Gott ist in den Kleinsten am grössten. Das ist keine nette Weihnachtsgeschichte, sondern eine radikale Kritik der üblichen Verhältnisse. Li Hangartner über Gott – undercover unterwegs.
Die Götter und die grossen Helden, die wir uns ausdenken, haben all das, was uns selber fehlt. Zum Beispiel Siegfried, der Nibelungenheld: Er war der Sohn eines mächtigen Königs. Als Kind wurde er im Wald ausgesetzt und von einer Hirschkuh ernährt. Später fand ihn ein Schmied und zog ihn auf. Aber der Schmied hatte Angst vor seiner Stärke, und er beschloss, ihn zu vernichten. Er schickte ihn in einen Wald, er sollte den Lindwurm umbringen, der dort hauste. Siegfried erschlug den Wurm, kochte ihn und badete im Sud des Lindwurmfleisches. Seine Haut wurde zu festem Horn, er war unverwundbar geworden, und keine Lanze und kein Schwert konnten die Haut durchdringen. Getränkt mit der Drachenkraft gewann er den Goldschatz der Nibelungen, er gewann die Königstochter, er gewann alle Kämpfe. Nur eine einzige Stelle bleibt von dem Blut unbedeckt, die Stelle, auf die ein Blatt fiel. Dort ist Siegfried verwundbar. Diese kleine Stelle sollte ihm später zum Verhängnis werden. Aber vorläufig ist er ein Sieger, ein strahlender junger Held, fast unkenntlich als Mensch in seiner übernatürlichen Kraft, in seiner Schönheit, in seinem Reichtum – ein Souverän dem Leben gegenüber. Er braucht keinen Mut und keine Angst, weil er nicht verlieren kann. Sein Pferd heisst Grane, der schnellste und kräftigste Hengst, den man finden konnte.
Siegfried braucht keinen Mut und keine Angst, weil er nicht verlieren kann.
All die Götterhimmel, die sich Menschen je ausgedacht haben, sind bevölkert von souveränen, unbesiegbaren und unsterblichen Göttern und Göttinnen. Unsere Niederlagen machen wir zu ihren Siegen, unsere Wunden zu ihrer Unversehrtheit. Sie füllen die Räume aus, dass neben ihnen kaum etwas Platz hat, in ihrer Gegenwart fühlen sich Menschen beengt. Enge kommt vom lateinischen angustiae, das heisst Angst. Diese Götter machen Angst. Sie retten oder verderben nach Belieben.
Christus, der Retter – ein Held von Siegfrieds Art?
Was haben die Hirtenfamilien damals auf den Feldern vor Bethlehem erwartet, als ihnen „die himmlischen Heerscharen“ die „grosse Freude“ verkündigt haben: Christus, der Retter, ist heute geboren? Was haben sie wohl erwartet: einen Helden von Siegfrieds Art? Einen Unverwundbaren? Die Befreiung vom Joch, den Sturz der Tyrannen, das Brot für die Armen?
Und was finden sie, als sie „eilends“ nach Betlehem laufen? Stall, Futtertrog, Windeln, Armut, ein Kind: das Verwundbarste, das Verletzlichste, das Besiegbarste, das man sich denken kann.
Das Gesicht Gottes im Gesicht dieses Kindes lesen.
Die Christenmenschen behaupten, dass man das Gesicht Gottes im Gesicht dieses Kindes lesen kann. Ein Gott „undercover“, seine Grösse verborgen in der Winzigkeit eines Kindes. Ein Gott, den die Menschen wärmen, nähren, beschützen auf der Flucht. Die Hirten bringen ihm Milch, die Wolle eines Lammes und Kleider, um seine Nacktheit zu bedecken, stelle ich mir vor.
In einem Weihnachtslied von Martin Luther heisst es:
Ach, mein herzliebes Jesulein,
mach dir ein rein sanft Bettelein,
zu ruhen in meines Herzens Schrein,
dass ich nimmer vergesse dein!
Eine hübsche Weihnachtsgeschichte.
