Hubert Wolf bescheibt in seinem Buch über Pius IX., wie im 19. Jhdt eine katholische Vergangenheit neu erfunden wurde, die bis heute schwer auf der Kirche lastet. Eine Rezension von Andreas Heek.
Die Biographie über Papst Pius IX. fördert für Theologie und Kirche eine ungeheure Peinlichkeit zu Tage. Das Zustandekommen der letzten in der Kirche festgelegten Dogmen, der unbefleckten Empfängnis Marias (1854) und der Unfehlbarkeit des Papstes (1870) beruht auf einem eklatanten Widerspruch zu allen vorherigen Verfahren von Dogmatisierungen, sprich der traditionellen Gepflogenheiten, so der Autor des Buches Hubert Wolf, Ordinarius für Kirchengeschichte an der katholischen Fakultät der Universität Münster. Denn gewöhnlich wurde erstens immer nur in äußersten Notfällen zum Mittel einer formellen Dogmatisierung gegriffen, wenn nämlich der Kernbestand christlicher Religion gefährdet war. Und zweitens wurden Dogmen nicht allein von den Päpsten formuliert und ins Recht gesetzt, sondern immer nur gemeinsam mit einem ökumenischen Konzil. Beide Grundprinzipien wurden bei den genannten Dogmatisierungsprozessen grob missachtet, auch wenn das Unfehlbarkeitsdogma formell durch das I. Vatikanische Konzil beschlossen worden ist. Dieser Beschluss kam jedoch, so Wolf, durch eine toxische Mischung aus trickreichem Intrigantentum und dann monarchisch diktierter Geschäftsordnung, taktischer Verschleppung und schlichter Zermürbung der Kritiker der Dogmatisierung zustande.
Pius IX. hat eine rein kirchliche, aber dafür globale absolutistische Monarchie errichtet.
Im Mittelpunkt dabei steht ein Mann, der am längsten aller Päpste auf dem Stuhl Petri saß: Pius IX., Giovanni Maria Mastai Ferretti. Er hat es geschafft, unter Zuhilfenahme des vatikanischen Apparates, mehr oder weniger im Alleingang beide Dogmen in das Lehrgebäude der katholischen Kirche einzufügen. Nach dem Verlust des Kirchenstaates und somit der letzten weltlichen Macht auf Erden nach 1500 Jahren, hat Pius IX. eine rein kirchliche, aber dafür globale absolutistische Monarchie errichtet. Damit hat er die Struktur und Tradition (sic!) der katholischen Kirche massiv und nachhaltig verändert (Zitat Pius IX.: „La tradizione sono io“). Könnte die Dogmatisierung der Unbeflecktheit der Empfängnis Mariens (durch ihre Mutter Anna, was viele gar nicht wissen) noch als relativ unrelevant für den Kernbestand katholischen Glaubens angesehen werden (abgesehen von der nebenbei verstärkten Desavouierung von Sexualität als unrein), so kann dies als eine Art Fingerübung für die viel dramatischere Dogmatisierung der Unfehlbarkeit des päpstlichen Lehramtes und seines absoluten Jurisdiktionsprimates angesehen werden. Vielleicht war es auch ein Testballon seitens des Vatikans, wie weit das Kollegium der Bischöfe instrumentalisierbar ist. Wahrscheinlich war es beides. Zusammengenommen stellt die Geschichte dieser beiden Dogmatisierungen eine Ungeheuerlichkeit dar, die Wolf faktenreich rekonstruiert.
Er berief sich auf eine Tradition, die es nie gegeben hat (unbefleckte Empfängnis) und führte Neuerungen ein, die allen bisherigen Gepflogenheiten widersprachen (Unfehlbarkeit).
Instruktiv für die derzeitigen theologischen Diskussionen könnte die Tatsache sein, dass das seit dem 19. Jahrhundert bis in die heutigen Tage hinein bemühte Argument, eine Weiterentwicklung der Dogmatik durch Theologietreiben sei nicht möglich, weil der eine oder andere theologische Gedanke der Lehrtradition der Kirche widerspreche, durch das Agieren Pius‘ IX. seine Schärfe und Unbedingtheit verliert. Denn sein Pontifikat berief sich einerseits auf eine Tradition, die es nie gegeben hat (unbefleckte Empfängnis), andererseits führte es Neuerungen im Procedere der Dogmatisierung kirchlicher Lehren ein, die allen bisherigen Gepflogenheiten widersprachen (Unfehlbarkeit). Sieht man von der Willkürlichkeit und somit Unseriosität des Einsetzens des Argumentes der Tradition einmal ab (vom Bezug auf die Bibel war sowieso kaum mehr als indirekt die Rede), wäre damit also durchaus heute zu arbeiten.
