Gemeinsames Engagement im Blick auf ethische Grundthemen waren und sind für die weltweite Ökumenische Bewegung zentrale Anliegen. Simone Sinn gibt einen Einblick in historische und gegenwärtige Lernprozesse, in denen zugleich Mut und Unmut im ökumenischen Miteinander im Blick auf ethische Fragen ans Licht kommen.
-
Einleitung
„Der Weg zum Guten ist gar wild, mit Dorn und Hecken angefüllt“ [1] – dieses Zitat aus einem Kirchenlied von Paul Gerhardt könnte als Metapher für die Dynamik in der weltweiten Ökumene gelten. Neben aufrichtigem Bemühen, Trennungen zu überwinden und Wege der Versöhnung zu suchen, gibt es allerlei kirchliche Interessenspolitik, wie auch institutionelle Trägheit, die den ökumenischen Pilgerweg der Gerechtigkeit, Versöhnung und Einheit[2] „verwildern“ lässt. Ökumenisches Wachsen und Werden findet inmitten von Widrigkeiten, also „Dorn und Hecken“, statt. Aus meiner Sicht trifft diese Metapher die ökumenische Lage besser als die oft zitierten Metaphern vom „ökumenischen Winter“ oder dem „ökumenischen Frühling“, die entweder Stillstand oder zartes Erwachen symbolisieren sollen.[3]
Dieser Beitrag gibt einen Einblick in zwei Prozesse, in denen sich exemplarisch zeigt, wie ökumenisches Ringen es zwar bislang kaum schafft, konfliktträchtige Dynamiken aufzulösen oder zu überwinden, zugleich jedoch über diese Dynamiken hinausweist und damit Impulse gesetzt hat bzw. setzt: zum ersten die geschichtsträchtige Weltkonferenz für Praktisches Christentum 1925 in Stockholm und zum zweiten der jüngste Studienprozess zu moralisch-ethischer Urteilsbildung der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK). Nach mehrjähriger Studienarbeit hat die Kommission im Jahr 2021 das Studiendokument Churches and Moral Discernment. Facilitating Dialogue to Build koinonia („Kirchen und moralisch-ethische Urteilsbildung. Dialog fördern, um Koinonia zu stärken“) verabschiedet und den Kirchen zur Weiterarbeit empfohlen.[4]
Ein zentrales Anliegen der Ökumene ist, Einheit und Vielfalt innerhalb des Christentums theologisch redlich und kreativ sowie zugleich handlungspraktisch engagiert aufeinander zu beziehen. Zur Grundeinsicht der konfessionsverbindenden weltweiten Ökumene gehört dabei, dass zu unterscheiden ist zwischen Differenzen, die als bereichernde Vielfalt wertgeschätzt und als Gottesgabe gefeiert werden können, und Antagonismen, die Spaltung und Trennung in der Kirche verursachen. Die Antwort auf die Frage, was als legitime Vielfalt Anerkennung finden kann, ist umstritten, es ist selbst eine Frage der theologischen Interpretation.
Aus meiner Sicht ist die Frage, welche Differenzen antagonistisch gegeneinander ins Feld geführt werden, letztlich keine theologische Frage, sondern eine kirchenpolitische. Deshalb ist an der Stelle nicht die Wahrheits-Frage, sondern die Frage nach handlungsleitenden Interessen besonders aufschlussreich. Das ließe sich auch anhand der Schismen in der Kirchengeschichte anschaulich zeigen.
Dieses historische Bewusstsein hilft, gegenwärtige Dynamiken analytisch und kritisch in den Blick zu nehmen. Die Ökumenische Bewegung hat einen wichtigen Beitrag zur Selbstaufklärung zwischenkirchlicher (und auch innerkirchlicher) Dynamiken geleistet. Neben der Aufdeckung und dem Entlarven kirchenpolitischer Strategien geht es auch um die anspruchsvolle und schwierige Aufgabe, konstruktive Weiterentwicklung und Veränderung anzubahnen.
-
Historische Erinnerung: Nathan Söderbloms Engagement für ökumenische Verständigung
Im kommenden Jahr feiert die Ökumenische Bewegung das hundertjährige Jubiläum der Universal Christian Conference for Life and Work („Weltkonferenz für Praktisches Christentum“), die 1925 in Stockholm stattfand. Diese Konferenz war getragen von einem couragierten ökumenischen Pioniergeist und der Überzeugung, dass die Kirchen sich gemeinsam für Gerechtigkeit und Frieden engagieren können und sollen. Der schwedische Erzbischof Nathan Söderblom hatte diese Konferenz initiiert und in Stockholm ausgerichtet. Sie war ein wichtiger Kristallisationspunkt des ökumenischen Engagements im frühen 20. Jahrhundert.[5] Darin zeigt sich, welche Haltungen und welche Herausforderungen im Blick auf ethische Fragen mit dieser Konferenz der weltweiten Ökumenischen Bewegung in die Wiege gelegt wurden.
Nathan Söderblom, ab 1914 Erzbischof von Schweden, hatte über Jahre hinweg ein beachtliches ökumenisches Netzwerk in ganz Europa und Nordamerika aufgebaut. Er hatte bereits 1890 an einer ökumenischen Studentenkonferenz in Nordamerika und 1896 am Evangelisch-Sozialen Kongress in Erfurt teilgenommen. 1911 war er zur Konferenz des Christlichen Studentenweltbundes nach Konstantinopel gereist, von da an war er in Kontakt mit orthodoxen Kirchenleitern.
Vor seiner Zeit als Erzbischof in Schweden hatte er als Pfarrer in Paris gewirkt und als Professor für Religionswissenschaft in Leipzig gelehrt, hatte also persönlich enge Bindungen zu Frankreich und zu Deutschland. Er hat den Ersten Weltkrieg als Katastrophe wahrgenommen, lange bevor die handelnden Akteure dies einsehen wollten. In einer Predigt am 6. September 1914, unter dem programmatischen Titel „Die beiden Götter“, hatte er den Gott des Nationalismus dem Gott Jesu Christi gegenübergestellt und deutlich gemacht, wie grundlegend verschieden beide sind. Diese Predigt kann mit Dietz Lange als Schlüsseltext für Söderbloms Verständnis von Krieg und Frieden gesehen werden.[6] Sein Engagement für den Frieden war geleitet von einer theologischen Analyse der nationalistischen und kriegerischen Auseinandersetzungen seiner Zeit.
