Jesus – der Wanderprediger. Zahlreiche Vorlesungen, Predigten und Kinderbibeln vermitteln dieses Bild. Aber ist das schon die ganze Wahrheit? Andrew Doole bürstet ein gängiges Jesusbild gegen den Strich.
Der obdachlose Jesus, der mit seinem Gefolge von Dorf zu Dorf zieht und predigt, der keinen Besitz hat und die Seligkeit der Armut verkörpert, ist der Jesus der Franziskaner, der Jesus der Befreiungstheologie, der Jesus der Sozialgerechtigkeit und größtenteils auch der Jesus der christlichen Tradition schlechthin. Dieses Jesusbild basiert überwiegend auf dem Spruch: „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester, aber der Menschensohn hat nicht, wo er das Haupt hinlege.“ (Mt 8,20 // Lk 9,58). Deswegen gilt das Haus in Kafarnaum, das sehr früh zu einem christlichen Treffpunkt wurde, als „Haus des Petrus“. Wenn „Jesus aus Nazaret“ nach Kafarnaum kommt, dann muss er irgendwie bei Petrus übernachten (Mk 1,29–35). Doch die Evangelien bieten eine andere Geschichte, indem sie mehrmals erzählen, dass Jesus selbst „zuhause“ war.
Die Evangelien sind inkonsistent.
Das Thema „Haus“ ist in den Evangelien genauso gespalten wie das Thema „Familie“. Jesu Jünger müssen alles verlassen, um ihm zu folgen (Mk 10,28). Jesus selber verlässt seine Heimatstadt (Mt 4,13 // Lk 4,31), verleugnet seine Familie (Mk 3,33–34) und bringt Spaltung und Konflikt in das Haus (Mt 10,35–37 // Lk 12,52–53). Um Jesu Jünger zu werden, muss man die eigenen Familienmitglieder hassen (Lk 14,26) und ihnen die Beerdigung verweigern (Mt 8,21–22). Gleichzeitig lehrt Jesus einen gewissen Gehorsam (Mk 7,10 // Mt 15,4; Mk 10,19), und sowohl die Schwiegermutter von Petrus (Mk 1,29–31) als auch die Mutter des Johannes und des Jakobus (Mt 20,20–21) tauchen im Narrativ auf. Obwohl Jesu Geschwister nicht an ihm glauben (Joh 7,5), wird sein Bruder Jakobus in der Apostelgeschichte zu einer führenden Figur der christlichen Gemeinde in Jerusalem. Die Evangelien sind inkonsistent, was Familie betrifft.
Genau diese Spannung findet man auch zum Stichwort „Haus“. Das dürfte nicht überraschen, denn die Themen „Haus“ und „Familie“ sind natürlich eng verknüpft. Schauen wir also in den Evangelien nach, inwiefern Jesus obdachlos ist, und wie und wann er dann „zuhause“ sein kann!
Im Markusevangelium gibt es ein Haus. Welches Haus? Wessen Haus? Es könnte eine historische Wahrheit widerspiegeln oder ein Motiv des Evangelisten sein. Oder beides. Jesus ist oft in Häusern (z.B. Mk 5,35–43), redet über Häuser (z.B. Mk 3,27), schickt Geheilten „nach Hause“ (z.B. Mk 7,30), sendet seine Jünger aus in Häuser (Mk 6,7–13) und wird in einem Haus gesalbt (Mk 14,3). Im Markusevangelium geschieht viel mehr in Häusern als in Synagogen oder im Tempel.
Ein Haus in Kafarnaum?
Das erste Haus, das erwähnt wird, befindet sich in Kafarnaum und gehört Simon und Andreas. Das könnte als das „Haus“ für den Rest des Evangeliums, für die Archäologie, und für die gesamte Geschichte des Christentums dienen. Doch es steht nirgends geschrieben, dass Jesus in diesem Haus bleibt. Als er wieder nach Kafarnaum kommt, findet man ihm „zuhause“ (Mk 2,1). Von diesem Haus wird jetzt das Dach abgemacht (Mk 2,4), ohne dass sich Petrus, Andreas oder die Schwiegermutter irgendwie beschweren. Jesus geht nachher am See spazieren, kommt zurück und ruft einen Zöllner namens Levi zur Nachfolge (Mk 2,13–14). Die Deutung des folgenden Verses bringt Probleme: „und als er in seinem Haus war“ (Mk 2,15). Wessen Haus? Wenn das Haus dem Zöllner gehört, hat Jesus dann jetzt zwei Häuser im Dorf, die ihm zur Verfügung stehen? Aber Levi soll Jesus folgen, also führt der Weg wahrscheinlicher ins Haus Jesu! Das ergibt meines Erachtens mehr Sinn, wenn die Pharisäer nachher klagen, dass Jesus mit Zöllnern isst: ihre Anwesenheit und Empörung ist besser zu erklären, wenn sie Jesus bei sich zuhause beobachten. Jesus ist gekommen, nicht Gerechte sondern Sünder zu rufen … oder vielleicht „einzuladen“ (Mk 2,17)!
