Die rabbinische Tradition liest die hebräische Bibel unter der Prämisse des absoluten Vorrangs des Lebens und überwindet damit biblische Gewaltforderungen. Bei den Salzburger Hochschulwochen 2024 hat Josef H. Chajes diesen Strang der jüdischen Überlieferung dargelegt und damit ein Beitrag zur Friedensarbeit geleistet.
Die jüdische Tradition[1] lässt sich als ein mutiger, sogar kühner Versuch der altehrwürdigen Rabbinen beschreiben, die Bibel auf eine Weise zu lesen und umzusetzen, die mit den eigenen ethischen Idealen konform ging. Josef H. Chajes hat auf den Salzburger Hochschulwochen 2024 [2] eine Vorlesung darüber gehalten, wie sich die Rabbinen insoweit moralisch für die Unantastbarkeit menschlichen Lebens engagierten. Dieses Engagement in Bezug auf die Auslegung der Schrift ging so weit, explizite biblische Rechtfertigungen heiliger Kriege und der Genozide, die sie mit sich bringen, zu neutralisieren. P. Wolfgang Sigler OSB [3] bietet hier eine auszugsweise deutsche Übersetzung des Vortrags von Josef H. Chajes:
Die mündliche neben der
schriftlichen Thorah
Wenn ich im Folgenden den Begriff „Judentum“ verwende, ist damit gemeint, was Juden die „mündliche Torah“ nennen oder eben „die rabbinische Tradition“. Die rabbinische Tradition trat etwa drei Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung auf und entwickelte sich dann allmählich neben und in polemischer Abgrenzung zum Christentum. Sie prägt jüdisches Leben seit gut zweitausend Jahren. Die Rabbinen der Spätantike nahmen für sich die höchste Autorität in Anspruch, die Bedeutung der Schrift und die Weise ihrer Durchführung festzulegen. Sie mochten sich etwa auf Dtn 17,11b berufen („Vom Urteil, das sie [verstanden als Referenz auf die Rabbinen] dir verkünden, sollst du weder rechts noch links abweichen“), aber letztlich war die Grundannahme der rabbinischen Autorität axiomatisch, eine Überzeugung a priori.
Nebeneinander von geschriebener und mündlicher Torah
Die Rabbinen nahmen eine komplexe Haltung gegenüber der Hebräischen Bibel ein. Anders als beim rabbinischen Gesetz, das demokratisch und mit Mehrheitsentscheid festgelegt wurde, war die Bibel das Ergebnis göttlicher Offenbarung. Zugleich trieben die Rabbinen die Lehre von den „zwei Torahs, der geschriebenen und der mündlichen“ voran. Hiernach wurde die geschriebene Torah vom ersten Anfang an gemeinsam mit der mündlichen Torah weitergegeben. Letztere kannten nur die Rabbinen, die einer Abstammungslinie angehörten, die auf Mose selbst zurückging und welche die jüdische Praxis festlegte. Aus analytischer Sicht gab die mündliche Torah in allem den Ausschlag, angefangen bei der Kanonisierung der Schrift selbst und in der Frage, welche Bücher zur Hebräischen Bibel gerechnet werden sollten oder nicht. Sie legte fest, ob ein Satz der Bibel im übertragenen Sinne, wortgetreu oder sogar wortwörtlich verstanden werden musste. Juden beschneiden Penisse aufgrund von Gen 17,12, nicht aber Herzen, obwohl Jer 4,3 das vorsieht.
Zu sagen, dass die Torah vom Himmel stammt, unverfälscht und unwiderruflich, bedeutet nicht, dass die Juden sie wortwörtlich verstanden. Jüdische Treue zur geschriebenen Torah wurde gänzlich über die rabbinische Tradition vermittelt. Letztlich ging es nicht darum, was explizit in der Torah geschrieben stand, denn die Rabbinen waren die alleinigen Schiedsrichter über die beabsichtigte Bedeutung.
Rabbinische Hermeneutik
Wie sich zeigt, kam diese Chuzpe oft gerade dann zum Zug, wenn der erste Wortsinn der Schrift in Spannung zu rabbinischen Werten stand. Darum geht es mir hier. In solchen Situationen verfolgten die Rabbinen verschiedene Strategien, um biblische Imperative zu neutralisieren, die ihnen grundlegend unmoralisch vorkamen oder anfällig für Missbrauch. Josh Lauffer prägte den Ausdruck der „Sacred Lie“ („Heilige Lüge“), um dieses Phänomen zu beschreiben: Der innere Kompass der Rabbinen war so ausgerichtet, dass sie nicht akzeptieren konnten, dass Gott in diesem Fällen wirklich meinte was Er sagte. Gott musste eigentlich etwas Gutes gemeint haben. Die Torah der Rabbinen wurde dadurch zur Torah, von der sie sich wünschten, Gott hätte sie gegeben, statt einer, der sie blind ergeben hätten sein müssen.
