Anstöße zu einer neuen Akzentuierung einer „diakonischen Pastoral“ formuliert Rainer Krockauer. Die Kirchen müssen mehr denn je „hinaus gehen“. Eine erneuerte diakonische Pastoral bedarf dazu klarer Optionen.
In der Theologinnen und Theologen eigenen Sprache nennen sie die Weltzugewandtheit von Christen und Kirche aus Solidarität mit notleidenden, hilfebedürftigen und marginalisierten Menschen „diakonische Pastoral“. Glaubensgründe hierfür gibt es genug: „‘Geht hinaus‘, hat der Meister gesagt, und nicht: ‚Setzt Euch hin, und wartet, ob einer kommt.‘“[1] So formulierte es der Jesuit Alfred Delp vor mehr als 70 Jahren und zeichnete in seinen Texten eindringlich die Vision eines Menschen, der sich künftig als Christ und gemeinsam mit anderen als Kirche mit Leidenschaft der Welt hingibt, und zwar durch eine entschiedene „Rückkehr in die ‚Diakonie‘“[2], in den uneingeschränkten Dienst an Welt und Mensch. Diese Vision hat seitdem Wirkung gezeigt, Menschen bewegt und die Pastoral geprägt.
Am 21. September 2016 trafen sich in Frankfurt Praktische Theologinnen und Theologen und mit ihnen verbundene Sozialwissenschaftler und Sozialarbeiter zu einem Tischgespräch, um die Vision und Geschichte einer diakonischen Pastoral von Gemeinden, Caritas- und Sozialverbänden, kirchlichen Initiativen und christlichen Gruppen kritisch zu reflektieren und zugleich Zukunftsperspektiven des „Lernraums Diakonie“ in der Fort- und Weiterbildung pastoraler und sozialer Berufe zu eruieren. Anlass war das 25jährige Jubiläum einer bundesweiten Seminarreihe („Diakonische Pastoral“) in Trägerschaft von Deutschem Caritasverband und Fortbildungsverantwortlichen für pastorale Berufe einzelner Diözesen, die sich seit 1990 als Fortbildungsangebot zur Reflexion und Einübung einer diakonisch akzentuierten Pastoral von Fachkräften unterschiedlicher kirchlicher Handlungsfelder versteht.
Das tradierte Anliegen – ein Relikt aus anderen (alten) Zeiten, eine Hinterlassenschaft, die womöglich ihre beste Zeit hinter sich hat, oder die auf einen „dritten Frühling“ wartet? Mehr als 70 Jahre nach Delps Aufruf und mehr als 25 Jahre nach einem ersten Seminarversuch muss heute vieles von dem, was in den Anfängen theologisch behauptet wurde, in der Vielgestaltigkeit und Komplexität der Gegenwart neu übersetzt und exemplifiziert werden, will es nicht zur leeren Worthülse erstarren. Dies gilt in der Verständigung mit Menschen anderer Weltanschauungen vor Ort, zwischen Pastoral- und Sozialberufen, aber auch zwischen den unterschiedlichen Theologengenerationen, scheint sich doch eine oft pathetisch vorgetragene Leidenschaft für eine diakonische Kirche als verbindende Idee vieler mehr als leer gelaufen zu haben.
Die Christen und ihre Kirchen werden provoziert, vor sich selbst und vor anderen Farbe zu bekennen.
