Wenn der synodale Prozess gelingen soll, muss die lähmende Macht vorgeblich alter oder gar unveränderbarer Traditionen gebrochen werden. Der Zwischenruf von Eva-Maria Faber unterstreicht die Notwendigkeit eines ehrlichen Umgangs mit der Geschichte kirchenamtlicher Festlegungen, damit die synodale Kirchenreform nicht in einem vermeintlich unhintergehbaren Rahmen steckenbleibt.
In synodalen Prozessen und Diskussionen weisen viele Aussagen auf eine noch ausstehende synodale Gestalt der Kirche[1]. Das Instrumentum laboris 2023 fragt nach Freiräumen, in denen die Ortskirchen «ausprobieren» könnten, welche Taufämter für sie geeignet wären[2]. Neu zu entdecken sind Formen von Dezentralisierung und die Rolle von Zwischeninstanzen. Solche Herausforderungen fordern ein experimentelles Vorgehen, bevor schon ein konturiertes Ziel vor Augen steht.
Bisherige Rahmenvorgaben auf den Prüfstand stellen
Dafür ist hinderlich, dass kirchenamtliche Festlegungen der römisch-katholischen Kirche zu Lehre, Recht und Praxis in vielen Hinsichten wenig Spielräume lassen. Dies lähmt ein experimentelles Vorgehen, solange keine Bereitschaft besteht, bisherige Rahmenvorgaben auf den Prüfstand zu stellen. Dazu bedarf es der Rechenschaft darüber, dass solche Festlegungen selbst gewachsen sind und oft Antworten auf spezifische Situationen waren. Aus theologischer Perspektive ist es darum dringlich, zusammen mit der Suche nach einer synodaleren Kirche einen historisch informierten Umgang mit Lehr- und Praxisentwicklung zu pflegen und den bestehenden Rahmen in kritischer Selbstreflexion zu hinterfragen.
Aufrichtig mit der eigenen Geschichte umgehen
Für viele scheinbar unveränderliche Festlegungen der heutigen Kirche sind die Kontinuitäten tatsächlich eher gebrochen und schmal[3]. Als Beispiel können die unverrückbar scheinenden Ämterstrukturen dienen. Weder war der Ordo immer dreigliedrig noch wurde die Bischofsweihe immer als Sakrament angesehen noch wertete man immer die Handauflegung als Kernritus der Ordinationshandlung. Bis ins Mittelalter schlossen Ordolisten zudem Frauen (z.B. Diakoninnen, Äbtissinnen) ein[4]. Würden diese Einsichten beachtet, so müssten manche gewundenen Reflexionen der Synodendokumente zu den ordinationsgebundenen Ämtern und den «Taufämtern» anders ausfallen. Ein anderes Beispiel: Erst der CIC 1917 enthielt die gemeinrechtliche Regelung, dass der Papst die Bischöfe ernennt. Es stehen also keineswegs alte Traditionen gegen ein beherztes Nachdenken über den Einbezug ortskirchlicher und das Volk Gottes repräsentierender Instanzen bei der Auswahl der Bischöfe.
Kirchenoffizielle Darstellungen wenig aufrichtig
Manche Strukturen, die heute als in der Tradition verankerte Vorgaben gelten, waren eigentlich Innovationen, die allerdings gern als Kontinuität verschleiert auftraten. So brachte das 1. Vatikanische Konzil für das Papstamt Innovationen, für die der Rekurs auf frühere Konzilien (vgl. DH 3065–3068) nur vermeintlich ein Fundament gibt.
Es ist für die historisch arbeitende Theologie befremdlich, dass kirchenoffizielle Darstellungen so wenig aufrichtig mit der Geschichte kirchlicher Lehre und kirchlicher Strukturen umgehen. Warum sind sie so resistent dagegen, sich als lernfähig und manchmal auch umkehrfähig zu zeigen? Es bedarf der Bereitschaft zu kritischer Selbstreflexion. Die folgende Reflexion möchte anzeigen, wie tief diese reichen müsste.
Kritische Selbstreflexion
Emphatisch-tautologisch heisst es in der deutschen Fassung des Vademecum zum Synodalen Prozess: «Die Kirche erkennt die Synodalität als einen wesentlichen Bestandteil ihres Wesens an» (1.3; englisch: «The Church recognizes that synodality is an integral part of her very nature»). Folgerichtig spricht das Vorbereitungsdokument 2021 im zweiten Abschnitt von einer konstitutiv synodalen Kirche.
Eine solche ekklesiologische Aussage liest sich, als handele es sich um eine Wesensbestimmung, die immer und überall Gültigkeit hatte. In historischer Perspektive ist allerdings nüchtern festzustellen: Dieses konstitutiv synodale Wesen ist in der Vergangenheit oft nur sehr partiell verwirklicht worden. Manche Synodentexte geben dies zu, andere laufen einmal mehr auf eine Kontinuitätsfiktion hinaus. Das Eingeständnis der defizitären Verwirklichung von Synodalität in der Vergangenheit und bis in die Gegenwart hinein macht eine kritische Selbstreflexion auf die bisherige Geschichte der Kirche und ihrer Traditionen unabdingbar. Sie betrifft auch die Beurteilung kirchenamtlicher Entscheidungen, die an der Wurzel aktuell geltender Vorgaben stehen.
frühere Entscheidungen kaum synodal
Eine synodale Kirche soll und will «alle Charismen, Berufungen und Ämter in der Kirche zur Geltung» bringen (IL 2024, 9) und eine «breite Beteiligung an den Unterscheidungsprozessen» anstreben, mit besonderer Aufmerksamkeit für die Erfahrungen der Menschen «am Rande» (vgl. IL 2024, 60). Wird im Vergleich nicht auf abgründige Weise offenkundig, dass frühere Entscheidungen kaum synodal waren, darum nicht selten zu einseitig und zu wenig in der Lebenspraxis verankert waren, wenn sie nur bischöflich oder gar nur päpstlich bzw. vatikanisch getroffen wurden? Dies gilt insbesondere für manche Entscheidungen des päpstlichen Lehramtes, die selbstbezogen – ohne echte Rekurse auf Schrift, Tradition, sensus fidelium oder Theologie, vielmehr durch eigene Konstruktion lehramtlicher Tradition – bestrebt waren, die Verbindlichkeit der eigenen Entscheidungen auszuweiten und ihre Unveränderbarkeit einzuschärfen.