Menschliche Verantwortung gegenüber
fordernder Offenbarung
Dieser rabbinische „Widerstand“ gegen die Bibel, trotz ihres göttlichen Ursprungs, war nicht ohne biblisches Vorbild. Gottes Befehl wurde von den Patriarchen nicht immer als das letzte Wort aufgefasst, von Abrahams Verhandlung über das Schicksal der Bevölkerung von Sodom (Gen 18) zum Einspruch des Moses im Namen der Töchter des Zelofhad (Num 27). In dieser Auseinandersetzung akzeptiert Gott tatsächlich das Argument der Töchter, dass die ursprüngliche Regelung unfair war, und ändert sie ab. In diesen Erzählungen lässt sich eine Erwartung erahnen, dass menschliche Verantwortlichkeit und Moralität eine Rolle spielen, selbst wenn die Offenbarung eine unmissverständliche Forderung ausdrückt.
Absoluter Vorrang des Lebens
Der Vorrang menschlichen Lebens in ein fundamentales Prinzip des jüdischen Gesetzes und ein Grundwert der jüdischen Tradition. So enthält das Traktat Sanhedrin im Abschnitt über Gerichtsverfahren eine Mischna, die die Notwendigkeit heraushebt, Zeugen die schwere Verantwortung auf ihren Schultern aufzuzeigen, wenn es um Fälle mit möglicher Todesstrafe geht. Sie werden belehrte, dass „Adam [vom dem die Menschheit abstammt] einzeln erschaffen wurde, um uns zu lehren, dass, wer auch immer ein einzelnes Leben zerstört, vor der Schrift die ganze Welt zerstört hat, und dass wer auch immer ein einzelnes Leben rettet, vor der Schrift die ganze Welt gerettet hat.“[4] Ein weiteres Grundprinzip der Rabbinen war pikuach nefesh – das Gebot, menschliches Leben zu retten, das den Vorrang vor nahezu allen anderen Erwägungen hat. Demnach ist man sogar verpflichtet, ein Gebot zu übertreten, durch Tun oder Unterlassen, wenn dadurch ein Leben gerettet wird.
Eine kompromisslose Option
für den Wert menschlichen Lebens
Durch ihre kompromisslose Option für den unbeschränkten Wert menschlichen Lebens stellt sich die rabbinische Autorität in Hinblick auf ihr Verständnis der Hebräischen Bibel einer ihrer größten Prüfungen. Auch wenn sich sicherlich biblische Verse suchen und finden lassen, die diese Wertentscheidung untermauern, scheint doch ein beträchtlicher Teil der Bibel ihr zu widersprechen. Sie scheint kaum etwas gegen Gewalt und Vergeltung zu haben, fordert die Todesstrafe für eine Fülle von Straftaten und befiehlt den Israeliten „gebotene Kriege“, durch die bestimmte Feinde unter dem Schwert fallen sollen, scheinbar ohne Ausnahme.[5]
Unmöglichkeit des angeordneten Genozids
Vor diesem Hintergrund mussten die Rabbinen mit biblischen Anordnungen umgehen, Krieg gegen bestimmte Nationen zu führen, um sie zu zerstören. Das systematische Töten einer nationalen oder ethnischen Gruppe, um sie auszurotten, ist aber geradezu die Definition des Genozids.[6] Den Rabbinen gelang es kunstfertig, solche Anordnungen maßgeblich abzuschwächen.
Kein zwingender Krieg
in jeweiliger Gegenwart
Der Talmud geht grundsätzlich von zwei Kriegsarten aus: zwingend und nach Ermessen. Hinsichtlich der Ermessenskriege findet sich eine Fülle von Regeln, die menschliches Leben schützen sollen, sei es für Nichtkombattantinnen oder Kombattanten. Bezogen auf zwingende Kriege unterschieden die Rabbinen drei Fallgruppen, von denen zwei auf klaren biblischen Anordnungen beruhten. Die erste war der Krieg gegen die sieben kanaanäischen Nationen, den Joshua führte (vgl. Dt 7,1-2).
