Das Ergebnis der Bundestagswahl ist eine Chance der Erneuerung. Jan Niklas Collet plädiert für eine Polarisierung des politischen Diskurses nach der Bundestagswahl 2017. Fürchten sollten wir nur eine Rhetorik der Alternativlosigkeit.
Wir gewinnen zusammen und wir verlieren zusammen: das könnte der Abschiedsgruß sein, mit dem Union und SPD die Große Koalition demnächst beenden werden. Wobei die Union immerhin noch stärkste Kraft ist, die SPD aber einfach nur verloren hat – und das Projekt eines Politikwechsels von links damit vorerst gescheitert ist.
Das hat nicht nur mit unterschiedlichen Startpositionen im Wahlkampf zu tun: als Martin Schulz Anfang des Jahres als Kanzlerkandidat der SPD präsentiert wurde, lagen beide Parteien fast gleichauf. Es hat auch mit dem Wahlkampf selbst zu tun. Während nämlich die Union die großen Projekte der Großen Koalition als „Erfolge der unionsgeführten Bundesregierung“[1] für sich reklamierte, obwohl diese Projekte wie z.B. der Mindestlohn oder die Ehe für Alle im Grunde Gerechtigkeitsprojekte der SPD waren, hat diese erst aufwändig eine Negativfolie konstruiert, vor der sie dann ihren Gerechtigkeitswahlkampf führen konnte.
Die SPD hat sich bereitwillig von der Union umarmen lassen.
Damit hat sich die Partei doppelt angreifbar gemacht. Einmal von Seiten der Union, die mit großmütterlichem Kopfschütteln fragen konnte, warum die SPD nicht stolz auf die eigenen Erfolge sei. Ein weiteres Mal von Seiten der LINKEN, die fragen konnte, warum die SPD all das, was sie nun großflächig plakatierte, nicht innerhalb der vier zurückliegenden Jahre in der Regierung umgesetzt habe. So hat die Union es erneut geschafft, ihren Koalitionspartner zu umarmen. Und die SPD hat es bereitwillig mit sich machen lassen.
Darum sollte sie jetzt nicht auf Angela Merkel und deren Methode asymmetrischer Demobilisierung zeigen. Sie sollte sich vielmehr fragen, ob ihre Politikinhalte eigentlich noch wirklich links sind, wenn es Angela Merkels Union so leichtfällt, diese in ihr technokratisches Politikkonzept zu integrieren. Die SPD hat es ja offenbar trotz ehrlicher Bemühungen nicht geschafft, einen wirksamen alternativen Entwurf für eine politische Identität anzubieten: Am Ende wirkte Martin Schulz wie ein Technokrat mit etwas klarerer Sprache als die Kanzlerin.
Die Rhetorik der Alternativlosigkeit in der Politik muss abgelegt werden.
„Klare Kante“ schränkt aber die Beweglichkeit in politischen Verhandlungen ein und führt daher bisweilen eher zu einer Schwächung der eigenen Position. In dieser Situation ist es eine durchaus vernünftige Entscheidung, sich mehrheitlich auf die erfahrenere und im Spiel mit der Macht wohl tatsächlich nur selten erreichte Angela Merkel zu einigen. Das Metaproblem für die Demokratie ist mit dieser Feststellung allerdings keinesfalls vom Tisch: ein einschläfernder Konsens zwischen den politischen Lagern.
Gerade das diesjährige Wahlergebnis bietet nun jedoch vielleicht eine Chance, dieses Problem zu adressieren. Die Rhetorik der Alternativlosigkeit in der Politik muss abgelegt werden. Das zeigt das Wahlergebnis vom Sonntag eindeutig.
Kirchen können die Unerträglichkeit der Normativität des Faktischen ins politische Spiel einbringen.
Die Kirchen können dazu einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie die Unerträglichkeit der Normativität des Faktischen ins politische Spiel einbringen. Auf diese Weise kann ein Moment des Widerständigen im öffentlichen Diskurs platziert werden, das sich durch Ideologie und Technokratie nicht einhegen lässt und dadurch Verschleierungen durchkreuzt. Das zuletzt in Bedrängnis geratene Kirchenasyl ist ein eindrückliches Beispiel für einen solchen Beitrag.
Gefragt ist für die nächsten vier Jahre nicht noch mehr bürgerlicher Konsens. Er macht die AfD in ihrer Inszenierung als einzige politische Alternative nur stärker. Wir brauchen mehr Polarisierung zwischen Linken und Konservativen. Die SPD hat mit ihrer Ankündigung, in die Opposition zu gehen, vielleicht einen ersten wichtigen Schritt gemacht. Möglicherweise ist damit der Grundstein gelegt, damit die politische Auseinandersetzung zurückkehrt.
Wir sollten keine Angst haben, untereinander heftig und ruhig auch in rhetorischer Schärfe zu streiten
Aus Sicht der politischen Linken, der ich selbst nahestehe, ist das Wahlergebnis vom Sonntag eine Chance der Erneuerung. Es handelt sich ja geradezu um die Aufforderung zur Polarisierung des politischen Diskurses. Denn dass es wieder erkennbare Alternativen im politische Diskurs diesseits der AfD gibt, ist Voraussetzung, um dieser unter dem Deckmantel der Bürgerlichkeit tatsächlich rechtsnationalen und rassistischen Partei Einhalt zu gebieten. Dass das Bedürfnis nach solchen Angeboten für eine politische Identität gegeben ist, zeigt übrigens der Anteil der AfD-Wähler*innen, die die Partei nicht wegen deren völkischer Inhalte gewählt haben, sondern weil sie von den anderen Parteien enttäuscht sind (60 %).[2] Wir sollten daher keine Angst haben, untereinander heftig und ruhig auch in rhetorischer Schärfe zu streiten – wir sollten Angst haben, es nicht zu tun.
Wir brauchen mehr Polarisierung.
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Jan Niklas Collet ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut M.-Dominique Chenu in Berlin. Er promoviert zu befreiungstheologischer Hermeneutik und theologischer Gottesfrage und hat einen Lehrauftrag an der Uni Köln inne. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Neue Politische Theologie und Befreiungstheologie.
Beitragsbild: Bundesregierung / Guido Bergmann
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[1] CDU / CSU: Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben. Regierungsprogramm 2013-2017, S. 4, in: https://www.cdu.de/system/tdf/media/dokumente/170703regierungsprogramm2017.pdf?file=1 (abgerufen 24.09.2017).
[2] Vgl. die entsprechende Umfrage von Infratest dimap unter: http://wahl.tagesschau.de/wahlen/2017-09-24-BT-DE/umfrage-afd.shtml (24.09.2017).