Söderblom hatte die große Hoffnung, dass Versöhnung zwischen Kirchen zur Versöhnung zwischen Völkern beitragen werde, er vertrat gar, dass das Christentum die Seele des Völkerbundes sein solle.[7] Bereits 1919 rief er in einem Artikel dazu auf, einen ökumenischen Rat der Kirchen zu bilden.[8] Im August 1920 gab es in Genf ein konkretes Planungstreffen für eine Weltkonferenz, die dann im August 1925 in Stockholm stattfand.[9]
Das zentrale Thema der Weltkonferenz waren die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen der Zeit, die das Leben vieler Menschen unmittelbar bedrängten. Im Zentrum stand die Frage danach, wie die gemeinsame Besinnung auf die Botschaft und Lehre Christi zu Frieden und sozialer Gerechtigkeit beitragen kann („to learn afresh the mind of Christ”).
Rund 600 Delegierte aus verschiedenen Kirchen kamen Mitte August nach Stockholm, um neun Tage lang gemeinsam zu diskutieren und zu beraten, aber auch um in einem reichhaltigen kulturellen Programm und gottesdienstlichen Feiern Gemeinschaft zu erleben.[10] Metropolit Germanos vom Ökumenischen Patriarchat war einer der Vizepräsidenten der Konferenz. Photios, der Patriarch von Alexandria, sprach beim Schlussgottesdienst im Dom zu Uppsala das Nizänische Glaubensbekenntnis in griechischer Sprache. Dies wurde von den Anwesenden als ein sehr bewegender Moment ökumenischer Gemeinschaft erlebt. Der Patriarch war direkt von der 1600-Jahr Feier des Nizänums in der Westminster Abbey aus England nach Schweden gekommen. Neben einer Bandbreite verschiedener reformatorischer Kirchen waren die Anglikaner genauso wie Armenier, Delegierte der byzantinischen und orientalischen Orthodoxie, der Heilsarmee und auch eine Vertreterin der Quäker anwesend. Es war alles andere als selbstverständlich, dass in dieser Konferenz Delegierte aus Ländern kamen, die sich noch wenige Jahre zuvor im Krieg gegeneinander befanden.
Zu folgenden Themenkomplexen wurde in fünf Kommissionen während der Konferenz gearbeitet:
1. Die Kirche und die wirtschaftlichen und industriellen Fragen,
2. Die Kirche und die sozialen und sittlichen Fragen,
3. Die Kirche und die Beziehungen der Völker zueinander,
4. Die Kirche und die christliche Erziehung,
5. Die Methoden praktischer und organisatorischer Zusammenarbeit der Kirchengemeinschaften.
Eine wichtige Frage war, wie sich die Konferenz zur Rolle der Kirche im Blick auf Krieg und Frieden äußern würde. Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges waren noch sehr nah. In Stockholm war das ganze Spektrum christlicher ethischer Grundhaltungen vertreten: von radikalem Pazifismus über die Legitimierung von militärischer Aktivität im Verteidigungsfall bis hin zur Annahme, dass Krieg unvermeidlich zu dieser Welt gehöre. Damit verbunden war die Frage des Umgangs mit nationaler Identität und Nationalismus. Es gab auf der Konferenz dazu keine Einigkeit.
Theologisch wurde miteinander über das Verständnis des Reiches Gottes gerungen. Es gab deutlich spürbare Spannung zwischen den Delegierten, die für einen engagierten Weltgestaltungswillen eintraten, und denjenigen, die mit einer größeren Zurückhaltung den Auftrag der Kirchen vor allem im Bezeugen des Handelns Gottes sahen. Während Delegierte von Kirchen aus den USA, vor allem Reformierte und Anglikaner, eine deutlich aktivistische Position vertraten, argumentierten die deutschen Lutheraner, die überwiegend deutsch-national gesinnt waren, eher ordnungstheologisch. Söderbloms Position kam in diesem Spannungsfeld als Mittelposition zum Tragen.[11]
Die Schlusserklärung, die als Botschaft an die Kirchen geschickt wurde, enthält im dritten Abschnitt ein Schuldbekenntnis der Kirchen. Diese Einsicht, dass nicht nur die weltlichen Mächte versagt haben, sondern auch die Kirchen, wird von da an immer wieder im Bereich Ökumene und Ethik eine wichtige Rolle spielen. Die Neuausrichtung auf Christus und Christusnachfolge steht im Mittelpunkt.
„Wir bekennen vor Gott und der Welt die Sünden und Versäumnisse, deren die Kirchen durch Mangel an Liebe und mitfühlendem Verständnis sich schuldig gemacht hat. Menschen, die mit Ernst nach Wahrheit und Gerechtigkeit trachten, haben sich von Christus ferngehalten, weil seine Nachfolger ihn vor der Menschheit so unvollkommen vertreten haben. Der Ruf der gegenwärtigen Stunde an die Kirche muss deshalb ein Bußruf sein und doch ein Ruf zu einem freudigen Neuanfang aus den unerschöpflichen Kraftquellen in Christus…“[12]
Wichtig ist hier der Hinweis, dass der Ruf nicht von der Kirche an die Welt ergeht, sondern sich ausgehend von der aktuellen Situation an die Kirche selbst richtet. Im achten Abschnitt werden die Kirchen aufgerufen, sich die Grausamkeit des Krieges zu Herzen gehen zu lassen: „We summon the churches to share with us the sense of horror of war.“[13]
Söderblom hatte die Konferenz mit großem Engagement und Zuversicht geplant und durchgeführt.[14] Ihm war bereits unmittelbar am Ende der Konferenz deutlich, dass dieses Event durch den persönlichen Austausch und die gemeinsame Ausrichtung auf Gott die ökumenische Haltung der beteiligten Akteure gestärkt hat, aber in den inhaltlichen Auseinandersetzungen und den theologischen Perspektiven kein gemeinsamer Durchbruch erreicht wurde. Die ethischen und theologischen Differenzen wurden in den direkten Austausch gebracht, und nicht polemisch-apologetisch ins Feld geführt, aber nicht überwunden. Insofern blieb die Konferenz hinter den Erwartungen zurück und hat doch Einiges in Bewegung gebracht. Bei allen bleibenden Differenzen hatten die Teilnehmenden in der Tat christliche Gemeinschaft über Kirchen- und Ländergrenzen hinweg erlebt.