Anstöße zur Aktualisierung einer diakonischen Pastoral liefern die „Zeichen der Zeit“ mehr als genug. Die anhaltenden Flüchtlingsdramen im Mittelmeer, die beängstigenden Turbulenzen auf den Finanzmärkten oder die andauernden Terroranschläge beispielsweise zwingen die Welt als Ganzes zu einer neuen Ordnung und gerade die Menschen in Europa zur Verständigung über gemeinsame Werte. Die Christen und ihre Kirchen werden provoziert, vor sich selbst und vor anderen Farbe zu bekennen, nicht nur im Blick auf den Umgang mit Migranten oder mit anderen Religionen, sondern eben auch im Blick auf einen „Fetischismus des Geldes“ (Evangelii Gaudium, Nr. 55). Es ist Papst Franziskus, der der „Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschliches Ziel“ (ebd.) im vierfachen Sinne ein entschiedenes „Nein“ entgegensetzt und zum entsprechenden Engagement aufruft: gegen den gesellschaftlichen Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen, gegen die Logik des Marktes durch einen Fetischismus des Geldes, gegen die Vorherrschaft der Finanzmärkte und gegen eine wachsende soziale Ungleichheit.[3] Seine Forderungen stoßen nicht ins Leere, sondern ermutigen und unterstützen all diejenigen, die (oft seit langem) für ein solches Engagement (ein-)stehen. Es lohnt also der anerkennende Blickwechsel auf das, was (gewachsen) ist, möglich ist und was exemplarisch gelingt.
Diakonische Pastoral ist längst kein „Papiertiger“ mehr, sondern lebendige und bunte Realität.
Das heißt: Es gibt sie, die lebendige Wirklichkeit diakonischer Pastoral, verbunden mit einprägsamen Beispielen, Geschichten und Lebenszeugnissen. Aus Texten, Manifesten und Postulaten von damals wurden und werden Lebensbilder, Projekte und Organisationen im Heute. Und immer mehr werden Theologinnen und Theologen von ihnen angefragt, deren diakonische Praxis zu kommentieren und in ihrer theologischen Dignität in den Raum der Kirche und der Gesellschaft zu übersetzen und dort auch zu verteidigen. Sie werden herausgefordert, die konkrete Diakonie von Personen, Initiativen und Organisationen zu begleiten und in ihrer auch spirituellen Entwicklung zu unterstützen. In der Tat: Diakonische Pastoral ist längst kein „Papiertiger“ mehr, sondern lebendige und bunte Realität in und am Rande kirchlicher Institutionalitäten und Aufmerksamkeiten. Das jahrzehntelange, kontinuierliche „Nachgehen und Nachwandern auch in die äußersten Verlorenheiten und Verstiegenheiten des Menschen“[4] durch Einzelne, das Sich-Gesellen von Gemeinden oder Gruppen zu den Menschen ihres Umfelds, die engagierte Sorge um deren Nöte und Lebens- und Sozialräume seitens organisierter Caritas, das alles hat längst begonnen, die Praxis von Kirche und Theologie hierzulande umzukrempeln, deren Prioritäten- und Themenliste zu verändern und die Akteure vor Ort nicht nur in ihrer spirituellen, sondern auch kirchlichen Identität zu ermächtigen.
„Kirche wird (durch/in) Caritas“
Den Prozess der Umkrempelung von Theologie und Pastoral durch konkrete Diakonie bezeichne ich plakativ mit „Kirche wird Caritas“ und will damit die Aufmerksamkeit auf einen nachhaltigen Entwicklungsprozess lenken: Kirche wird (durch und in) Caritas.[5] Wo beispielsweise die Caritas der Gemeinde mit den diakonischen Herausforderungen des Sozialraums und mit den benachbarten Aktivitäten der organisierten Caritas neu in Kontakt tritt, wo sich andererseits wohlfahrtsverbandliche Caritasarbeit auf Wechselbeziehungen zu den Ortsgemeinden und zu ihrer Caritasarbeit einlässt (z.B. im Engagement für Flüchtlinge), dort sind doppelte Entwicklungsprozesse zu erkennen. Kirche wird durch Caritas: Gemeinden gewinnen durch Diakonie, hier durch entschiedenes sozialraumorientiertes und politisch-anwaltschaftliches Handeln, neu an Lebendigkeit und Überzeugungskraft (vor sich selbst und vor anderen) und beginnen, sich, auch im Netz von Seelsorgeeinheiten, Schritt für Schritt diakonisch zu transformieren. Auf der anderen Seite: Kirche wird in Caritas. Das heißt: Caritaseinrichtungen oder kirchliche Sozialprojekte gewinnen neu an pastoralem Profil, wo sie sich auf einen originären Kirchen- und Pastoralbezug einlassen, indem sie zum Beispiel der Rückbesinnung auf biblisch-prophetische Wurzeln oder sozialethische Traditionen Raum geben. Beide Prozesse verlaufen z.T. ungleichzeitig und existieren vielfach unvernetzt nebeneinander. Wo sie allerdings zusammengedacht und zusammengeführt werden, ist durchaus ein gemeinsamer dynamischer Entwicklungsprozess einer Kirche vor Ort festzustellen, deren diakonische Pastoral einen mancherorts unverhofften „dritten Frühling“ erlebt.