Jesus zieht auf einen Berg hinauf, um die Zwölf auszuwählen, kommt dann zurück „ins Haus“ (Mk 3,19b). In diesem Haus besuchen ihn „die Seinen“ (Mk 3,21) und „seine Mutter und seine Geschwister“ (Mk 3,31–32). Wahrscheinlicher, als dass sie ihn suchen und bei Petrus oder Levi zuhause finden, ist die Annahme, er ist bei sich zuhause.
Bisher war „das Haus“ im Markusevangelium ein Ort, wo es kaum Platz gibt. Plötzlich wird es aber zu einem Ort der Privatsphäre, wo die Jünger privat unterrichtet werden können (Mk 7,17; 9,28; 9,33; 10,10). Nicht all diese Häuser sind aber in Kafarnaum, also „das Haus“ scheint hier wirklich ein literarischer Topos zu sein. Das spricht jedoch wieder für die These, dass Jesus ein Haus hatte. (1.) Es gibt Traditionen über Jesus „zuhause“ in Kafarnaum, und (2.) diese Idee von Jesus in seinem Haus beim Unterricht hat so tief in die Erinnerung hineingewirkt, dass er auch unterwegs „zuhause“ sein kann!
Reste einer Tradition
Im Matthäusevangelium ist Jesus in einem Haus in Bethlehem geboren (Mt 2,11) und die heilige Familie muss umsiedeln (Mt 2,23; griech. katoikeō, engl. move house). Der erwachsene Jesus zieht dann nach Kafarnaum (Mt 4,13) um. Matthäus lässt die vielen Erwähnungen von Jesu Haus in Kafarnaum aber aus. Die Ausnahme ist interessanterweise die Berufung des Zöllners (Mt 9,9–10). Jesus ist bei sich zuhause, und viele Leute kommen ihn dann besuchen: Pharisäer (Mt 9,11), die Jünger des Johannes (Mt 9,14), ein trauernder Vater (Mt 9,18), und sogar zwei Blinde (Mt 9,27–28a)! In Mt 9 wissen alle, wo Jesus zu finden ist: daheim!
Matthäus hat aber auch Erwähnungen über Jesus „zuhause“, die nicht bei Markus sind. Jesus verlässt sein Haus, um am Seeufer Gleichnisse zu erzählen (Mt 13,1), kehrt dann zurück in sein Haus, wo ihn seine Jünger über die Gleichnisse befragen (Mt 13,36). Die Zöllner, die die Tempelsteuern einsammeln, suchen Jesus in seinem Haus (Mt 17,24–27). Es gibt also auch bei Matthäus weitere Reste einer Tradition von einem Haus Jesu in Kafarnaum.
Für Lukas ist Jesus eher obdachlos. Obdachlos geboren (Lk 2,6–7), aber als Kind zuhause in Nazareth (Lk 2,39.51). Jesus unterrichtet seine Jünger nicht privat und er lädt keinen zu sich ein. Stattdessen wird Jesus im Lukasevangelium ständig selber als Gast eingeladen: bei Simon (Lk 4,38–39), bei Levi (Lk 5,29), bei einem Pharisäer (Lk 7,36–37.44–46) und bei Zachäus (Lk 19,1–10). Gastfreundschaft, Gastmähler, Tischetikette und Dienst sind wichtig Themen für Lukas. Der Menschensohn, der kam, um zu dienen, wird eher als Gast dargestellt.
Für Johannes beginnt die Geschichte Jesu im Himmel. Sobald er auf Erden ist, hat er einen Ort, wo er wohnt (Joh 1,39), aber er zieht sofort nach Galiläa um (Joh 1,43). Nicht allein, sondern mit seiner Mutter und seinen Brüdern, zieht er dann weiter nach Kafarnaum, bleibt aber nicht lange dort (Joh 2,12). Der johanneische Jesus ist ständig unterwegs, nach Jerusalem, Kana, Bethanien, hin und her. Er sagt, „Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen.“ Für Johannes wohnt Jesus ja im Himmel, und sonst nirgendwo.
Stationäre Jesus-Bewegung
Die Spannung zwischen dem idealen Familienbild und einer starken Familienfeindlichkeit in den Evangelien lässt sich auch für die Frage „Jesus zuhause oder Jesus obdachlos?“ nachweisen. Es ist vielleicht keinen Zufall, dass genau die zwei von den WissenschaftlerInnen als später anerkannten Evangelien (Lk und Joh) die Tendenz zeigen, Jesu Haus aus der Geschichte zu streichen. Im Frühchristentum gab es noch Geschichten über Jesus „zuhause“, wie Markus und Matthäus bezeugen. Woher also dieser obdachlose Jesus? Das Phänomen, alles zu verlassen und alles zu riskieren, könnte mit dem Aufgang nach Jerusalem verbunden sein. Oder mit dem Missionieren der Apostel nach Osten. Auf jeden Fall gibt es starke Hinweise, dass die Jesus-Bewegung ursprünglich stationär war. Man hat sich getroffen … im Haus Jesu!
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Andrew Doole lehrt Neutestamentliche Exegese in Innsbruck.
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