Umso gravierender ist das Problem, die Entscheidungen einer Kirche, die spätestens im 2. Jahrtausend wenig synodal agierte, nur schwer einer Erneuerung zuführen zu können. Festlegungen, die den Anschein der Unfehlbarkeit und Unveränderbarkeit erwecken, schränken die Spielräume für Entwicklungen, die aus synodalen Prozessen resultieren, übermässig ein.
bisher prägende Modelle und Kriterien sind explizit und kirchenamtlich zu relativieren bzw. ad acta zu legen
Als der spätere Kardinal Avery Dulles 1978 «Models of Church» untersuchte, konstatierte er, dass Modelle der Kirche als «servant» oder als mystische Gemeinschaft wenig Gewicht erlangen könnten, weil eine einseitig institutionelle Sicht mit kirchenamtlicher Autorität auftrete, sich mit starken lehramtlichen Definitionen verbinde und faktische Strukturen mit dem göttlichen Willen legitimiere[5]. Das Feldlazarett von Papst Franziskus hat dann ebenso wenig Chancen wie die Anweisung des Instrumentum laboris 2023, dass die Sendung das einzige Kriterium für die Gestaltung der kirchlichen Strukturen zu sein habe (IL 2023, 44). Das heisst: Damit solche neuen Orientierungen sich entfalten können, sind bisher prägende Modelle und Kriterien explizit und kirchenamtlich zu relativieren bzw. ad acta zu legen.
In seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium wies Papst Franziskus unter Bezugnahme auf Augustinus und Thomas von Aquin darauf hin, dass «die Vorschriften, die dem Volk Gottes von Christus und den Aposteln gegeben wurden, ‹ganz wenige› sind». Die von der Kirche später hinzugefügten Vorschriften seien «mit Mass einzufordern», «‹um den Gläubigen das Leben nicht schwer zu machen› und unsere Religion nicht in eine Sklaverei zu verwandeln, während ‹die Barmherzigkeit Gottes wollte, dass sie frei sei›». Dies ist als Kriterium für das Nachdenken über eine synodale Kirchenreform zu beachten[6].
Eva-Maria Faber ist Rektorin der Theologischen Hochschule Chur und Professorin für Dogmatik und Fundamentaltheologe.
Ich danke Markus Lau und Daniel Kosch für zahlreiche Anregungen zu diesem Beitrag.
[1] Zuletzt formuliert das Instrumentum laboris von 2024 (IL 2024), die Kirche sei «auf der Suche nach synodaler Umkehr» (Einleitung; vgl. Nr. 96). Alle Synodendokumente lassen sich unter Documents (synod.va) abrufen.
[2] Instrumentum Laboris B 2.2.: «Wie lassen sich in einer Ortskirche die für die Sendung notwendigen Taufämter unabhängig davon erkennen, ob sie eingesetzt sind oder nicht? Welche Freiräume gibt es, um dies auf örtlicher Ebene auszuprobieren?»
[3] «Entgegen aller Kontinuitätskosmetik lassen sich unzählige Neuausrichtungen des Lehramtes beobachten, die von diesem allerdings gerne getarnt werden, um den Anschein einer ohne Brüche auskommenden, objektiven Lehrtradition aufrechtzuerhalten»: Michael Seewald: Reform – Dieselbe Kirche anders denken. Freiburg i.Br.: Herder, 2019, 74. Seewald nennt drei Strategien: den Autokorrekturmodus, den Obliviszierungsmodus und den Innovationsverschleierungsmodus.
[4] Vgl. Gary Macy: The Hidden History of Women’s Ordination. Oxford: Oxford University Press, 2007.
[5] Vgl. Avery Cardinal Dulles: Models of Church. Expanded Edition. New York: Image, 2014 [Erstausgabe 1978], 34. Dulles, Models 34f, fügt deswegen an: «Any Catholic who wants to back away from these institutional claims is likely to be embarrassed by the strong official pronouncements that can be quoted against him».
[6] Der heilige Thomas von Aquin betonte, dass die Vorschriften, die dem Volk Gottes von Christus und den Aposteln gegeben wurden, ‹ganz wenige› sind [STh I II 107,4]. Indem er den heiligen Augustinus zitierte, schrieb er, dass die von der Kirche später hinzugefügten Vorschriften mit Mass einzufordern sind, ‹um den Gläubigen das Leben nicht schwer zu machen› und unsere Religion nicht in eine Sklaverei zu verwandeln, während ‹die Barmherzigkeit Gottes wollte, dass sie frei sei›. Diese Warnung, die vor einigen Jahrhunderten gegeben wurde, besitzt eine erschreckende Aktualität. Sie müsste eines der Kriterien sein, die in Betracht zu ziehen sind, wenn über eine Reform der Kirche und ihrer Verkündigung nachgedacht wird» (Papst Franziskus: Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium, 2013, Nr. 43: Evangelii Gaudium. Apostolisches Schreiben über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute (24. November 2013) | Franziskus (vatican.va)).