Diakonie: Do it!
Diakonische Pastoral 3.0! Es gilt das Motto: Do it! Hilfreich hierfür ist eine heilsame Nüchternheit der Akteure, die sich den Idealismus des Anfangs nicht von einem herzlosen Markt oder einer selbstbezogenen Kirche verderben lassen, gepaart mit dem Willen, unbedingt in Kontakt zu bleiben und noch mehr in Kontakt zu kommen, mit der Welt der armen und bedrängten Menschen und mit ihren lokalen und globalen Bündnispartnern. Es hilft der ermunternde Appell J. Cardijns: „Vorwärts, vorwärts, wir stehen erst am Anfang!“ Drei Schritte hierfür sind meiner Beobachtung nach weiterführend: 1) Das Lernen von wegweisenden experimentell-diakonischen Projekten, 2) damit verbunden das Einüben des Sinns für eine gelassen-frohe diakonische Exemplarität, und schließlich 3) das Bemühen um die Formulierung (ver)bindender Optionen.
Diakonische Projekte als Modelle für Pastoral
Diakonische Pastoral 3.0 braucht erstens die Wahrnehmung und Reflexion einer „exemplarisch-fragmentarischen Pastoral“, die sich im Detail konkreter experimenteller diakonischer Projekte widerspiegelt. Projekte, die sich (oft zeitlich befristet) auf soziale und pastorale „Andersorte“ und andere (vor allem marginalisierte) Menschen und Milieus einlassen.[6] Deren Schauplätze können Modelle dafür sein, was Pastoral in die Gestaltung von (anderen, benachteiligten) Orten und Räumen (einer Nachbarschaft, eines Sozialraums) einzubringen vermag. Den Protagonisten dieser Projekte gilt es mehr zuzuhören. Nicht nur, wie deren diakonische Praxis Menschen konkret hilft, sondern auch wie eine diakonische Präsenz (in Stadtteilbüros o.a.) Kirchenentwicklung möglich macht.
Diakonische Pastoral 3.0 steht und fällt zweitens mit Beispielen von Menschen, die im Wissen um das vererbte Anliegen, einfach mit Diakonie beginnen und mit einer Haltung gelassen-froher Exemplarität zu Wegweisern für andere werden können. Bemerkenswert ist diesbezüglich M. Drobinskis Beobachtung des jetzigen Papstes: „Jahr um Jahr wuschen am Gründonnerstag der Papst und die Bischöfe verdienten Priestern die Füße, so stand es im Kirchenrecht. Franziskus ist kurz nach seiner Wahl ins Jugendgefängnis Casal del Marmo gegangen und hat zwölf Häftlingen die Füße gewaschen, darunter zwei Frauen. Viele in- und außerhalb der Kirche waren beeindruckt. Einige Kirchenrechtler waren empört. Und der Papst? Er hat das Kirchenrecht geändert. Nun eilen am Gründonnerstag weltweit Bischöfe in Haftanstalten, Flüchtlingsheime, Sozialeinrichtungen, um Menschen die Füße zu waschen, auch Frauen und Muslime. Ein Zeichen hat die Wirklichkeit verändert.“[7]
Drei Optionen: Arme, Netzwerke, Diakonische Kirchenbildung
Diakonische Pastoral 3.0 braucht schließlich drittens das Bemühen um die Formulierung (ver-)bindender Optionen und eine gelebte Verbundenheit in handlungsleitenden Optionen, gerade von pastoralen und sozialen Berufen bzw. von Haupt- und Ehrenamtlichen. Hilfreich erscheinen mir zum Abschluss drei Handlungsoptionen, die das Miteinander in einer diakonischen Pastoral und die eigenen Entwicklungsprozesse bestimmen und prägen können:
- Die Option für die Armen, verbunden mit der Provokation, unter ihnen die Menschen sehen zu lernen, die für überflüssig erklärt oder abgeschrieben werden oder von neuen Ausschlussprozessen betroffen sind.