Doch dem steht im Wege, dass seit 1870 die katholische Kirche eben eine absolutistische Monarchie ist. Auch wenn es immer wieder Auseinandersetzungen um den Vorrang der Bischöfe von Rom vor den Ortsordinarien in der Weltkirche gab, die Beschlussfähigkeit in Bezug auf wichtige Glaubensinhalte war immer an der Synodalität mit dem Kollegium der Bischöfe gebunden. Niemals zuvor lag alle jurisdiktionale Macht allein beim Papst. Erst seit 1870 kann der Papst nicht nur im Alleingang Dogmen bestimmen, sondern darüberhinaus unumschränkt in jedes Bistum der Welt hineinregieren.
Niemals zuvor lag alle juristiktionale Macht allein beim Papst.
Das II. Vatikanische Konzil hat den Versuch unternommen, dieser Entwicklung in den Arm zu fallen und an eine kirchliche Praxis anzuschließen, die Barmherzigkeit und Menschenfreundlichkeit in den Mittelpunkt ihres Handelns stellt. Es war im besten Sinne ein pastorales Konzil. Die guten Argumente wurden aber nur unzureichend in kirchliches Recht überführt und haben die autoritäre Struktur der Kirche nicht verändert. Und so hat vor allem das Pontifikat Johannes Pauls II. strukturellen Gebrauch der eklatanten Veränderung der Kirchenverfassung durch Pius‘ IX. gemacht (Pius IX. ist dann auch von Johannes Paul II. seliggesprochen worden, was sehr umstritten war und immer noch ist). Durch die Globalisierung wurden die Kommunikationswege innerhalb der Kirche kürzer und schneller, ein Eingreifen in die Angelegenheiten von Bistümern und Universitäten leichter. So konnte Johannes Paul II. z.B. in Deutschland befehlen, dass die deutsche katholische Kirche 1998 aus der Schwangerschaftskonfliktberatung ausstieg, obwohl eine nicht geringe Zahl von Bischöfen dies nicht wollte.
Der Einfluss der Kongregation für die Glaubenslehre unter der Leitung von Kardinal Joseph Ratzinger führte Theolog*innen aller Fachrichtungen nach Statuierung zahlreicher Exempel von Lehramtsentzügen (Küng, Drewermann, Boff, um nur einige zu nennen) zu einer Selbstzensur, die jahrzehntelang eine Weiterentwicklung theologischer Topoi unmöglich machte und erst unter dem derzeitigen Pontifikat zu einer Renaissance offenen theologischen Denkens geführt hat. Da sich die Kirchenverfassung seit Pius IX. nicht geändert hat, steht diese Entwicklung jedoch auf tönernen Füßen und ist allein davon abhängig, ob der Papst instruktives theologisches Denken zulässt oder nicht.
Raum für Gott selbst, der in der Weite des Denkens zu erahnen, nicht in seiner Verengung festzumachen ist.
Umso wichtiger ist es, sich mit Kirchengeschichte zu befassen. Einer Geschichte allerdings, die, wenn man Wolf’s Buch liest, keine Hofgeschichtsschreibung ist, sondern eine wissenschaftliche, kritische und sachliche Auseinandersetzung; eine innerkirchliche Aufklärung, die Pius IX., wen wundert’s, tief verhasst war und die auch manchen heute ein Dorn im Auge ist. Das Verdienst Hubert Wolf‘s ist es, dass Geschichtsbewusstsein und nicht ein nebulöses Berufen auf „die Tradition“ theologisches Denken in den weiten Raum des sich stets offenbarenden Gottes führt. Die Zeichen Gottes in der jeweiligen Zeit – mitunter äußerst vieldeutig und oft (allzu) menschlich gefärbt – geben zu denken. Deren Deutung aber führt im besten theologischen und spirituellen Sinne nicht in eine einzige, sogar auch noch unfehlbare Deutung durch einen einzigen Repräsentanten Jesu Christi auf Erden, des Papstes, sondern lässt Raum für Gott selbst, der in der Weite des Denkens zu erahnen, nicht in seiner Verengung festzumachen ist.
Dass Geschichte auch noch gut lesbar und spannend, im allerbesten Sinne populärwissenschaftlich geschrieben ist, reiht das Buch in viele großartige historische Bücher der jüngsten Zeit ein und sei allen an der Gegenwart interessierten Leser*innen dringend empfohlen.
Hubert Wolf, Der Unfehlbare, Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert, München (C.H.Beck) 2020
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Dr. Andreas Heek leitet die kirchliche Arbeitstelle für Männerseelsorge in den deutschen Diözesen.
Bild: Ausschnitt Buchcover.