Barbara Staudigl interessiert: Wenn Sie auf einer x-Achse bis plus zehn oder minus zehn bewerten müssten, wie kinderfreundlich Deutschland ist: Welche Werte würden Sie vergeben?
Wenn ich in einem überfüllten Zug sitze und die genervten Blicke der Pendlerinnen und Pendler sehe, die sie einer Mutter mit Kleinkind zuwerfen, weil sie das Kind nicht beruhigt kriegt: null – dafür, dass sie wenigstens nicht schimpfen, wenn sie schon nicht unterstützen. Wenn ich an eine Situation im Urlaub denke, als Rentnerinnen und Rentner im Hotel den Kinderpool besetzten, weil er wärmer war als der Pool für die Erwachsenen, während Kinder mit langen Gesichtern dastanden: minus drei. Wenn ich an den Lock-Down denke, in dem wir Kinder, wie es Rudi Novotny in der Zeit schrieb, nicht mehr als Zukunft, sondern als Infektionsrisiko behandelten: minus zehn.1 Mindestens minus zehn, denn Deutschland war nach Polen Spitzenreiter bei Schulschließungen, bei denen nicht gefragt wurde, wie es den Kindern geht. Als zwischen Januar 2020 und Mai 2021 in Frankreich für 56 Tage, in Spanien für 45 und in Schweden für 31 Tage die Schulen geschlossen wurden, waren es in Deutschland 183 Tage.2 183 Tage (umgerechnet mehr als ein ganzes Schuljahr), in denen Eltern klar signalisierten, dass sie das Home-Schooling nicht parallel zum eigenen Home-Office leisten könnten. 183 Tage, an denen Lehrer/innenverbände und Elternvereinigungen vergeblich warnten vor den Folgen für die nächste Generation.
Wahrlich kindervergessen – und das ist ein milder Ausdruck für einen unsagbaren Missstand.
UNICEF mahnte 2022 in seinem Bericht – 30 Jahre nach Unterzeichnung der UN-Konvention über die Rechte des Kindes – genau dieses an: Deutschland müsse endlich das Wohl von Kindern in den Mittelpunkt stellen.3 Unsere Kinder haben soziale und psychische Probleme. Depressionen, selbstverletzendes Verhalten, Essstörungen oder soziale Auffälligkeiten im Umgang mit anderen Menschen – all das ist während der Pandemie sprunghaft gestiegen. Kinder hatten das soziale Miteinander in Kindertagesstätten, Schulen, Sportvereinen oder Freizeitaktivitäten verloren und hatten weniger als Erwachsene die Möglichkeiten der sozialen Kontaktaufnahme über Video oder Handy. „Es war deutlich zu sehen, welchen Stellenwert Kinder in unserer Gesellschaft haben – einen sehr geringen. Sie können kein Kreuz auf dem Wahlzettel machen“, sagt der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Bernhard Moors. „Eltern konnten längst wieder shoppen gehen, aber die Schulen waren weiterhin geschlossen.“4
Es herrschte große Betroffenheit im Land, als der IQB-Bildungsbericht 2021 veröffentlicht wurde, der die Kompetenzbereiche von Viertklässerinnen und Viertklässlern untersucht: Im Lesen erreichten ca. 42 Prozent nicht die Regelstandards, im Zuhören erreichten 41 Prozent diese nicht, in Orthografie 56 Prozent nicht, wobei knapp 20 Prozent sogar die Mindeststandards verfehlen und nur 8 Prozent Optimalstandards erreichten. Im Fach Mathematik erreichten 45% die Regelstandards nicht, 22 Prozent verfehlten die Mindeststandards und nur 11 Prozent erreichten Optimalstandards.5
Bildungsstandort Deutschland?
Was für ein Entsetzen darüber, dass die Kinderkriminalität angestiegen ist6, dass Kinder randalieren oder sogar Tötungsdelikte begehen wie unlängst in Freudenberg und Wunsiedel. Und die Einsicht: „Wir wissen zu wenig über unsere Kinder, über ihre Gedanken, ihr Umfeld (…) Wir müssen wieder mehr über unsere Kinder wissen, uns wieder mehr für sie interessieren.“7 Ja, das müssen wir: dringend, gründlich und nachhaltig.