Der französische Theologe Jules Jézéquel hatte wohl in seinem Vortrag die entscheidende Frage gestellt: Was können die Kirchen gegen den Krieg und für den Frieden tun, wenn so viele Christen für den Krieg und gegen den Frieden gehandelt haben? Diese Frage, so gestellt, führte er dann weiter zur Einsicht, dass es nun für die Christen und Kirchen um Umkehr gehe.[15] Andere haben dies aufgegriffen. Eine wichtige Rolle der ökumenischen Bewegung ist es, zu ermöglichen, dass die Bereitschaft und der Willen zur Veränderung wahrgenommen und angenommen werden kann.
In den 1930er Jahren war es im Blick auf die Kirche in Deutschland eine offene Frage, wie neben oder statt der evangelischen Landeskirchen, die bisher in die ökumenische Bewegung involviert waren, nun Vertreter der Bekennenden Kirche offiziell in die Prozesse eingebunden werden konnten. Dietrich Bonhoeffer wollte 1934 erreichen, dass bei der Jugendkonferenz des „Weltbunds für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen“ auf der dänischen Nordseeinsel Fanø nicht mit Vertretern der Reichskirchenregierung zusammengearbeitet wurde. Er war der Auffassung, dass die Bekennende Kirche die einzig rechtmäßige Vertretung des deutschen Protestantismus sei. Bonhoeffer konnte mit seinem Einfluss zumindest bewirken, dass einzelne Vertreter der Bekennenden Kirche nach Fanø eingeladen wurden.[16]
In einer Morgenandacht während der Konferenz im August 1934 hielt er eine denkwürdige „Friedensrede“, in der er nachdrücklich darauf hinweist, dass in der Besinnung auf Christus der wiedererstarkte Nationalismus in Frage gestellt und entlarvt werden muss.[17] Bonhoeffer hat in dieser Rede angemahnt, dass weder einzelne Christ:innen, noch eine einzelne Kirche wirkmächtig genug ist, Frieden auszurufen. Genau an der Stelle brauche es ein weltweites ökumenisches Konzil:
„Wie wird Friede? Wer ruft zum Frieden, daß die Welt es hört, zu hören gezwungen ist?, daß alle Völker darüber froh werden müssen? Der einzelne Christ kann das nicht – er kann wohl, wo alle schweigen, die Stimme erheben und Zeugnis ablegen, aber die Mächte der Welt können wortlos über ihn hinwegschreiten. Die einzelne Kirche kann auch wohl zeugen und leiden – ach, wenn sie es nur täte – aber auch sie wird erdrückt von der Gewalt des Hasses. Nur das Eine große ökumenische Konzil der Heiligen Kirche Christi aus aller Welt kann es so sagen, daß die Welt zähneknirschend das Wort vom Frieden vernehmen muß und daß die Völker froh werden, weil diese Kirche Christi ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet und den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt.“[18]
Söderblom wie Bonhoeffer waren Pioniere der internationalen Ökumene, deren theologische Plädoyers für die Überwindung nationalistischer Gesinnung bis heute nichts an Aktualität verloren haben. Hier hat die Ökumenische Bewegung eine bleibende Aufgabe und eine grundlegende Relevanz für ein glaubwürdiges Kirche-Sein. Im konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung wurde viel von diesen Ursprungsimpulsen aufgenommen. Die Kirchen in der DDR haben dies am Vorabend der Friedlichen Revolution, im September 1989 bei der Dritten Ökumenischen Versammlung in Dresden engagiert aufgegriffen.[19] Die Einsichten in die transformative Kraft weltweiter ökumenischer Verbundenheit wird eine wichtige Rolle spielen, wenn das hundertjährige Jubiläum der Weltkonferenz nächstes Jahr in Schweden unter dem Motto „Time for God’s Peace“ gefeiert wird.
-
Auftrag zur ökumenischen Verständigung über moralisch-ethische Urteilsbildung
Im 21. Jahrhundert werden ethische Themen in der Ökumene nicht nur von denen diskutiert, die klassisch zum Bereich der Bewegung für Praktisches Christentum gehören, sondern auch von der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung. Der Auftrag dieser Kommission ist, in einem multilateralen Dialogprozess diejenigen Themen zu bearbeiten, die als kirchentrennend wahrgenommen werden. Dies waren klassischerweise amtstheologische, sakramentstheologische und ekklesiologische Fragen. Seit rund zwanzig Jahren werden nun aber bestimmte ethische Differenzen – allen voran der Umgang mit der LGBTI* Community im kirchlichen Raum – gegen ein verbindlicheres Miteinander in der weltweiten Ökumene ins Feld geführt.
Während bei den Fragen zu Abendmahl/ Eucharistie und zum Amtsverständnis die Grenzen primär zwischen den Kirchen verlaufen und ökumenische Lehrgespräche dies strukturiert zu bearbeiten suchen, sind es bei den strittigen ethischen Themen meist Gräben innerhalb der Kirchen, die erhebliche Spannungen ausgelöst haben. Interessanter- oder bedauerlicherweise wird in den innerkirchlichen Auseinandersetzungen von verschiedenen Seiten die Ökumene argumentativ für die eigene Position ins Feld geführt, je nachdem, welche ökumenischen Verbündete sich für die eigene Sache in den Dienst nehmen lassen. So wird und ist die Ökumenische Bewegung verstrickt in diese Debatten.
Ein erstes Studiendokument aus der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung, das die Frage moralisch-ethischer Urteilsbildung bearbeitete, wurde 2013 veröffentlicht.[20] Es stieß jedoch in der Kommission selbst auf geteiltes Echo, bis dahin, dass einige orthodoxe und römisch-katholische Kommissionsmitglieder ihre Kritik in einem Addendum und einer Fußnote im Dokument niedergelegt haben.
Es zeigte sich, dass es zwischen anglikanischen, evangelischen, katholischen und orthodoxen Kirchen eine sehr grundlegende Verständigung über moralisch-ethische Urteilsbildungsprozesse braucht. So war es wichtig, dass 2015 in der Kommission mit einer veränderten Zusammensetzung beschlossen wurde, sich erneut dem Thema der Urteilsbildung in einem multilateralen Studienprozess zu widmen.[21]
Im Jahr 2021 hat dann die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung das Studiendokument „Churches and Moral Discernment. Facilitating Dialogue to Build koinonia“ veröffentlicht. Dieses Dokument hat von kirchenleitenden Menschen aus verschiedenen Kirchentraditionen Beachtung erfahren. Es ist ein eher ungewöhnlicher Text, der die Komplexität der Lage widerspiegelt und zugleich Perspektiven eröffnet.
-
Auf welcher Ebene sind die Differenzen zu verorten?