Gemäß der rabbinischen Tradition verloren diese sieben Nationen ihre ausgeprägte Identität noch in alter Zeit und existierten als solche nicht mehr. Im Ergebnis war also diese Art des zwingenden Krieges nur noch von historischem Interesse. Weiterhin bestimmten die Rabbinen, dass keine zeitgenössischen nicht-jüdischen Anwohner im Land Israel als einer dieser sieben Nationen zugehörig klassifiziert werden können. Die Rechtsprechung zu den sieben Nationen war streng bezogen auf das alte Kanaan und konnte nicht als Präzedenzfall für aktuelles Handeln herangezogen werden.
Amalek ist nicht mehr
Die zweite maßgebliche Art des zwingenden Krieges war der Krieg gegen Amalek, einen nomadischen Stamm, der in der Wüste Sinai und Negev umherzog. Die biblische Genealogie führte ihn auf Esau, den Sohn Isaaks, zurück. Die Amalekiter waren in der Bibel „die“ Feindnation Israels. Die unverzeihliche Sünde der Amalekiter ist ein Hinterhalt gegen die Israeliten bei Refidim während des Auszugs aus Ägypten (Ex 17,8-16). Ihre Niederwerfung ist nur schwer zu erreichen. Israels militärische Stärke hängt ganz vom Vermögen des Moses ab, seine Hände und den wunderwirkenden Stab während des nachfolgenden Kampfes erhoben zu halten. Die erschütternde Immoralität des amalekitischen Hinterhalts gegen gerade befreite Sklaven führte zu einer besonders harschen biblischen Anordnung, die sich in Deuteronomium wiederfindet:
Erinnere dich, was Amalek dir auf deinem Weg antat, nachdem du Ägypten verlassen hattest. Wie er dich, unbeeindruckt von der Furcht Gottes, während des Marsches überraschte, als du noch ausgehungert und matt warst, und wie er alle Nachzügler am Ende des Zuges niedermähte. Also, wenn dir dein Gott der Herr Sicherheit vor allen Feinden um dich herum gewährt, in dem Land, das Gott der Herr dir zum Erbteil gibt, sollst du das Gedächtnis an Amalek unter dem Himmel austilgen. Vergiss es nicht. (Dtn 25,17-19)
Amalek als Feind schlechthin –
der nie zu mehr zu identifizieren ist
Beim Krieg gegen Amalek ging es um die vollständige Vernichtung. Dieses Ziel wurde allerdings in der biblischen Ära nie erreicht. Die Amalekiter greifen die Israeliten fortdauernd an, wie Numeri, das Buch der Richter, das erste und zweit Buch Samuel, das erste Buch der Chroniken und sogar die Psalmen (Ps 83,7) berichten. Wie im Fall der sieben Nationen, stellen viele rabbinische Autoritäten klar, dass Amalek in keiner identifizierbaren Form mehr existiert. So ist die Verpflichtung, sie auszurotten, im Endeffekt überholt. Selbst die Rabbinen, die Amalek als den archetypischen Feind der Juden und als Symbol des Bösen einordneten, verlangten kein Handeln im Hier und Jetzt. Selbst wenn sich eine Person oder eine Gruppe als amalekitisch identifizieren ließe, war es rabbinischer Konsens, dass der eigentliche Kampf gegen sie sich im messianischen Zeitalter abspielen würde, sobald wieder ein gesalbter König über Israel regiert. Vielleicht noch auffälliger ist ihre Betonung von Vers 18: „wenn dir dein Gott der Herr Sicherheit vor allen Feinden um dich herum gewährt.“ So konnte die Anordnung nur auf eine Zeit von Frieden und Sicherheit im Land Israel bezogen werden. Das aber heißt, dass Amalek nicht mit welchen Feinden auch immer an Israels Landesgrenzen identifiziert werden kann.
Rhetorische Identifizierungen
als Amalek
Ungeachtet dieser Beschränkungen – das typologische Bild des Amalek als das Böse schlechthin, den Feind Israels, der sich der genozidalen Zerstörung des jüdischen Volkes verschrieben hat, führte Juden dazu, Amalek mit allen zu identifizieren, die unsere Ausrottung verfolgten – von Haman (Est 3,6) bis Hitler. Von „Mein Kampf“ bis zur Hamas-Charta von 1988 wurden moderne Feinde der Juden, die kein Hehl um ihre genozidalen Absichten machen, mit „Amalek“ identifiziert. Solche Identifizierungen aber müssen als rein rhetorisch verstanden werden. Selbst in einer vorstellbaren Zukunft, in der Israel nicht mehr eine liberale Demokratie, sondern eine Theokratie ähnlich der Islamischen Republik Iran wäre – es wäre für die rabbinischen Anführer einer solchen gedachten Theokratie schwierig, einen mutmaßlich „zwingenden“ Krieg gegen Feinde zu führen, der auf einer Identifizierung mit Amalek beruht.