Hinter uns liegen Jahrzehnte einer Kindervergessenheit. Unsere materialistische und am Konsum orientierte Gesellschaft scheint sich mit der Frage der Hochschätzung von Kindern schwer zu tun, denn Fakt ist: Kinder kosten viel Geld, Kinder machen viel Arbeit, Kinder reduzieren Freizeit und Mobilität. All das kann niemand bestreiten. Aber wohl ebenso wenig, dass sie schlicht die Zukunft einer jeden Gesellschaft sind. Und so befremdlich es erscheint, die Frage nach Kindern und damit der Zukunft in eine Konkurrenzsituation zu bringen mit Konsumgütern und einem „guten Leben“ im Hier und Jetzt, so bedrückend wird der Zusammenhang, wenn man weiß, dass Kinder in Deutschland ein Armutsrisiko darstellen, v.a. für Alleinerziehende. „43 Prozent der Ein-Eltern-Familien gelten als einkommensarm, während es bei den Paarfamilien mit einem Kind 9 Prozent, mit zwei Kindern 11 Prozent und mit drei Kindern 31 Prozent sind. Frauen sind in besonderer Weise davon betroffen, denn 88 Prozent der Alleinerziehenden sind Mütter.“8
Besonders prekär: die Situation alleinerziehender Frauen.
Die Statistik macht zweierlei deutlich: Für alleinerziehende Frauen ist die Situation besonders prekär, obwohl sie mehr arbeiten als Frauen in einer Paar-Beziehung, aber die hohen Kosten für die Kinder allein bestreiten müssen. Und: Das Armutsrisiko steigt mit jedem Kind, offensichtlich sprunghaft beim dritten. Zugleich ist die Kinderarmut gestiegen: In Deutschland gelten knapp 3 Millionen Kinder unter 18 Jahren und ca. 1,6 Millionen junge Erwachsene zwischen 18 und 25 als armutsgefährdet, jedes fünfte Kind ist von Armut betroffen.9
Was für ein beschämendes Faktum in einem der reichsten Länder der Welt. Hier ist die Politik gefordert, zweifellos. Hier gilt es, radikal gegenzusteuern und Kindern eine sichere Zukunft zu geben. Über die konkreten Maßnahmen (z.B. Grundsicherung, BAföG-Reform, Bildungsgutscheine, Ausbildungsgarantie) kann man unterschiedlicher Meinung sein, nicht jedoch darüber, dass es ein Skandal ist, dass Kinder in einem der reichsten Länder von Kinderarmut bedroht sind und für ihre Eltern, v.a. die Mütter, das Armutsrisiko Nummer Eins darstellen.
Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen, sagt ein afrikanisches Sprichwort. Das bedeutet nichts anderes, als dass es die gesamte Gesellschaft braucht, um die nachwachsende Generation zu erziehen. In Deutschland wurden im letzten Jahr insgesamt 7,1 Prozent weniger Kinder geboren als im Jahr 2021.10 Und das hat, so meine ich, auch damit zu tun, dass wir uns als Gesellschaft viel zu wenig um Kinder kümmern und Eltern zu stark allein lassen. Nicht alle Menschen können sich für eigene Kinder entscheiden oder eigene Kinder bekommen. Aber alle Menschen müssen sich für die nächste Generation verantwortlich fühlen, unabhängig davon, ob sie eigene Kinder haben. Wir brauchen Kinder, um den Generationenvertrag aufrecht zu erhalten.
Die Zahl der erwerbsfähigen Menschen wird in den nächsten 15 Jahren um ca. 5 Millionen sinken, wenn die Baby-Boomer in Rente gehen, die Zahl der über 67-jährigen wird um 4 Millionen zunehmen. Eine Korrektur ist nicht mehr möglich, wenn man feststellt, dass nicht mehr genügend junge Menschen da sein werden, um die ältere Generation im Alter zu betreuen. Dann haben wir den ersten Teil des Generationenvertrags, das Großziehen von Kindern, bereits nicht erfüllt.
Korrektur von Fehlanreizen
Es geht um Politik und um politische Maßnahmen. Wir brauchen die Korrektur von Fehlanreizen und die proaktive Unterstützung von Kindern, von Familien, von pädagogischem Personal. Es kann nicht angehen, ein verheiratetes Paar qua Ehegattensplitting (aus dem Jahr 1958!) besser zu stellen, während gleichzeitig alleinerziehende Eltern nicht wissen, wie sie ihre Kinder vernünftig groß ziehen können.
