Die Freiburger Theologin Franca Spies entführt in aktuelle bibeltheologische Diskurse.
Systematische Schwierigkeiten
Die Bibel hat es dieser Tage nicht leicht – nicht nur im gesellschaftlichen Leben hat sie an Bedeutung eingebüßt, auch der (systematisch-)theologische Binnendiskurs tut sich schwer, gerade die Ergebnisse der historisch-kritischen Forschung gedanklich anschlussfähig zu machen. Den Grund dafür mag man in der Komplexität der Exegese ausmachen: Schon vom Wesen der Bibel her ist ihr die theologische Pluralität gewissermaßen ins Stammbuch geschrieben, durch die faktische Vielzahl der Auslegungen einzelner Texte verschärft sich die Lage. Die Kohärenz-verliebten systematischen Theolog_innen sehen sich schonungslos mit diesen Pluralismen konfrontiert. Bemühen sie sich der Aufgabe ihres Faches entsprechend darum, in den diversen Exegese-Bäumen das Ganze des Christentums-Waldes zu erkennen (ein Bild, das ich meinem Lehrer Peter Walter verdanke), müssen sie bisweilen die Spezifika der Bäume missachten, um die Systematik des Waldes aufrecht erhalten zu können: Sie sehen vor lauter Wald die Bäume kaum.
An der Frage, ob mit diesem hermeneutischen Prozess die Gefahr der Vereinnahmung biblischer Texte zugunsten christlicher Logik einhergeht, entzündete sich zuletzt die Debatte um Notger Slenczka, in der sich ein der Theologie eigenes Unbehagen am Pluralismus manifestiert. Ist sie singularisch Christus-bezogen, muss sie aus diesem ihrem Selbstverständnis heraus die Pluralismen, die ihr Welt und Bibel vor Augen halten, meiden wie der sprichwörtliche Teufel das Weihwasser: entweder durch christologisches Kanalisieren der Vielfalt – eine Vereinnahmung, gegen die sich (nicht nur) Slenczka wehrt – oder durch Ausklammern pluraler Zeugnisse aus dem eigenen religiös-normativen Sprechen.
Pluralismus-Problem der Bibel
Das Pluralismus-Problem der Bibel aus Sicht der Systematik ist – überspitzt formuliert – ein dreifaches: Erstens fehlt ihr möglicherweise der rote Faden oder aber sie besitzt sehr wohl einen, zu dem jedoch nicht alle Einzelteile passen, denen man aber gerne dennoch gerecht werden würde. Zweitens können sich ihre heutigen Interpret_innen und in dieser Funktion auch Anwält_innen gegenüber der Systematik schon im Falle der Einzelteile selten einigen, was diese zu bedeuten haben. Und drittens: Liegt eine Interpretation vor, wenn auch nur von Einzelteilen der Einzelteile, bedeutet dies noch lange nicht, dass man mit ihrem Ergebnis arbeiten kann und will – anders gesagt: Vielleicht tritt gerade dort etwas Unliebsames zutage. Ein Beispiel soll das erläutern.
Das Stocken angesichts der Verstockung
Wohl kaum ein Autor der Heiligen Schrift musste so viele Interpretationen über sich ergehen lassen wie Paulus. Sein theologisches Fundament ist heute umstritten: Galt er lange Zeit als biblischer Gewährsmann der Rechtfertigungslehre Luthers, stellen Vertreter_innen von New und Radical Perspective on Paul sein Apostolat für die Heid_innen und seinen jüdischen Hintergrund als Interpretationsmaßstäbe heraus. Der Autor lebt. In diesem Zusammenhang richtet nicht nur die Exegese ihr Augenmerk auf die Israel-Theologie von Röm 9-11, auch die systematische Theologie findet darin – gerade im Zuge der religionstheologischen Bemühungen mit und nach dem Zweiten Vaticanum – einen wichtigen Bezugspunkt. So erkennen die Erklärung Nostra Aetate und viele ihrer Interpret_innen in den drei Kapiteln, insbesondere im mysterion von Röm 11,25-27, einen frühen Beleg inklusivistischer Tendenzen in den normativen Texten des Neuen Testaments.