Die dritte Fallgruppe zwingenden Krieges wird in der Folge als „reaktiv-defensiv“ beschrieben und untersteht hohen ethischen Ansprüchen, die sich bis ins heute geltende, geschriebene Militärrecht Israels hinein auswirken.
Was der Krieg in Gaza nicht ist
Der aktuelle Krieg geht auf ein Gemetzel an jungen Menschen zurück, die sich auf einem Musikfestival für Frieden und in einigen Kibbuzim aufhielten, also unbewaffneten landwirtschaftlichen Kommunen, die einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Friedensaktivisten aufweisen. Es war wirklich einfach, die Angreifer als den aktualisierten Amalek zu sehen. Auch wenn ich ausgewiesener Gegner der aktuellen israelischen Regierung bin, würde ich zustimmen, dass die Bezeichnung der Hamas als „Amalek“, wie sie in Den Haag gebraucht wurde, keinen wirklichen Einfluss auf den Kriegsverlauf hatte und eher einem lang etablierten typologischen Sprachgebrauch entspricht. Sind viele Israelis gleichgültig gegenüber dem Leiden der Non-Kombattanten in Gaza? Ja, wahrscheinlich. Verfolgt Israel einen „zwingenden Ausrottungskrieg“ oder Genozid gegenüber der Bevölkerung Gazas? Auch mit brennender Sorge und klagend über die verlorenen Menschenleben in Gaza, wird die Antwort dennoch sein: „Nein.“ Der Krieg in Gaza endet am selben Tag, an dem die Hamas die Geiseln herausgibt und kapituliert. Das ist nicht, wie Genozide enden.
Eintreten für das Leben – damals wie heute
Als Bürgerinnen und Bürger dieser Welt, die für das Leben eintreten, ist es unsere Aufgabe, religiöse Überlieferungen, die als Muster für die edelsten Impulse im Menschen dienen können, zugleich zu feiern und weiterzutragen. Ein solches Vorbild kann der Gegenstand der vorliegenden Fallstudie sein. Die dargestellte komplexe historische Tradition musste mit einem heiligen Text umgehen, der oft in Widerspruch zu den moralischen Empfindungen der Menschen zu stehen schien, denen er anvertraut war. Den Rabbinen der Spätantike gelang das in ihrer Zeit. Wege in der heutigen Zeit zu finden, ist unsere Aufgabe. Unser Einsatz für das Gute und das Leben muss auch heute entschieden sein. Jede Gottheit, an die es sich zu glauben lohnt, wird zustimmen.
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Übersetzung:
Titelbild: Lisa Summerour / unsplash.com
Der vollständige Text:
[1] Genauer: die rabbinische Tradition, die begründet, was man „Judentum“ nennt, und die emisch als die „mündliche Überlieferung“ gefasst wird.
[2] English Lecture der Salzburger Hochschulwochen am 30.7.2024, eine Zusammenarbeit mit der Crossculture Religious Studies Summer School der Paris-Lodron-Universität Salzburg.
[3] Der ursprüngliche Vortrag in englischer Sprache ist hier abrufbar. Der vorliegende deutsche Text wurde von Josef H. Chajes autorisiert.
[4] Diese Passage wurde übrigens in Sure 5,32 des Koran paraphrasiert.
[5] Es folgen Ausführungen zur lex talionis, Ex 21 par. Lev 24, zur Todesstrafe für den rebellischen Sohn, Dtn 21,18-21, die aufgrund ausführlicher zusätzlicher Voraussetzungen de facto unmöglich wird, und zu weiteren Mishna bzgl. der nicht zu verhängenden Todesstrafe. Im Traktat Makkot des Talmud ist entsprechend ausgeführt: Ein sanhedrin, der in sieben Jahren eine Exekution anordnet, gilt als blutrünstig. Rabbi Elazar Ben Azariah sagt: „Eine Exekution in siebzig Jahren.“ Rabbi Tarfon und Rabbi Akiva sagen: „Wenn wir Teil des sanhedrin wären, würde niemals jemand exekutiert.“
[6] Der Begriff des Genozids, von altgriechisch „γένος“ / Volk und lateinisch „caedere“ / töten, morden wurde in den 1940ern vom polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin geprägt, allerdings bezogen auf den Holocaust.