Das konnte das Publikum der zweiten Nürnberger Bildungsrede. Pfarrer Martin Brons spannte in seiner Hinführung zum Vortrag des Architekten Vittorio Magnago Lampugnani den Bogen des Hörens bis zu den Städten der Bibel.
„Biblische Städtenamen stehen bis heute für Qualitäten: Sodom und Gomorrha für Unrecht und Unzucht, Babylon für die Hybris des Menschen, Ninive für Umkehr und zentral: Jerusalem, als Stadt des Friedens, gebaut als eine Stadt, in der man zusammenkommen soll und als Sehnsuchtsort der Zukunft,mit einem prospectus, einem Gesicht, das durch nichts zu überbieten ist in seiner Bauweise, die wir gerade gehört haben, aber v.a. dem Leben in Fülle und Frieden, dem Leben aus der Quelle der Mitte, dem Leben aus Gott selbst.“
Mit diesen Worten begann Pfarrer Martin Brons seine Ansprache zur Einführung der zweiten Nürnberger Bildungsrede am Einweihungstag des ältesten Gymnasiums Deutschlands. Das Melanchthon-Gymnasium Nürnberg wird am 23. Mai 2026 500 Jahre alt. Bis dahin laden die Freunde des Melanchthon-Gymnasiums e.V. jedes Jahr zur Nürnberger Bildungsrede. 2017 konnten sie den Architekten Prof. Vittorio Magnago Lampugnani in der Kirche St. Egidien begrüßen.
Die Weisheit der Städte.
Titel und Referent der Bildungsrede 2017 waren mit Bedacht gewählt. Am 23. Mai 1526 wurde in Nürnberg die „Obere Schule“, das „Gymnasium bei St. Aegidien“, mit einer „Lobrede auf die neue Schule“ durch Philipp Melanchthon eingeweiht. Nachdem sich der letzte Abt des Benediktinerklosters St. Egidien, Friedrich Pistorius, zusammen mit dem Prior und Konvent des Klosters dem „neuen Weg“ der Reformation angeschlossen und die Klostergebäude und das Vermögen des Klosters am 12. Juli 1525 der Stadt übergeben hatte, war es möglich, das soziale, das kirchliche und das Bildungswesen der Stadt neu zu gestalten. Bis heute besteht diese enge Verbindung. Das Gymnasium sollte, basierend auf Philipp Melanchthons anspruchsvoller humanistischer Bildungskonzeption, die alten Lateinschulen Nürnbergs ablösen. In seiner Rede formulierte Melanchthon den zeitlos gültigen Satz an die Nürnberger Räte:
Wenn auf eure Veranlassung hin eure Jugend gut ausgebildet ist, wird sie eurer Vaterstadt als Schutz dienen; denn für die Städte sind keine Bollwerke oder Mauern zuverlässigere Schutzwälle als Bürger, die sich durch Bildung, Klugheit und andere gute Eigenschaften auszeichnen. 1
Ganz im Sinne Melanchthons definierte Architekt und Hochschullehrer Lampugnani die Stadt als zwar – auch – schönen und anregenden Ort, letztlich aber vor allem als eine Frage des Überlebens. In den Städten haben sich Wissen und Emotionen angesammelt, Lebensqualität, von der sich bis heute lernen lässt. Städte sind die Orte, in denen die Geschichte unserer Zivilisation geschrieben wurde, so Lampugnani.
Allerdings, mahnte der Vortragende, hätten wir weitgehend verlernt, Städte zu entwerfen und zu gestalten – in ästhetischer wie in sozialer Hinsicht. Bereits Brons hatte in der musikalischen Vesper in Einstimmung zu Lampugnanis Rede die Verantwortung aus biblischer Tradition heraus stark gemacht: „Es ist kein Zufall, dass der Seher Johannes bei der Vision der neuen Welt ein Stadtgefüge beschreibt: Das himmlische Jerusalem ist Sehnsuchtsort und Symbol der Vollendung durch Gott. Gleichzeitig ist das himmlische Jerusalem aber auch und immer Symbol der ethischen Verantwortung für die irdische Stadt, in der wir leben, als sozialem Gefüge, aber auch in ihrem prospectus: ihrem Gesicht, das sie uns zeigt, ihrer Ästhetik.
Diese Ausrichtung am himmlischen Jerusalem verstehe ich als Aufruf: Haltet Eure Sehnsüchte wach! Haltet Euch die Bilder vom gelingenden Leben und von der anschaulichen Stadt lebendig, mitten in Eurer Stadt – sucht ihr Bestes; und lasst diese Sehnsucht und Suche nicht runterkochen auf ein Mittelmaß, lasst die Sehnsucht nicht klein werden, nicht auf das Alltagsmaß zusammenschrumpfen.