Bevor zentrale Inhalte des Studiendokuments von 2021 dargestellt werden, ist es wichtig, die Konturen der Diskussionslage, in der der Text entstanden ist, zur Kenntnis zu nehmen. Im selben Jahr wie das erste Dokument zur Urteilsbildung wurde 2013 das Konvergenzdokument „Die Kirche: Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Vision“ von der ÖRK-Kommission für Glauben und Kirchenverfassung veröffentlicht. Die offizielle interorthodoxe Stellungnahme zu diesem Konvergenzdokument von 2016 betont, dass ökumenische Beziehungen schwer belastet seien Im Zentrum der Kritik von Seiten der orthodoxen Kirchen steht dabei der Wandel, der sich in anderen Kirchen vollzogen hat; als Grundübel wird ein Wandel in Hermeneutik und Epistemologie ausgemacht.[22] Aus orthodoxer Perspektive werden moralische Fragen als kirchentrennend bezeichnet:
„For the Orthodox Church moral issues are ,church dividing’ (§63) within the ecumenical movement. This is not because of a legalistic fixation on a moral code; it is based on the belief that the moral teaching of the Church is rooted in theology and Christian anthropology. Christian moral norms are not simply philosophical, social and cultural constructs: They express fundamental realities about the relations between God and human beings. This is particularly true in the area of human sexuality, which has become so very controversial.“[23]
Interessant ist im Vergleich dazu, dass die römisch-katholische Stellungnahme aus dem Jahre 2019 durchaus die Möglichkeit von Wandel in moralischen Fragen anerkennt. Die Forderung nach Einheit in moralischen Fragen wird fokussiert auf moralische Lehren, die für das ewige Leben entscheidend sind. Was dies konkret bedeutet, wird nicht ausgeführt; das Thema menschliche Sexualität wird nicht eigens erwähnt:
„Thus, for Catholic doctrine, unity in those moral teachings that are decisive for eternal life is an essential aspect of the unity of the Church. Of course, moral teaching can and even must develop over the course of time, according to new insights and new possibilities demanding moral decision-making. But there is also a certain continuity of the Christian moral imperative, which extends to all times and places, based upon the laws inherent in the way that God has created human beings and, especially, in light of revelation.“[24]
In der internationalen Ökumene ist diese Frage, ob, in welcher Weise und unter welchen Umständen sich Lehrpositionen ändern können, zu einem wichtigen Thema geworden. Viele der beteiligten Kirchentraditionen haben in der Tat den Eindruck, dass ihr Weg der Urteilsbildung in moralischen Fragen nicht wirklich verstanden wird. Dabei gibt es sowohl sachliche Differenzen, aber auch Missverständnisse, Misstrauen und Vorverurteilungen.
Eine Arbeitsgruppe der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des ÖRK wurde deshalb damit beauftragt, zur Verständigung beizutragen, indem die verschiedenen Herangehensweisen zwischen den christlichen Konfessionen gemeinsam analysiert werden.[25] Der erste Aufsatzband will deshalb im Grunde relativ niedrigschwellig zu einer Entpolemisierung beitragen, indem Theolog:innen aus 14 Kirchentraditionen den Weg ihrer Kirche im Blick auf moralisch-ethische Urteilsbildung darlegen.[26] Inmitten des kirchenpolitischen Tauziehens sollte die Authentizität und Integrität der jeweiligen Urteilsbildungsprozesse vor Augen gestellt werden.
-
Anerkennung authentischer Prozesse inmitten differenter Positionen
In der Beschäftigung mit den Selbstdarstellungen aus den verschiedenen Traditionen diskutierte die multilaterale Arbeitsgruppe Verbindungslinien und Trennendes zwischen den Kirchen. Entscheidend war dabei nicht, möglichst viel Verbindendes zu finden, sondern vielmehr wahrzunehmen, dass in den anderen Kirchen Urteilsbildungsprozesse stattfinden, die aufrichtig den Willen Gottes zu erfassen und zu tun suchen. Die britische Theologin Rachel Muers, die selbst aus der Quäker-Tradition stammt und viele Jahre in der ÖRK-Kommission mitgearbeitet hat, beschrieb dies in der Kommissionssitzung 2019 folgendermaßen:
„This is about how churches seek faithfully to discern how to do the will of God in a new situation and to recognize in each other the intention to seek to do the will of God faithfully in a new situation. That’s a very fruitful starting point.”[27]
Diese Anerkennung der Integrität und Glaubwürdigkeit eines Urteilsbildungsprozesses in einer anderen Kirche ist ein ökumenischer Meilenstein. Damit wird anerkannt, dass die andere Kirche den Willen Gottes zu tun sucht, ohne dass diese Anerkenntnis davon abhängt, dass die Positionierung der anderen identisch ist mit der eigenen ethischen Lehrmeinung. Damit wurde die Fixierung auf die Frage, ob man in moralischen Fragen übereinstimmt, aufgebrochen und die Aufmerksamkeit weg von den Positionen hin zum Prozess gelenkt.
„Christus treu zu sein“ ist dann nicht auf das beschränkt, was man gemeinsam in einem Konvergenztext zum Ausdruck bringt. Vielmehr geht es jenseits von gemeinsamen Propositionen und Positionen in einem geistlich-theologischen Sinne darum, im ökumenischen Dialog im Hören und Lernen voneinander und miteinander anzuerkennen, dass „faithful to Christ“ verschiedene Gestalt annehmen kann, unter bestimmten Umständen vielleicht sogar muss, wenn auch nicht beliebig.
Bereits bei der Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung 1993 in Santiago de Compostela hatte Konrad Raiser als Generalsekretär des ÖRK angemahnt, dass die Ökumene eine Form finden müsse, die es ermöglicht, verschiedene christliche Kulturen anzuerkennen. „Der ökumenische Dialog der Zukunft wird dann ein konstruktiver Dialog zwischen diesen verschiedenen Kulturen sein – ein Dialog, der auf ein größeres Verständnis für die Integrität des Anderen, des Fremden abzielt und nicht unter dem Druck steht, die Unterschiede in Konsens auflösen zu müssen. Wir brauchen eine ökumenisch-interkulturelle Hermeneutik, die es ermöglicht, Einheit als Gemeinschaft von bleibend Verschiedenen verstehbar zu machen und dafür die Kriterien anzubieten.“[28]
Im Blick auf das Verständnis von Gemeinschaft, das sich daraus ergibt, hat der biblische Begriff der koinonia zunehmend an Bedeutung gewonnen. In dieser Gemeinschaft findet ein Anteilnehmen und Anteilgeben statt, im dem sich partizipative Prozesse und Verwoben-Sein ohne Einheitlichkeit ereignen:
„Koinonia in Bezug auf Ethik bedeutet nicht in erster Linie, dass die christliche Gemeinschaft Vorschriften und Regeln festlegt, sondern vielmehr, dass sie ein Ort ist, an dem – zusammen mit dem Glaubensbekenntnis und der Feier der Sakramente und als untrennbarer Teil davon – die biblische Botschaft ständig auf ethische Inspiration und Erkenntnisse hin erforscht wird und an dem die Fragen, die die Menschen bewegen, durch beständige ethische Reflexion im Lichte des Evangeliums untersucht werden. Als solche ist die Gemeinschaft auch ein Ort der Tröstung und Stärkung … In allen Fällen impliziert Koinonia ein Angebot an alle Menschen, die sich in einem ethischen Ringen befinden und dafür Maßstäbe und Perspektiven brauchen.“[29]
Der Koinonia-Begriff wurde aus gutem Grund in den Titel des Studiendokuments aufgenommen, um damit die Verschränkung von Prozessen der Urteilsbildung in Gemeinschaft zu artikulieren.
-
Lebendige Tradition und Gewissen der Kirche ökumenisch denken
Das Studiendokument zu moralisch-ethischer Urteilsbildung von 2021 benutzt den Begriff des „Gewissens der Kirche“, um lebendige Aushandlungsprozesse zu beschreiben. Der Begriff wurde von Metropolit Vasilios von Zypern eingebracht, als er in der Arbeitsgruppe die moralisch-ethische Urteilsbildung in der orthodoxen Kirche vorstellte.[30] Das Gewissen der Kirchen speist sich nach dem Verständnis der Orthodoxie aus dem Zusammenwirken verschiedener Quellen. Dabei spielen eine wichtige Rolle: die Offenbarung in Jesus Christus, die Apostel, die Heilige Schrift, die Kanones der ökumenischen und lokalen Konzile und vor allem auch das eschatologisch-eucharistische Bewusstsein, das im Leben der Kirche von zentraler Bedeutung ist. Die Orthodoxie legt großes Augenmerk auf die Weitergabe der Tradition. Das verhindert nicht, sondern schließt auf jeden Fall einen lebendigen Austausch mit den Herausforderungen der Gegenwart ein. Metropolit Vasilios und Kristina Mantasasvili, eine Theologin aus Griechenland, betonen:
„[T]he tradition is not conservation in the sense of immovability. Rather it is motion and life. The church is a living organism that moves and transforms, not through altering the unalterable content of the faith but through adapting it and expressing it according to each environment.“[31]
Damit diese Adaptation im Blick auf die Herausforderungen angemessen geschehen kann, ist eine Kenntnis und Vertrautheit, sowohl mit der spezifischen Situation, als auch eine lebendige Verbindung mit der Tradition der Kirche von entscheidender Bedeutung.[32]
Die Vorstellung dieses „lebendigen“ Gewissens der Kirche traf bei den anderen Mitgliedern der Arbeitsgruppe auf Resonanz und wurde als ökumenisch anschlussfähig wahrgenommen. Sie wurde auch in Bezug gesehen zum „sensus fidei“, wie er in „Die Kirche: Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Vision“ erläutert wird. Das neue Studiendokument nimmt daher den Begriff des Gewissens der Kirche auf und führt aus:
„In dieser Studie bezeichnet der Begriff ,das Gewissen der Kirche’ wie all diese Quellen im dynamischen Wirken des Leibes Christi tätig sind, im Glauben daran, dass dieses Handeln vom Heiligen Geist gleitet wird. Anders ausgedrückt, das Gewissen einer Kirche stellt all das im Leben einer Kirche dar, was bei der Aufgabe der moralisch-ethischen Urteilsbildung durch und für das Volk Gottes zum Tragen kommen kann und kommt.“ (Paragraf 26)
Der Text erinnert daran, dass das Gewissen in der christlichen Tradition eine wichtige Rolle spielt, in zahlreichen Kirchen vor allem im Blick auf das Gewissen der einzelnen Christenmenschen. Gleichwohl würden alle Kirchen auch um die Bedeutung gemeinschaftlicher Prozesse in der moralisch-ethischen Urteilsbildung wissen. Aus meiner Sicht besteht an dieser Stelle sowohl die Chance als auch die Notwendigkeit zur Weiterarbeit, um zu einer präziseren Bestimmung des Verhältnisses des Gewissens des Einzelnen und des Gewissens der Kirche zu kommen. Dabei wird es auch darum gehen, das Verhältnis zwischen der kontinuierlichen Aufgabe der Gewissensbildung und der Urteilsbildung im Blick auf konkrete Herausforderungen genauer zu beschreiben.
-
Gemeinsam Kontinuität und Wandel verstehen
Eine wichtige Phase im Studienprozess war, sich vertieft mit dem Thema „Wandel“ im Umgang mit moralisch-ethischen Fragen zu beschäftigen. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie nicht nur einzelne Christenmenschen in einem Urteilsbildungsprozess dem Willen Gottes zu entsprechen suchen, sondern Kirchen durch ihre entsprechenden Leitungsorgane zu einem Wandel ihrer Perspektive und Position auf bestimmte ethische Herausforderungen kommen. Da dies ein umstrittenes Thema war, sollte es auf der Grundlage von historischen Erfahrungen von Kirchen behandelt werden, nicht auf der Grundlage aktuell kontroverser Themen.
In sieben verschiedenen Themenkomplexen wurden 19 Einzelstudien aus verschiedenen Kirchen in Auftrag gegeben: zum wirtschaftsethischen Thema Wucher, zur Auseinandersetzung mit der Sklaverei in Nordamerika, zur Verhältnisbestimmung von Kirche, Staat und Gesellschaft, zur Gestalt christlicher Friedensethik, zur historischen Rolle von Frauenchören in der Liturgie, zu Verhütung, Polygamie und interreligiösen Ehen und zum Umgang mit Suizid.[33] Die Arbeitsgruppe hat in einem intensiven Prozess die Erkenntnisse aus den historischen Studien ausgewertet und dabei verschiedene Arten und Formen des Wandels identifiziert.