Doch hübsch ist sie nur, wenn man die Revolution vergisst, die hinter dem Gedanken steht: Gott, in die Winzigkeit eines Kindes verloren. Dieser Gott engt nicht ein, er macht keine Angst, er nimmt uns nicht den Atem. Er gibt Raum. „Du stellst meine Füsse auf weiten Raum“, lesen wir im Psalm 31. Dieses Kind ist die neue Kenntlichkeit Gottes. Sein Name ist Emmanuel, der Gott mit uns; der Gott bei uns.
Verwundbar, wie wir selbst, anfällig für Schmerzen und Ohnmacht, wie wir selbst, zornig über die Unrechtsverhältnisse, wie wir selbst.
Gelegentlich haben wir auch diesem Gott Siegereigenschaften angedichtet, Allmächtiger, Souverän, Herr der Heere, Höchster, Allwissender. Es ist schwer, sich von Siegergöttern zu verabschieden. Doch was ist bewundernswert an der Stärke der Starken und an der Seligkeit der Unverwundbaren? Ist es nicht menschenwürdiger und gotteswürdiger, in jenem Kind den Glanz Gottes zu sehen? Und es ist unentbehrlich für alle, die in der Enge, der Angst leben. Es wird erzählt, Gott sei unter der Maske dieses Jesus aus Nazaret durch die Welt gegangen, verwundbar, wie wir selbst, anfällig für Schmerzen und Ohnmacht, wie wir selbst, zornig über die Unrechtsverhältnisse, wie wir selbst. Und er hatte Träume, wie wir selbst. Träume von der Umkehrung der Verhältnisse, vom Reich Gottes: Gerechtigkeit den Armen und Hungernden, Freiheit den Gefangenen, Frieden der Welt. Nicht ein bisschen weniger Ungerechtigkeit, ein bisschen weniger Gewalt, ein bisschen weniger Ungleichheit. Es ging ihm ums Ganze.
Er ist das Gegenbild Siegfrieds: ein Mensch, der kein schönes Pferd hat, nur einen Esel, nicht einmal ein ausgewachsenes Tier, ein Füllen, halb ausgeliehen, halb gestohlen. Er ist mit armen Fischern und zweifelhaften Leuten umgeben. Sie werfen ihre zerschlissenen Kleider auf das Tier und streuen sie auf den Weg. Der Eselsreiter kommt in die mächtige Stadt, und die Menschen erinnern sich an eine alte Weissagung, die hier ihre groteske Erfüllung findet: Siehe, dein König kommt, der Trost Israels, der Sohn Gottes, der erwartete Retter, auf dessen Stärke, Unverwundbarkeit und Unüberwindlichkeit alle hoffen. Eine parodistische Erfüllung der alten Verheissung. Der Gott der Stärke scheint sich selber zu verspotten in der Komik seines Abgesandten.
Ecce, homo! Der Sohn Gottes als Verlierer. Es schützt ihn keine Drachenhaut, er schlägt die Gegner nicht nieder. Es stösst ihm alles zu, was einem Menschen zustossen kann. Die Wunden sind die Signatur seiner Menschlichkeit.
Die Hoffnung auf den Umsturz aller Herrschaftsverhältnisse konnte nicht getötet werden.
Was ist aus ihm geworden? Der Wanderrabbi und Verkündiger des Gottesreiches wurde von den Mächtigen der damaligen Zeit hingerichtet, als politischer Aufwiegler, als Gefahr für die Staatsmacht, als Sicherheitsrisiko. Doch die Hoffnung auf den Umsturz aller Herrschaftsverhältnisse konnte dadurch nicht getötet werden. Sie lebte weiter, wurde durch die Jahrhunderte hindurch weitergetragen, durch Menschen, die aus der Botschaft Jesu den Mut und die Kraft bezogen, sich für eine radikale Veränderung bestehender Unrechtsverhältnisse einzusetzen.