- Die Option für persönliche und strategische Netzwerke, verbunden mit der Entscheidung, nicht nur freundschaftlich-kollegiale Verbundenheit zwischen pastoralen und sozialen Akteuren zu pflegen, sondern auch ganz bewusst strategische Partnerschaften und Netzwerke aufzubauen und zu organisieren.
- Die Option für eine diakonische Kirchenbildung, verbunden mit der Entschlossenheit, für eine Entwicklung von Ortskirche im Lebens- und Sozialraum der Menschen einzutreten, die lernt, „sich selbst viel mehr als Sakrament, als Weg und Mittel …, nicht als Ziel und Ende“[8] zu begreifen.
Beim eingangs erwähnten Tischgespräch gebrauchte ein Caritasmitarbeiter, Sozialarbeiter der ersten Stunde und Mitinitiator der Seminarreihe, das anregende Bild: Was sie (die Initiatoren) damals im Sinn hatten, war, im Rückblick, kein Möbelstück zu schaffen, das irgendwann in einer Ausstellung oder im eigenen Keller landet, sondern vielmehr einen Ofen zur Verfügung zu stellen, der in Betrieb bleibt. Es hat recht behalten: Diakonische Pastoral steht nicht herum, sie ist in Betrieb. Und ihre Glut wärmt! Es bleibt auch brandaktuell: Niemand kann „von uns verlangen, dass wir die Religion in das vertrauliche Innenleben der Menschen verbannen, ohne jeglichen Einfluss auf das soziale und nationale Geschehen, ohne uns um das Wohl der Institutionen der menschlichen Gemeinschaft zu kümmern, ohne uns zu den Ereignissen zu äußern, die die Bürger angehen. … Alle Christen, auch die Hirten, sind berufen, sich um den Aufbau einer besseren Welt zu kümmern.“ (Evangelii Gaudium Nr. 183)
[1] Alfred Delp, Das Schicksal der Kirchen, in: Ders., Kirche in Menschenhänden, hrsg. von R. Bleistein, Frankfurt a.M. 1985, 87-92, hier 89.
[2] Ebd., 89.
[3] Vgl. Hengsbach Friedhelm, Teilen, nicht töten, Frankfurt/M. 2014, 12-14.
[4] Delp, Das Schicksal der Kirchen, 89.
[5] Vgl. Krockauer Rainer, Kirche wird Caritas: Eine Projektskizze, in: Diakonia 44 (2013), 305-309.
[6] Vgl. https://www.feinschwarz.net/wo-ist-der-mensch-ein-katholikentagspodium-zur-pastoralgeographie/.
[7] SZ 26.-28.3.2016, 13.
[8] Delp, Das Schicksal der Kirchen, 91.
Prof. Dr. Rainer Krockauer ist Professor für Theologie und Ethik im Fachbereich Sozialwesen der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Aachen, www.katho-nrw.de
Beitragsbild: Lampedusa-Kreuz (Tobias Steiger / Bistum Limburg)