Aus meiner Sicht zeigt die Analyse der Beispiele, dass es hier mindestens drei gewichtige Gründe gab, warum Kirchen zu einer neuen Bewertung der moralischen Herausforderung kamen.[34] Ein erster Grund ist, dass man die Phänomene des Lebens neu verstehen lernt, indem man (neue) wissenschaftliche Erkenntnisse ernst nimmt. Dies zeigte sich exemplarisch an der moralischen Bewertung von Suizid. Neben der neuen Wahrnehmung der Phänomene gibt es einen zweiten Grund, der die Kirchen zu Veränderungen gebracht hat: das moralische Versagen der Kirchen. In diesem Band wurden mehrere historische Beispiele untersucht, die sich mit der Beziehung zwischen Kirche und Staat sowie mit dem Kampf um die Abschaffung der Sklaverei befassen. Ein dritter Grund für Veränderungen war, dass die Kirche die Auswirkungen bestimmter Lehren auf die menschliche Person klarer erkannte. Ein klassisches Beispiel ist der Wandel der römisch-katholischen Lehre in Bezug auf die Religionsfreiheit. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil erkennt die Kirche die Bedeutung der Religionsfreiheit an, um die Würde der menschlichen Person zu wahren.
Eine grundlegende Einsicht im Studiendokument von 2021 ist, dass die Differenzen, die zwischen Kirchen zur selben Zeit (also synchron) vorhanden sind, auch innerhalb von Kirchen im Blick auf ihre Positionen zu verschiedenen Zeiten (also diachron) existieren können (Paragraf 42 und 71-73). Damit kann die Frage nach dem Umgang mit Differenzen zwischen Kirchen in moralisch-ethischen Fragen als eine Variante des Umgangs mit Wandel in moralisch-ethischen Fragen verstanden werden und umgekehrt.
Im vierten Kapitel führt das Studiendokument darüber hinaus ein Schaubild ein, das im Zuge der Analyse der historischen Studien entstanden ist (Paragraf 80ff.). Das ist ungewöhnlich für ein Dokument aus der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung. Es ist meiner Wahrnehmung nach eine Einladung zur Metakommunikation und somit zum Wahrnehmen und Verstehen der Kommunikationsprozesse. Dabei geht es vor allem um die Einsicht, dass bei moralischer Urteilsbildung nicht nur moralische Normen an sich, und eine Hermeneutik im Umgang mit den Normen eine Rolle spielen, sondern noch drei weitere Elemente: Wichtigen Einfluss hat das Verständnis von Autorität und Kirchenleitung und die Frage, auf welcher Ebene welche Urteilsbildungsprozesse stattfinden und Entscheidungen zu fällen sind. Dies schließt die Frage ein, wie sich die doktrinalen und pastoralen Dimensionen zueinander verhalten. Außerdem ist von Bedeutung, welches Verständnis von Zeit und von der Heilsgeschichte in der jeweiligen Kirchentradition vorherrschend ist. Auch wenn sich dies meist implizit vollzieht, haben eschatologisch oder präsentisch ausgerichtete Soteriologien Auswirkung auf die moralisch-ethische Urteilsbildung. Schließlich spielt das ekklesiale Selbstverständnis und dabei das Verständnis von Tradition und Wandel im eigenen Kirche-Sein eine wichtige Rolle.
Das Schaubild verdeutlicht die Tatsache, dass sich im Blick auf jedes dieser vier Elemente sagen lässt, dass es grundsätzlich ein Spektrum gibt von „mehr stabil“ bis zu „mehr kontingent“. Es zeigt sich ein komplexes Zusammenspiel von Kontinuität und Wandel.[35] Das Schaubild ist ein „tool“, welches aus 19 historischen Studien entwickelt wurde und das auf beliebig viele weitere historische und aktuelle moralisch-ethische Fragestellungen angewandt werden kann, um die Analyse von Wandel und Kontinuität moralisch-ethischer Urteilsprozesse zu ermöglichen und damit ökumenische Kommunikations- und Verständigungsprozesse über Urteilsbildung zu befördern. Das Studiendokument betont:
„Zur moralisch-ethischen Urteilsbildung aller Kirchen gehört das Finden von Antworten auf neue Herausforderungen, gerade um dem Evangelium treu zu bleiben. Bei der moralisch-ethischen Urteilsbildung haben die Kirchen unterschiedliche Möglichkeiten entwickelt, um die Kontinuität zu wahren.“ (Paragraf 47)
Der Selbstanspruch, dass diese Prozesse sich nicht losgelöst vom Bezug auf das Evangelium vollziehen, sondern vielmehr in dessen Licht, hat Konsequenzen für die wechselseitige Wahrnehmung zwischen Kirchen. Darum heißt es:
„Da diese Veränderungen in der Praxis oder Lehre als Anwendung des Gewissens der Kirche auf eine herausfordernde Situation erfolgen, wird davon ausgegangen, dass der Prozess eine Verpflichtung zur Kontinuität beinhaltet. Diese Kernverpflichtung zur Kontinuität mit dem Evangelium bedeutet, dass es immer Möglichkeiten für einen fruchtbaren Dialog in Richtung Koinonia gibt.“ (Paragraf 68)
-
Gemeinsam aus Veränderungsprozessen lernen und miteinander Wandel gestalten
Der Weg, den die Arbeitsgruppe beschritten hat, um einen konstruktiven Umgang mit Differenzen in moralisch-ethischer Urteilsbildung zu finden, wurde im Horizont der Erwartungen beschritten, dass mehr Verständigung möglich ist durch authentische Selbstbeschreibung und gemeinsame Analyse von Veränderungsprozessen. In Deutschland wurde im Juli 2022 ein Online-Studientag vom Johann-Adam-Möhler-Institut und vom Konfessionskundlichen Institut in Bensheim veranstaltet, bei dem Hochschullehrer:innen aus sechs verschiedenen Kirchen in Deutschland das Studiendokument untersucht haben. Darin wurde unter anderem hervorgehoben, dass das Dokument zur Versachlichung überhitzter Debatten beitragen kann und zu einem respektvolleren Umgang einlädt. Es ist ein wichtiger Beitrag der ökumenischen Dialoge, Kontinuität und Wandel angemessen theologisch zu reflektieren. Im besten Fall kann damit nicht nur Verständigung zwischen Kirchen ermöglicht sondern auch ein Beitrag zu den Debatten über Kulturwandel geleistet werden.