Ihr Thema findet die Passage in der Verheißungstreue Gottes, der sich angesichts des fehlenden Christus-Glaubens Israels den Vorwurf gefallen lassen muss, mit seinen Heilszusagen sei es nicht weit her. Es handelt sich also um eine Theodizee. In der Apologetik der göttlichen Treue erscheint ein Motiv, das der Jude Paulus aus seinen heiligen Schriften übernimmt und das wirkungsgeschichtlich vor allem in Luthers De servo arbitrio bedeutsam wurde: die Verstockung. Im angesprochenen mysterion von Röm 11,25-27 fungiert sie als zeitlich begrenzte Maßnahme Gottes gegenüber Israel, die eine Möglichkeit der Heilsteilhabe der Heiden bedingt. Dadurch bleibt der Weg auch des im paulinischen Sinne ungläubigen Israel unter Gottes Fittichen, wird aber gleichzeitig mit dem der Heiden verwoben und damit in das Gros einer christlichen Heilsgeschichte eingebunden. Diesen Gedanken hat Paulus vorbereitet: Paradigmatische Paare wie Jakob und Esau oder Mose und Pharao führen in Röm 9 die Thematik der Licht- und Schattenseiten göttlicher Berufung ein. Je beide stehen unter dem Willen Gottes, insofern er an den „heilsgeschichtlich Benachteiligten“ verstockend handelt (9,18).
Gott in Lebensgefahr
Ausgehend von der Pluralismus-sensiblen Annahme, die Bibel erzähle viele menschliche Geschichten über den einen Gott, ließe sich an eine solche Interpretation des Verstockungsmotives in Röm 9-11 anschließend formulieren: Paulus erzählt von einem gleichermaßen treuen wie geschichtssouveränen und insofern freien Gott, der, in der Spannung dieser seiner Prädikate, eine Geschichte seines Volkes komponiert, an deren Ende Letzteres – trotz zwischenzeitlich fehlenden Glaubens – das Heil erhoffen darf. Durch diese Vorstellung gelingt es Paulus, Israels Ablehnen des Evangeliums mit dem Willen Gottes zu harmonisieren, seinen Sieg bei augenscheinlicher Niederlage zu postulieren: Ein heilsgeschichtliches „Sein Wille geschehe“ bildet die Kohärenz der vorgetragenen Gedanken.
Negation der menschlichen Vernunft
Der im vergangenen Jahr verstorbene Philosoph Odo Marquard griff den durch Nietzsches „tollen Menschen“ verkündeten Tod Gottes auf, um sogleich zu diagnostizieren, die Todesursache liege in der göttlichen Allmacht. Wenn Gott jederzeit nach Belieben in das Weltgeschehen eingreifen könne, mache er sich zur Negation der menschlichen Vernunft: eine potentia absoluta lasse dem Menschen keinen Raum zum Denken, sondern lediglich zum Akzeptieren. In der Folge suche sich die Vernunft Aktionsbereiche, die dem göttlichen Zugriff entzogen sind – wohlgemerkt außerhalb der Theologie: „Wo Gott nicht mehr Vernunft, sondern Wille, d. h. der freie (allmächtige, beendende, die Diesseitswelt irritierende und negierende) Gott der Heilsgeschichte sein wollte oder sollte und die Vernunft theologisch verstoßen ward, musste sie die Bedingung der Emanzipation auf sich nehmen, um Vernunft zu bleiben.“[1]
Im Motiv der Verstockung kann man den Versuch erkennen, faktisches Geschehen und Gottesglauben miteinander zu einem heilsgeschichtlichen Konzept zu synthetisieren. Das jedoch birgt Gefahren: Wo vergangene und gegenwärtige Geschichte als mit dem Willen Gottes kongruent gelten, ist der Schritt dahin, auch künftiges Weltgeschehen zur Sache Gottes zu machen, nicht weit. Geschichte löst sich vom Tun des Menschen, im undurchschaubaren heilsgeschichtlichen Zirkel von Entfremdung und Versöhnung mit dem verstockenden und erwählenden Gott bleibt ihm – trotz Aussicht auf ein Happy End – eine passive Rolle. Zweifelsohne ist dieser Gott denkmöglich, doch mag man es als den Menschen und Gott angemessener sehen, dass Letzterer die Geschichte in ihre Freiheit entlässt. Konzepte wie das der Verstockung bringen Gott in Lebensgefahr.