Gerade weil wir als Christen daran glauben, dass unsere Bürgerschaft (Politeuma) bereits im Himmel ist (Phil 3,20) – das feiern wir an Christi Himmelfahrt – gerade deshalb haben wir die Chance mit dem Blick des Fremden auf die gewohnte Stadt neu zu schauen und dadurch Veränderung möglich werden zu lassen, im sozialen, wie auch städtebaulichen Miteinander.
„Christen sind die Seele der Städte“ – schreibt jemand im dritten Jahrhundert (Brief an Diognet, 250 n.Chr.). Wie könnte es heute, im 21. Jahrhundert aussehen, Seele der Stadt zu sein? In einer Zeit, in der der Puls der Stadt und der Puls der Kirche nicht im gleichen Rhythmus zu schlagen scheinen? In einer Zeit, in der Entkirchlichung auf der einen Seite und Zunahme von Religion, ja religiösem Wahnsinn, auf der anderen Seite herrschen und unsere Städte in Angst und Schrecken versetzen?
Mittendrin, im Herzen der Stadt, stehen unsere alten Kirchen. Sie sind Orte an denen wir uns erinnern lassen können, dass wir eine Seele haben. Unsere Kirchen sind Orte, die daran erinnern, dass wir noch von woanders her kommen, und dass wir auf eine Stadt zugehen, die noch einmal anders sein wird als alle Städte, die wir kennen. Und aus dieser Ausrichtung und Erinnerung entsteht von selbst die Verpflichtung, das Wohl des Nächsten in den Blick und ins Gebet zu nehmen, eine Vernetzung ins Gemeinwohl der Stadt hinein, die eine Vertiefung der Urbanität darstellt.“ 2
Kreative Kollisionen.
Lampugnani formulierte in der Sprache der Architektur fünf Empfehlungen einer Stadtgestaltung als „kreative Kollision“ mit dem, was schon da ist.
- Ein kluges Programm. Mischung der Nutzungen.
- Ein System von differenzierten und schönen Stadträumen. Straßen, Plätze, Parks.
- Ein Zusammenspiel von urbanen Architekturen. Häuser mit guten Manieren.
- Ein Dialog zwischen Stadtbau, Kunst und Politik. Entwurf, Partizipation, Verantwortung und Vertrauen.
- Ein Bekenntnis zu Wandel und Offenheit. Planung für das Unplanbare.
In seinen Ausführungen stellte er Wohnstädte vor, in denen die Menschen krank wurden und reine Arbeitsstädte, die nicht bewohnbar waren. Dagegen trotzen öffentliche Plätze der Isolation durch social media als lebendige Treffpunkte, an denen man das Gemeinsame sucht und miteinander ins Gespräch kommt, und als Kommunikationsräume, in denen sich Idenität bildet. Lampugnani plädierte dafür, dass Stadtentwicklungsprogramme öffentlich diskutiert und demokratisch abgestimmt werden. Es braucht dann aber auch den Mut, jemanden „ästhetisch machen zu lassen.“
Offen lassen, damit sich Leben einnisten können.
Beispiele aus den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts zeigen, dass Gebäude keinen Bestand haben, wenn sie scheinbar maßgeschneidert für eine bestimmte Gruppe von BewohnerInnen entworfen werden. Sie erweisen sich als unflexibel, unmenschlich, unfähig, sich auf andere als die geplanten Nutzungen einzustellen. Für Lampugnani endete die Moderne und ihre Hoffnungen am 16. März 1972.
An diesem Tag begannen die Sprengungen einer Anlage mit rund 2.800 Wohnungen in Pruitt-Igoe in St. Louis im US-Bundesstaat Missouri, die lediglich von 1955 bis Mitte der 1970er Jahre existierte. Am Rande der Innenstadt war die Anlage im Zuge breit angelegter Flächensanierung errichtet worden und sollte die Wohnsituation ärmerer Familien aus der Umgebung verbessern. Anfänglich als „zukunftsweisendes Projekt der Stadterneuerung und Armutsbekämpfung“ gefeiert, sank die Belegungsquote innerhalb weniger Jahre rapide ab. Der großflächige Leerstand wirkte als Nährboden für Vandalismus und machte den Unterhalt der Gebäude unmöglich, was schließlich zum medial viel beachteten Abriss der Siedlung führte. 3
Lampugnani rief dazu auf, immer weiter zu lauschen und zu lernen, wie komplex und undurchsichtig Städte notwendigerweise sind, damit sich „Leben einnisten können, die nicht geplant sind. Was wir nicht planen können, müssen wir offen lassen. … Arbeit an der Gesellschaft ist Arbeit an der Stadt und umgekehrt.“
Text und Bild: Birgit Hoyer, Praktische Theologin, Geschäftsführerin des Zentrums für Lehrerinnen- und Lehrerbildung der Universität Erlangen-Nürnberg, Mitglied der Redaktion.