Und heute? Die Zeit der grossen Utopien ist vorbei. Die Hoffnung auf eine sozial und wirtschaftlich gerechtere Welt hat sich vielerorts zerschlagen, Kriege und religiöse Konflikte nehmen weltweit zu. Und was ist mit den grossen Worten: Erlösung, Auferstehung? Es sind Begriffe, die für viele Menschen leer geworden sind. Wir brauchen eine neue Theologie, die die grossen Worte unterfüttert und das Alltägliche, die menschlichen Bedürfnisse, das Verletzliche menschlicher Existenz in den Mittelpunkt stellt. Es gilt zu werben mit winzigen Wörtern, wie die jüdische Schriftstellerin Rose Ausländer im folgenden Gedicht:
Werben
Die grossen Worte
sind verloren gegangen
Es heisst
mit winzigen Wörtern
werben
um Frieden und Liebe (…)
Wir brauchen eine Theologie, die den Blick auf die Widersprüchlichkeit menschlichen Lebens im Alltag lenkt, die inmitten von Verzweiflung und Glück jene ganz konkreten und flüchtigen Momente aufspürt, wo so etwas wie Auferstehung möglich ist. „Aufstehen mitten am Tag“, heisst es bei der Lyrikerin Marie Luise Kaschnitz, „Aufstehen mitten am Tag“ meint diese Erfahrung, aus Dunkelheit, Angst und Verzweiflung unerwartet aufzustehen, mitten im Alltag aufgehoben zu sein „in einem Haus aus Licht“. Diese alltägliche Erfahrung des Heils, der Auferstehung, verbindet sich mit dem grossen Versprechen von Heil und Auferstehung. Wir brauchen die kleinen Worte und die grossen. Denn kein Alltag ist genug für die, die mit ihrem Alltag nicht auskommen. Die Hoffnung geht aufs Ganze.
Gott ist undercover unterwegs. Damals wie heute.
Deus in minimis maximus. Das ist eines der unerlässlichen grossen Worte. Gott ist in den Kleinsten der Grösste. Ich habe diesen Satz bei einem Besuch des Ratzeburger Doms in der Nähe von Lübeck entdeckt. Linker Hand des Doms, inmitten des ummauerten Friedhofes, steht geschützt in einer Nische ein Bienenkorb, darüber diese lateinische Inschrift: „Deus in minimis maximus“. Die Aussage ist ursprünglich eine Liebeserklärung an die Bienen. Ein rätselhafter, paradoxer Satz, der die gesamte christliche Theologie enthält: Gott ist in den Kleinsten gross. Gott zeigt sich im Unscheinbarsten, im Kleinsten als das Grösste. In diesem Satz steckt eine radikale Kritik der üblichen Massstäbe. Wer ist am grössten? Wer am geringsten? Was ist gross, was klein?
Gott ist undercover unterwegs. Damals wie heute. Die Verlorenen, die Ungetrösteten dieser Erde – in ihnen verbirgt sich Gottes Gesicht. Anderswo als in ihren Gesichtern ist er nicht zu lesen. Deus in minimis maximus. So wie wir Gott erkennen im Gesicht dieses kleinen verletzlichen Kindes, von dessen Geburt wir an Weihnachten erzählen, so erkennen wir Gott in den Gesichtern der Geringfügigen. Das ist nicht nur Moral, es ist unsere Würde, Gott nicht zu verkennen.
Es kommt nicht nur darauf an, ob wir die Vorgänge dieser Nacht in Bethlehem glauben. Wichtiger ist, dass wir sie schön finden, dass wir diesen Gott schön finden, der sich nicht in seinem eigenen Glanz sonnt. Der sich mitgeteilt hat, der keine Apartheid duldet, auch nicht die zwischen sich selber und seinen Geschöpfen.
—
Li Hangartner, freischaffende Theologin, von 1989-2008 Leiterin der Fachstelle Feministische Theologie, und von 1989-2017 Bildungsbeauftragte RomeroHaus Luzern
Foto des Bienenkorbs in Ratzeburg: © Anne Gidion
Von der Autorin auf feinschwarz.net erschienen: