammert hat. Um auszudrücken, dass Rio Reiser auch aus theologischer Perspektive zu vermissen ist, ist es nicht notwendig, den widerborstigen Rockpoeten als Theologen zu vereinnahmen. Mit ihm ist eine spannungsgeladene Brücke zwischen linksalternativer Szene und christlicher Theologie abgebrochen, ohne dass sie jemals wirklich seitens der Theologie betreten worden wäre.
Kontaktzone für Gespräche, auf die Christinnen und Christen inicht verzichten dürfen
Papst Franziskus hat in Laudato si dazu aufgerufen, gemeinsam am Traum von der Möglichkeit dieser Welt mitzuarbeiten. Wer diesen Aufruf ernst nimmt, wird sich zunehmend an linksdominierten Diskussions- und Planungstischen wiederfinden. Kirchenmitglieder springen hierbei von der einen sprachlichen Sonderwelt in die nächste. Der Sache wegen kann von Theologinnen und Theologen erwartet werden, eine Sprachfähigkeit auch an diesen Orten zu gewinnen. Im Lebenswerk des vor zwanzig Jahren verstorbenen Ausnahmekünstlers Rio Reiser findet sich eine vielversprechende Kontaktzone für Gespräche, auf die Christinnen und Christen in der Welt von heute nicht verzichten dürfen: um Zeugnis zu geben, um das Verbindende zu benennen und um sich einzumischen, wenn die Vision einer Wirklichkeit zu klein geträumt wird.
Gerrit Spallek ist Theologe an der Universität Hamburg und Mitglied des Redaktionsteams von feinschwarz.net.
Beitragsbild: Thoralf Klein, Berlin