Die biblische Grundoption
Die Bibel hatte es auch hier nicht leicht: Ein ausgewähltes Motiv aus einem Text eines biblischen Autors wurde in einer möglichen Interpretation vorgetragen und musste sich dann, als ein so zustande gekommenes theologisches Konzept unter vielen, eine im Anschluss an einen bekennend atheistischen Philosophen vorgetragene systematisch-theologische Sachkritik und das Entgegenstellen eines Alternativkonzeptes gefallen lassen. Unter der Voraussetzung, dass beide – „Original“-Konzept und Alternative – als zwei mögliche theologische Narrative unter vielen gelten, die freilich unterschiedliche Autorität für sich beanspruchen können, muss dieser Umgang mit der Schrift möglich sein: Ein Bekenntnis zum narrativen Pluralismus in der Theologie wird dem Wesen der Bibel selbst gerecht und schützt ihre Einzelteile vor Vereinnahmung.
In der systematischen Theologie ertönt dieses Bekenntnis leider zu selten: Die „theologische Hermeneutik mußte […] in den vielen biblischen Geschichten stets die eine Geschichte, die nottut, die Erlösungsgeschichte wiederfinden und also stets […] im vielfältigen ‚Buchstaben‛ der Schrift den einen einzigen ‚Geist‛. Ich möchte dies die singularisierende Hermeneutik nennen und sie von der pluralisierenden Hermeneutik unterscheiden, die – umgekehrt – in der einen und selben buchstäblichen Gestalt viele Sinnmöglichkeiten und verschiedenartigsten Geist aufspürt.“[2] Was Marquard hier als pluralisierende Hermeneutik bezeichnet, entspricht letztlich der Hermeneutik und den vielfältigen Ergebnissen der historischen Kritik. Diese können und sollten die systematische Theologie dazu herausfordern, möglichst wenige denkerische Alternativlosigkeiten zu vertreten, eine singularisierende Minimallösung zu suchen. Sodann kann die systematische Theologie nicht nur mit weniger Bauchschmerzen an den Pluralismus der Bibel denken, sondern sich zudem eine biblische Grundhaltung zu eigen machen: An die Stelle des den Einzelteilen nicht gerecht werdenden Waldes im Singular tritt der Plural der Bäume. In der Folge sinkt das, was Jan Assmann einst als das „Gewaltpotential“ der monotheistischen Religionen bezeichnete: Pluralisierende Hermeneutik „entschärft […] – potentiell tödliche – Auslegungskontroversen, indem sie das rechthaberische Textverhältnis in das interpretierende verwandelt: in ein Textverständnis, das […] mit sich reden läßt; und wer mit sich reden läßt, schlägt möglicherweise nicht mehr tot.“[3]
Es muss auch in der Theologie viele Narrative geben
Damit ist keinem Relativismus das Wort geredet. Was die angesprochene Minimallösung des christlich-theologischen Singularismus angeht, kann man sagen: Alternativlos ist der Christus, alternativlos das Narrativ der Menschwerdung Gottes, alternativlos also die Bereitschaft des einen Gottes, sich in die Pluralismen der Welt zu geben, alternativlos seine Menschenfreundlichkeit. Es darf daher nicht nur, es muss auch in der Theologie viele Narrative geben, um Menschen und Welt gerecht zu werden. Dann kann es ihr nicht wehtun, ein (biblisch-)theologisches Narrativ als solches stehen zu lassen, ohne es christologisch zu überformen. Sie darf es aber, sei es explizit christologisch oder nicht, einer Sachkritik unterziehen – auch um es vor dem Anspruch einer menschenunfreundlichen Alternativlosigkeit zu beschützen.
[1] Vgl. Marquard, Odo, Der Einzelne. Vorlesungen zur Existenzphilosophie (hg. von Franz Josef Wetz), Stuttgart 2013; Zitat: 67.
[2] Marquard, Odo, Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in: Ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981, 117-146, 129.
[3] Ebd., 130.
(Bildquelle: Pixelio)