Bei der Vollversammlung des ÖRK in Karlsruhe im September 2022 wurde das Studiendokument in drei unterschiedlichen Kontexten diskutiert: Zum einen bei den „Ökumenischen Gesprächen“ mit Delegierten, zum zweiten in einer offenen Sitzung in der „Networking Zone“, und drittens, ganz prominent, in der Plenarsitzung zum Thema Einheit. In dieser Plenarsitzung haben sowohl Bischof Brian Farrell von der römisch-katholischen Kirche wie auch Metropolit Job vom Ökumenischen Patriarchat das Studiendokument gewürdigt und damit signalisiert, dass ihre jeweiligen Kirchen an einem konstruktiven Dialog über moralisch-ethische Fragen interessiert sind. Auch in der internationalen anglikanisch–römisch-katholischen Dialogkommission wurde das Studiendokument mit Interesse aufgenommen und diskutiert. Der methodistische Theologe Stephan von Twardowski zeigt auf, wie das Studiendokument von 2021 Denkwege beschreibt, die in seiner Kirche im Blick auf die aktuelle Herausforderung konkretisiert wurden. Im November 2022 wurden die von einem „Runden Tisch“ erarbeiteten Vorschläge für einen gemeinsamen Weg der umfassenden Öffnung für Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung von der Zentralkonferenz der evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland angenommen.[36]
Es ist mit Händen zu greifen, dass Kirchen sich in vielfältigen Veränderungsprozessen befinden. Die Ökumenische Bewegung war von ihren Anfängen am Beginn des 20. Jahrhunderts an ein Katalysator für Veränderungen und Wandel zwischen und innerhalb von Kirchen sowie zugleich ein Motor für die Überwindung von Trennung und für das Engagement für koinonia. Nathan Söderblom steht exemplarisch für die ökumenischen Pioniere, die davon überzeugt waren, dass Kirchen der Welt dienen und sie gestalten können, wenn sie sich gemeinsam auf den Weg machen und sich auf Veränderungen einlassen. Auseinandersetzungen und Konflikte sind notwendiger Teil von gemeinsamer Urteilsbildung, Polemik und Polarisierung aber dienen oft anderen Interessen. Eine in ökumenischen Dialogen geschulte Kunst der Unterscheidung ist hilfreich, um miteinander auf dem Weg zu bleiben und danach zu fragen, was den Menschen dient und Gott die Ehre gibt. Wenn im kommenden Jahr das 1700jährige Jubiläum des ersten Ökumenischen Konzils von Nizäa und das 100jährige Jubiläum der Weltkonferenz für Praktisches Christentum gefeiert wird, gilt es, koinonia und Veränderung nicht als Gegensätze zu stilisieren, sondern vielmehr ihren inneren Zusammenhang zu artikulieren.
___
Foto: Copyright: Albin Hillert/WCC
[1] Die Zeile stammt aus dem Kirchenlied „Ich weiß, mein Gott, dass all mein Tun“ von Paul Gerhardt, das die Mühen menschlicher Arbeit beschreibt. Gerhardt empfiehlt die von Widrigkeiten geprägte Situation nicht einfach nur geduldig zu ertragen, sondern sich vielmehr an „Freud und Wonne“ auszurichten und mit dem Wirken des Geistes Gottes zu rechnen. Evangelisches Gesangbuch, EKD Stammausgabe Nr. 497, Strophe 12.
[2] Dieser Pilgerweg wurde auf der Elften Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen im September 2022 in Karlsruhe beschlossen, in Kontinuität zum Pilgerweg, der auf der Vollversammlung 2013 in Busan (Südkorea) ausgerufen wurde. https://www.oikoumene.org/de/news/wcc-assembly-proposes-a-pilgrimage-of-justice-reconciliation-and-unity
[3] Über einen relativ langen Zeitraum hinweg hatte sich in ökumenischen Lageberichten die Metapher vom „ökumenischen Winter“ etabliert. Damit sollte die Wahrnehmung zum Ausdruck gebracht werden, dass es einen relativen Stillstand in der Ökumene gebe. Demgegenüber gab es Versuche, einen „ökumenischen Frühling“ auszurufen; siehe z.B. Olav Fykse Tveit, „Ut Unum Sint: Between Winter and Spring, Reality and Prophecy, 1995 – 2020”, Vortrag im Institute for Ecumenical Studies an der St Thomas Aquinas Pontifical University (Angelicum) im Dezember 2019, abgedruckt in: The Ecumenical Review 72:3 (Juli 2020), 490-497.
[4] Auf Englisch und in deutscher Übersetzung zum Download verfügbar: https://www.oikoumene.org/resources/publications/churches-and-moral-discernment-iii Die deutsche Übersetzung ist auch abgedruckt in: Miriam Haar/Dagmar Heller/Burkhard Neumann/Simone Sinn (Hrsg.), Wenn Ethik zur Zerreißprobe für Kirchen wird. Dokumentation und Diskussion der Studie der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung „Dialog fördern, um Koinonia zu stärken“, Beihefte zur Ökumenischen Rundschau Nr. 137, Leipzig 2023, S. 22–146.
[5] Vgl. Dietz Lange, Nathan Söderblom und seine Zeit, Göttingen 2011, S. 364ff.
[6] Lange, Söderblom, S. 272f.
[7] Lange, Söderblom, S. 322.
[8] Nathan Söderblom, „Die Aufgabe der Kirche: Internationale Freundschaft durch evangelische Katholizität,“ in: Die Eiche 7/1919, S. 129-136; abgedruckt in: Friedrich Siegmund-Schultze (Hg.), Nathan Söderblom. Briefe und Botschaften an einen deutschen Mitarbeiter. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag des schwedischen Erzbischofs, Marburg 1966, S. 34-42.
[9] Es wurde entschieden, alle Kirchenfamilien, einschließlich der römisch-katholischen Kirche zur Konferenz einzuladen, obwohl bereits ablehnende Signale aus Rom ergangen waren. Die leitenden Bischöfe der skandinavischen Kirche hatten sich in einem Schreiben im Februar 1921 an den Papst gewandt, mit der Einladung und dem Protokoll der Genfer Sitzung. In einer Antwort im April 1921 dankte Kardinal Gaspari für die Zusendung des Protokolls, überging aber die Einladung zur Konferenz mit Schweigen. Damit war klar, dass die römisch-katholische Kirche keine Vertreter zur Weltkonferenz schicken würde. Nils Karlström, „Movements for International Friendship and Life and Work, 1910-1925”, in: Ruth Rouse und Stephen Charles Neill (Hrsg.), A History of the Ecumenical Movement, 1517 – 1948, London 1954, S. 538-40.
[10] Es wurde für die Konferenz ein eigenes Gesangbuch erarbeitet mit dem Titel „Communio in adorando et serviendo oecumenica“.
[11] Vgl. Lange, Söderblom, S. 368-380.
[12] George K.A. Bell (Hrsg.), The Stockholm Conference 1925: Official Report, London 1926, S. 711.