Wir müssen erzieherische Tätigkeiten wertschätzen, wie es z.B. den skandinavischen Ländern gelingt. Erziehende und Lehrerinnen und Lehrer genießen hohe gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung für ihre Arbeit. Und Eltern werden nicht allein gelassen mit der Aufgabe der Zukunftssicherung einer Gesellschaft. Bei einem Besuch einer Kindertagesstätte in Finnland, die an 24 Stunden und 365 Tagen Kinderbetreuung anbietet, staunten wir deutsche Besucherinnen und Besucher. Wie könnt ihr das leisten, so unsere Frage? Und die erstaunte Gegenfrage: Wie soll es denn sonst gehen? Wenn wir wollen, dass am Wochenende medizinisches Personal im Krankenhaus arbeitet, müssen wir doch umgekehrt bereit sein, pädagogisch mit ihren Kindern zu arbeiten. Wie soll es sonst gehen?
Sicher nicht so, wie Deutschland es macht: Für 200 Euro, seit Kurzem 250 Euro Kindergeld werden Eltern mit vielen Probleme allein gelassen, ob sie nun vor Ort einen Kita-Platz oder eine Ganztagesbetreuung finden oder auch nicht, wieviel diese auch kosten mag oder wie sie 14 Wochen Ferienzeiten überbrücken, wenn sie selbst nur 6 Wochen Urlaubsanspruch haben. Wer Kinder bekommt, ist dafür verantwortlich. Dem stimme ich grundsätzlich zu. Aber eben nicht allein. Die Menschen, die Kinder bekommen, aufziehen, erziehen, tun dies nicht nur für sich allein, sondern erbringen einen enormen Dienst für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft.
Es geht um Politik, aber es geht nicht nur um Politik. Es geht auch um die Haltung. Es geht darum, die Funktionsfähigkeit einer Gesellschaft nicht primär von ihrer Kaufkraft her zu beurteilen, sondern von ihrer Fähigkeit, die nachwachsende Generation zu erziehen. Gott sei Dank gibt es auf der eingangs erwähnten x-Achse auch diese Haltung: Ältere Nachbarn mit großem Garten, die während des Lock-Downs ein Klettergerüst aufgestellt haben und die Kinder aus der Umgebung einladen, bei ihnen zu spielen: plus acht. Ein Kollege, der selbst keine Kinder hat, aber beim Kinderhospiz arbeitet und wöchentlich bei einem mehrfach behinderten Mädchen ist. Seine Augen strahlen, als er stolz erzählt, was für eine Kämpferin das Mädchen sei und was sie schon alles gelernt habe: plus acht.
Und ich als Pendlerin werde jetzt immer ein Kinderbuch und ein Spiel dabeihaben, damit ich Kindern helfen kann, die langweiligen Zugfahrten durchzustehen.
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Barbara Staudigl, Prof. Dr., ist Stiftungsdirektorin der Trägerstiftung der Katholischen Stiftungshochschule (KSH), einer Fachakademie und Fachoberschule in München. Sie war viele Jahre als Lehrerin, Pädagogikprofessorin und Schulleiterin tätig.
Bild: privat
- Novotny, Rudi: Kinder? Nicht so wichtig! Die Zeit Nr.22, 25. Mai 23. ↩
- Vgl. Freundl, Vera/ Stiegler, Clara/ Zierow, Larissa: Europas Schulen in der Corona-Pandemie – ein Ländervergleich ↩
- UNICEF: 30 Jahre UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland – Eine Bilanz, Berlin 2022. ↩
- Bernhard Moors, in: Kinder sind die Verlierer der Pandemie, KVNO aktuell, 07+08, 2021. ↩
- Vgl. Stanat, Petra/ Schipolowski, Stefan/ Schneider, Rebecca/Sachse, Karoline A./Weirich, Sebastian/ Henschel, Sofie (Hg.): IQB Bildungstrends 2021. ↩
- Vgl. Kollenbroich, Philipp: Der rätselhafte Anstieg der Kinderkriminalität, in: Der Spiegel, online, 30.03.2023. ↩
- Kain, Alexander: Schrecklicher Verdacht, Donaukurier, 6. 4.2023. ↩
- Bertelsmann-Stiftung: Trotz Arbeit abgehängt. Armutsrisiko von Alleinerziehenden verharrt auf hohem Niveau, 15.07. 21. ↩
- Funcke, Antje/ Menne, Sarah: Kinder- und Jugendarmut in Deutschland, Factsheet Kinder- und Jugendarmut in Deutschland, Bertelsmann-Stiftung , Gütersloh 2023. ↩
- Vgl. Pressemitteilung des statistischen Bundesamtes vom 14. Juni 2023. ↩