Die westliche Wertegemeinschaft und das moderne Recht basieren auf Rechtstraditionen der lateinischen Westkirche. Adrian Loretan zum unverzichtbaren normativen Potenzial der kirchlichen Rechtstradition.
Die Geschichte des Westens als Rechtsgemeinschaft beginnt mit der Rechtsentwicklung der lateinischen Westkirche bzw. mit deren Recht, wie der evangelische Berliner Historiker Heinrich August Winkler ausführt.[1] Obwohl die Kirche keinen säkularen Charakter hat, entwickelte sie als erste Institution „die meisten Kennzeichen des modernen Staates. [… Sie] übte gesetzgebende, ausführende und rechtsprechende Gewalt eines modernen Staates aus. Dazu hielt sie sich an ein rationales System der Rechtswissenschaft, das kanonische Recht. […] In Form der Tauf- und Sterbeurkunden führte sie faktisch eine Art Personenstandsregister. Die Taufe verlieh eine Art Bürgerrecht.“[2]
Kirche: die erste Institution mit Kennzeichen des modernen Staates
Das kanonische Recht wird zum ersten modernen westlichen Rechtssystem, die Kirche zum ersten modernen westlichen Rechtsstaat, der den rechtlichen Umgang mit der Autorität prägt. Der reformierte Rechtssoziologe Max Weber spricht daher vom kanonischen Recht als einem „Führer auf dem Weg zur Rationalität“[3] für das staatliche Recht.
Recht dient der Begrenzung von Macht
Die Rechtswissenschaft der Kirche entwickelte schon im 12. und 13. Jahrhundert eine juristische Theorie der Begrenzung der Befugnisse für kirchliche und weltliche Herrschaft.[4] Dies zeigte sich u. a. in der brisanten Rezeptionsgeschichte des „Was alle angeht“-Prinzips des römischen Privatrechts, das erst im kanonischen Recht ausgestaltet wurde, so Congar.[5] Leider hat er es nur bis zum Konzil von Basel (1431) untersucht. So wird die weiterreichende Wirkungsgeschichte für die Entstehung des modernen Demokratie- und Völkerrechtsverständnisses übersehen.[6] Diese Bedeutung des Rechts im Einflussbereich der lateinischen Westkirche hat auch zum „relativen Erfolg bei der Schaffung von Freiheit von politischer und moralischer Tyrannei“[7] beigetragen. Die übergrosse Mehrheit demokratischer Staaten stammt nach dem alevitischen Politologen Ahmet Cavuldak aus dem „(latein)christlich geprägten Erfahrungsraum“[8] des Westens.
Strafrechtsmildernde Gründe begrenzen die dogmatische Lehre
Auch im Strafrecht hat das kirchliche Recht wesentliche Beiträge für den Westen als Rechtsgemeinschaft entwickelt. „Insgesamt findet sich in den theologischen Lehren des Hochmittelalters der nahezu komplett bestückte Baukasten eines allgemeinen Teils der Strafrechtslehre, der um die Vorstellung der handlungs- und zurechnungsfähigen Personen kreist.“[9] An diese rationale Rechtstradition erinnert Papst Franziskus zu Recht: „Die Kirche ist im Besitz einer soliden Reflexion über die mildernden Bedingungen und Umstände. Daher ist es nicht mehr möglich zu behaupten, dass alle, die in irgendeiner so genannten ‚irregulären‘ Situation leben, sich in einem Zustand der Todsünde befinden und die heiligmachende Gnade verloren haben. […] Ein Mensch kann, obwohl er die Norm genau kennt, grosse Schwierigkeiten haben ‚im Verstehen der Werte, um die es in der sittlichen Norm geht‘, oder er kann sich in einer konkreten Lage befinden, die ihm nicht erlaubt, anders zu handeln und andere Entscheidungen zu treffen, ohne eine neue Schuld auf sich zu laden“[10], wie dies z. B. beim Gewissensentscheid von geschiedenen wiederverheirateten Personen oder bei homosexuellen Personen der Fall sein kann.
Wesentliche Beiträge der Kirche für die Entwicklung des Strafrechts – Respekt vor dem Gewissen
Reinhard Kardinal Marx fordert diesen vom Recht zu schützenden Freiheitsbereich[11] jeder Person nun auch im Bereich der Sexualmoral ein. Er wendet sich gegen einen blinden Rigorismus und betont, es sei schwierig, „von aussen zu sagen, jemand sei in einem Zustand der Todsünde“[12], das gelte auch bei der Bewertung von Homosexualität. „Ohne Blick auf die Gewissenssituation des Einzelnen, ohne Blick […] auf die konkreten Umstände“[13] sei eine Beurteilung von Verhalten nicht möglich, so der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz.[14] „Natürlich geht es auch um die Verantwortung vor dem Evangelium und der gesamten Lehre der Kirche. Aber dann muss es einen Respekt vor der Entscheidung geben, die einer in Freiheit trifft.“[15]
Damit werden auch in der Sexualmoral die Würde der menschlichen Person (DH 1)[16] und die daraus fliessenden Rechte (NA 5) geachtet. Denn das Konzil hatte schon „jeder Theorie und Praxis das Fundament entzogen, die zwischen Mensch und Mensch, zwischen Volk und Volk bezüglich der Menschenwürde und der daraus fliessenden Rechte einen Unterschied macht.“ (NA 5)
Jede Person hat Grundrechte
Die Rechtsordnung kennt nicht nur die Rechtssubjekte der Institution (Amtsträger), sondern achtet aufgrund der Taufwürde der Gläubigen und der Menschenwürde (DH 1) bzw. der Gottebenbildlichkeit (Gen 1,26–27) die Rechtssubjektivität aller Personen. „Die katholische Lehre anerkennt die Gleichheit aller Menschen (Gaudium et Spes, 29); daraus ergibt sich ein […] Rechtsstatus auch der Nichtgetauften gegenüber der Kirche[17] (CIC 1983, c. 1476).“[18]
Als Beispiele unbegrenzter Autorität ist zu erinnern an die Rechtsbeziehung zu den Sklaven und zu den Frauen. Aristoteles hat den Sklaven als „beseeltes Werkzeug“[19] bezeichnet und angenommen, dass Frauen nicht zu vernünftigem Handeln in der Lage sind[20], was der männlichen Autorität entsprechende Vorrechte einräumte, die teilweise im kirchlichen Recht heute noch gelten.
Normen revidieren
Im Neuen Testament dagegen, das eine Frau sogar Apostelin (Röm 16,7) nennt, werden die Autorität des Amts und der Gemeinde (Mt 16,19; 18,18) kommentarlos nebeneinandergestellt. Zur Frage der Letztkompetenz herrscht in der Heiligen Schrift ein normatives Schweigen. Dies hat in den verschiedenen Kirchen zu ganz unterschiedlichen Kirchenbildern geführt. Die Kirche dürfe keine Angst haben, die kirchlichen Normen zu revidieren, so Papst Franziskus, denn Thomas von Aquin habe betont, „dass die Vorschriften, die dem Volk Gottes von Christus und den Aposteln gegeben wurden, ‚ganz wenige‘ sind. [… Er] schrieb, dass die von der Kirche später hinzugefügten Vorschriften mit Mass einzufordern sind, ‚um den Gläubigen das Leben nicht schwer zu machen‘ und unsere Religion nicht in eine Sklaverei zu verwandeln, während ‘die Barmherzigkeit Gottes wollte, dass sie frei sei‘.“[21]
Der Westen als Rechtsgemeinschaft kann auf den normativen Beitrag der Kirchen auch in Zukunft nicht verzichten.
Der Westen als Rechtsgemeinschaft kann auf den normativen Beitrag der Kirchen auch in Zukunft nicht verzichten. Denn „das Christentum ist für das normative Selbstverständnis der Moderne nicht nur eine Vorläufergestalt […] gewesen. Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben, […] von individueller Gewissensmoral, Menschenrechten und Demokratie entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik. […] Dazu gibt es bis heute keine Alternative.“[22] Der Westen als säkulare Rechtsgemeinschaft wurzelt in einer rationalen theologischen Denktradition, die es bewusst zu machen gilt.[23]
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Adrian Loretan, Universität Luzern
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[1] Vgl. Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München ab 2009, Bd. I–IV. Vgl. Ein Fernsehgespräch mit Heinrich August Winkler, Der Westen, mächtig und angreifbar (NZZ Standpunkte 2015), unter: https://www.youtube.com/watch?v=Q2x6bdDSRQM&list=PLlhMaiGeSJ8knji6Bk2dPuQa45U3x33Mj (19.1.2018).
[2] Harold J. Berman, Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition (aus dem Amerikanischen übersetzt von Hermann Vetter), Frankfurt a. M. 21991, 190–191. Titel der Originalausgabe: Law and Revolution. The Formation of the Western Legal Tradition, Harvard 1983.
[3] Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 51976, 481.
[4] Vgl. Harold J. Berman, Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition (aus dem Amerikanischen übersetzt von Hermann Vetter), Frankfurt a. M. 21991, 366. Titel der Originalausgabe: Law and Revolution. The Formation of the Western Legal Tradition, Harvard 1983.
[5] Vgl. Yves Congar, „Quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet“, in: Revue historique de droit français et étranger (4e série) 36 (1958), 210–259.
[6] Vgl. eine ausführliche Besprechung von Congars Artikel in: Patrick Huser, Vernunft und Herrschaft. Die kanonischen Rechtsquellen als Grundlage natur- und völkerrechtlicher Argumentation im zweiten Prinzip des Traktates Principia quaedam des Bartolomé de Las Casas (ReligionsRecht im Dialog Bd. 11), Zürich 2011, 97 Anm. 217.
[7] Harold J. Berman, Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition (aus dem Amerikanischen übersetzt von Hermann Vetter), Frankfurt a. M. 21991, 370. Titel der Originalausgabe: Law and Revolution. The Formation of the Western Legal Tradition, Harvard 1983.
[8] Ahmet Cavuldak, Gemeinwohl und Seelenheil. Die Legitimität der Trennung von Religion und Politik in der Demokratie, Bielefeld 2015, 590.
[9] Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität. Zum Selbstverständnis des modernen Verfassungsstaates, Tübingen 2013, 52.
[10] Papst Franziskus, Nachsynodales Apostolisches Schreiben Amoris laetitia, Nr. 301.
[11] Vgl. Adrian Loretan, Wahrheitsansprüche im Kontext der Freiheitsrechte. Religionsrechtliche Studien, Teil 3, Zürich 2017.
[12] Stefan Orth, Volker Resing, Ein Gespräch mit dem DBK-Vorsitzenden Kardinal Reinhard Marx. „Gott denkt grösser“, in: HerKorr 72 (1/2018) 17–21, 21.
[13] Ebd.
[14] Vgl. ebd.
[15] Ebd.
[16] Vgl. Adrian Loretan (Hg.), Die Würde der menschlichen Person. Zur Konzilserklärung über die Religionsfreiheit «Dignitatis humanae» (ReligionsRecht im Dialog Bd. 21), Münster 2017.
[17] Vgl. Burkhard Josef Berkmann, Nichtchristen im Recht der katholischen Kirche (ReligionsRecht im Dialog Bd. 23 [Teilbände I und II]), Wien 2017.
[18] Wolfgang Huber, Grundrechte in der Kirche, in: Gerhard Rau u. a. (Hg.), Das Recht der Kirche. Band I, Zur Theorie des Kirchenrechts, Gütersloh 1997, 518–544, 530. Hervorhebung im Original.
[19] Larry Siedentop, Die Erfindung des Individuums. Der Liberalismus und die westliche Welt (aus dem Englischen übersetzt von Hainer Kober), Stuttgart 2015 bzw. 22016, 18. Titel der Originalausgabe: Inventing the Individual. The Origins of Western Liberalism, London 2014.
[20] Vgl. ebd.
[21] Vgl. Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, Nr. 43. Zitat ebd.
[22] Jürgen Habermas, Ein Gespräch über Gott und die Welt (mit Eduardo Mendieta), in: Zeit der Übergänge (Kleine politische Schriften/Jürgen Habermas Bd. 9), Frankfurt a. M. 2001, 172–195, 174–175.
[23] Vgl. dazu die hier zitierten Forschungsbeiträge aus den Bereichen Philosophie, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaften, Geschichte, Soziologie und Theologie.
Zum Weiterlesen:
Zwischen Wahrheit und Freiheit: Religiöse Gewalt und liberaler Rechtsstaat