[13] Friedrich Heiler hat nach der Konferenz darauf hingewiesen, dass die deutsche Übersetzung des englischen Textes in ihrem Aufruf schwächer ist. Statt einer Aufforderung ist es ein Bitten: „Wir bitten die Kirchen, ein Gefühl zu haben für die Schrecken des Krieges.“ (Lange, Söderblom, S. 382).
[14] Für sein Engagement und seine visionäre Kraft wurde ihm 1930 der Friedensnobelpreis verliehen.
[15] Vgl. Sara Gehlin, „,Time for God’s Peace’: Approaching a Centennial in Dialogue with Pioneers in Ecumenical History”, Exchange 53 (2024), S. 8-22.
[16] Keith Clements, Dietrich Bonhoeffer’s Ecumenical Quest, Genf 2015, S. 127.
[17] „Und diese Kirche Christi lebt zugleich in allen Völkern und doch jenseits aller Grenzen völkischer, politischer, sozialer, rassischer Art, und die Brüder dieser Kirche sind durch das Gebot des einen Herrn Christus, auf das sie hören, unzertrennlicher verbunden als alle Bande der Geschichte, des Blutes, der Klassen und der Sprachen Menschen binden können. Alle diese Bindungen innerweltlicher Art sind wohl gültige, nicht gleichgültige, aber vor Christus auch nicht endgültige Bindungen. Darum ist den Gliedern der Ökumene, sofern sie an Christus bleiben, sein Wort und Gebot des Friedens heiliger, unverbrüchlicher als die heiligsten Worte und Werke der natürlichen Welt es zu sein vermögen.“ Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 13, S. 299.
[18] Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 13, S. 300 f.
[19] Vgl. Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (Hrsg.), Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, 1989, Magdeburg 2009.
[20] Moralisch-ethische Urteilsbildung in den Kirchen. Ein Studiendokument, Faith and Order Paper No. 215, Genf 2013, https://www.oikoumene.org/sites/default/files/Document/MoralDiscernmentDeutsch.pdf. Vgl. Dagmar Heller und Johanna Rahner, „Moralisch-ethische Urteilsfindung – eine neue Herausforderung für den ökumenischen Dialog“, Ökumenische Rundschau 62 (2013), 237-250.
[21] Myriam Wijlens, „Facilitating Dialogue to Build koinonia: A Study Document on Churches and Moral Discernment by the Faith and Order Commission”, Materialdienst 72:2 (2021), S. 75-86; Simone Sinn, „Lernprozesse im Umgang mit ethischen Differenzen. Ökumenische Verständigung durch gemeinsames Wahrnehmen geschichtlicher Veränderungsprozesse“, Ökumenische Rundschau 71 (2/2022), S. 219-233.
[22] „With sorrow we must say to our ecumenical partners that it has become much more difficult to recognize other Christian communities as churches because of the radical ,changes in doctrine, practice and ministry’ (§9) that have been made. Even more troubling than the changes in particular practices are the changes in hermeneutics and epistemology used to justify them. When the Holy Scriptures and the Tradition of the Church are reinterpreted and reconstructed in order to support positions directly contrary to what has been believed and taught at all times, everywhere and by all, it becomes increasingly difficult to recognize these Christian communities as churches. Therefore basic affirmations such as the ,conviction that Scripture is normative’ (§11) and the profession of the creed (§22) become meaningless.” „Eastern Orthodox and Oriental Orthodox Inter-Orthodox Consultation, Paralimni, Cyprus, 6–13 October 2016” in Churches Respond to The Church Towards a Common Vision, Band 2, hg. von Ellen Wondra, Stephanie Dietrich und Ani Ghazaryan Drissi, Genf 2021, Para. 12.
[23] Ibid., Para. 38.
[24] „Roman-Catholic Church“, in Churches Respond to The Church Towards a Common Vision, Band 2, S. 203.
[25] WCC Commission on Faith and Order, Minutes of the Meeting at the Monastery of Caraiman, Busteni Romania, 17–24 June 2015, Faith and Order Paper No. 222, Genf 2015, S. 92.
[26] Myriam Wijlens und Vladimir Shmaliy (Hrsg.), Churches and Moral Discernment, Volume 1: Learning from Traditions, Faith and Order Paper No. 228, Genf 2021.
[27] WCC Commission on Faith and Order, Minutes of the Commission on Faith and Order Meeting in Nanjing, China, 13-19 June 2019, Faith and Order Paper No. 227, Genf 2019, S. 12.
[28] Konrad Raiser, „Zur Zukunft des Ökumenischen Rates der Kirchen und die Rolle von Glauben und Kirchenverfassung in der ökumenischen Bewegung“, in: Santiago de Compostela 1993. Fünfte Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung, hg. von Günther Gassmann und Dagmar Heller, Beiheft zur Ökumenischen Rundschau Nr. 67, Frankfurt a. M. 1994, S. 191. Grundlegendes zur Hermeneutik wurde dann in den 1990ern in dem ökumenischen Studiendokument A Treasure in Earthen Vessels. An Instrument for an Ecumenical Reflection on Hermeneutics, Faith and Order Paper No. 182, Genf 1998, erarbeitet.
[29] “Costly Unity”; in: Thomas F. Best und Martin Robra (Hrsg.), Ecclesiology and Ethics: Ecumenical Ethical Engagement, Moral Formation and the Nature of the Church, Genf 1997, S. 19; dt. Übersetzung: Teure Einheit; in: Ökumenische Rundschau 42 (1993), S. 279–304.
[30] Cf. Metropolitan Vasilios und Kristina Mantasasvili, „Approaching Moral Questions from the Conscience of the Church“, in: Myriam Wijlens und Vladimir Shmaliy (Hrsg.) Churches and Moral Discernment, Volume 1: Learning from Traditions, Faith and Order Paper No. 228, Genf 2021, S. 1-8.
[31] Ibid., S. 7f.
[32] Ibid., S. 8.
[33] Die Studien sind abgedruckt in: Myriam Wijlens, Vladimir Shmaliy und Simone Sinn (Hrsg.), Churches and Moral Discernment 2: Learning from History, Faith and Order Paper Nr. 229, Genf 2021.
[34] Simone Sinn, „Introduction”, in: Ibid., S. xxiii.
[35] Ibid., Para. 90.
[36] Stephan von Twardowski, „Dynamiken der gesellschaftlichen Polarisierung und Zerrissenheit und kirchliche Prozesse ethisch-moralischer Urteilsbildung: Eine methodistische Perspektive“, Ökumenische Rundschau 73 (2/2024), S. 204-214.