Vor gut einem Monat wurden erste Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung veröffentlicht und beinahe zeitgleich ist der Kampf um die Deutung derselben entbrannt. Einige zentrale Ergebnisse wie erste Reaktionsmuster fasst Tobias Kläden – Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Studie – hier zusammen.
So etwas gab es bislang nicht im Bereich der katholischen Kirche: eine empirische Studie, die Kirchenmitglieder wie Nichtmitglieder breit und umfassend zu Themen aus dem Kontext von Kirche und Religion befragt; repräsentativ für die Gesamtbevölkerung in Deutschland, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit; mit verbesserter Stichprobenauswahl, die Verzerrungen früherer Studien (im Sinne einer Überschätzung von Religiosität und Kirchlichkeit) vermeidet; methodisch seriös gearbeitet, so dass eine hohe Zuverlässigkeit der Ergebnisse vorausgesetzt werden kann; schließlich mit der Option, das Ganze regelmäßig alle zehn Jahre zu wiederholen und so valide Längsschnittdaten zu erhalten. Vor einem Monat wurden nun erste Ergebnisse der sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU 6) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vorgestellt, bei der sich erstmals auch die katholische Kirche beteiligte und katholische Befragte in die Untersuchung eingeschlossen wurden.
Will man die Ergebnisse zusammenfassen,[1] so muss man, besonders aus Sicht der katholischen Kirche, eine hohe Ambivalenz konstatieren:
Auf der einen Seite wirken nicht nur die lange bekannten Prozesse der Entkirchlichung in unverminderter oder besser gesagt: gestiegener Härte weiter. Diese drücken sich aus in der deutlichen Erosion bei Indikatoren wie Gottesdienstteilnahme, Verbundenheit mit der Kirche, dem drastisch gesunkenen Vertrauen besonders in die katholische Kirche oder der enorm gestiegenen Neigung zum Kirchenaustritt. Es zeigt sich aber auch ein starker Rückgang von Religiosität allgemein, der sich in der Rückläufigkeit etwa der folgenden Indikatoren äußert: Bedeutung von Religion im eigenen Leben, Glaubensvorstellungen (z. B. Gottesbilder), religiöse Praxis (z. B. Gebet, Meditation oder Lesen in der Bibel), religiöse Erfahrungen (z. B. der Gegenwart Gottes, bei Naturerlebnissen oder allgemein in der Wirksamkeit spiritueller Kräfte) oder religiöse Kommunikation (bzw. Kommunikation über Religion). Dies gilt sowohl für Formen von Religiosität, die üblicherweise im kirchlichen Zusammenhang anzutreffen sind, als auch für solche außerhalb des kirchlichen Kontexts, die in stärkerem Maße individualisiert sind. Nach den empirischen Daten der KMU 6 kann Religiosität jedenfalls nicht als anthropologische Konstante angesehen werden.
Religiosität keine anthropologische Konstante
Auf der anderen Seite stehen diesem Relevanzverlust nicht nur von Kirche, sondern auch von Religion allgemein, Befunde gegenüber, die zeigen, dass die massiv schrumpfenden Kirchen dennoch ein wichtiger Faktor in der Gesellschaft bleiben. Ihnen werden hohe Erwartungen entgegengebracht, es besteht also keine Gleichgültigkeit den Kirchen gegenüber. Besonders die katholischen Kirchenmitglieder äußern mit überdeutlichen Mehrheiten Reformerwartungen an ihre Kirche; die Anliegen des Synodalen Wegs können sich also durchaus gestärkt sehen. Aber auch in der Gesamtbevölkerung wird erwartet, dass die Kirchen sich in der Gesellschaft durch soziale und solidarische Aktivitäten engagieren (z. B. in der Lebensberatung, für mehr Klimaschutz oder für Geflüchtete).
Bleibende Erwartungen an Kirche
Nach wie vor besteht eine hohe Reichweite der Kirchen in die Gesellschaft hinein. Das Absinken ihrer religiösen Reichweite impliziert also nicht automatisch auch das Absinken ihrer sozial-gesellschaftlichen Reichweite: So ist das Seelsorgepersonal vor Ort, entgegen mancher Erwartungen, den Kirchenmitgliedern noch weithin bekannt. Es bestehen zahlreiche Kontakte, auch von Konfessionslosen, zu Personen, die in der Kirche tätig sind, und zu kirchlichen Einrichtungen. Zudem werden diese Kontakte als durchaus wichtig für den Lebensalltag und (jedoch weniger) für den persönlichen Glauben eingeschätzt.
Ein weiterer zentraler Punkt schließlich: Die Kirchen spielen eine wichtige zivilgesellschaftliche Rolle und stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Denn sie verbürgen ein hohes Maß an freiwilligem (auch außerkirchlichen) Engagement ihrer Mitglieder, das deutlich höher liegt als das der Konfessionslosen, und stärken bei ihnen zugleich das Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen und Mitmenschen.
beobachtbare Reaktionsmuster unterschätzen die Ambivalenz der Ergebnisse
Blickt man auf die bisherige Rezeption der KMU 6, fallen drei Reaktionsmuster auf, die häufiger auftreten. Allen dreien ist gemeinsam, dass sie die kurz skizzierte Ambivalenz in den Ergebnissen auf je ihre Weise unterschätzen.
1) Ein erstes Muster war besonders in den Publikumsmedien zu finden, in denen die KMU 6 gleich nach Veröffentlichung der ersten Ergebnisse und des Überblicksbands ein sehr hohes Echo gefunden hat. Das überwiegende Narrativ bezog sich auf den Niedergang von Kirchlichkeit und Religiosität. Als paradigmatische Illustration können die leeren Kirchenbänke gelten. Der Teil der Ergebnisse, der positive Nachrichten aus kirchlicher Sicht enthält, stand deutlich weniger im Fokus des Interesses – den üblichen Gesetzen der medialen Aufmerksamkeitsökonomie entsprechend.
2) Eine zweite Reaktionsvariante ist in der akademisch-theologischen Blase zu beobachten. Einige sehr schnelle Wortmeldungen beruhten zuweilen nur auf der Rezeption weniger Stichworte, ohne die Differenziertheit der Daten wenigstens ansatzweise zu berücksichtigen. Dies wiederum provozierte Ermüdungsbekundungen von anderen Seiten über die immer gleichen Diskussionen.
Dennoch werden auch die Diskussionserschöpften zugestehen, dass die erneut aufbrechende Debatte um die Bedeutung von Religion in der spätmodernen Gesellschaft, die ich sehr holzschnittartig mit dem Gegensatzpaar Säkularisierung vs. Individualisierung von Religion umreiße, notwendig ist, weil sich daraus wichtige Konsequenzen für das kirchliche Selbstverständnis ergeben.[2] Jedenfalls sollten sowohl in der säkularisierungstheoretischen Lesart elitäre („wir schotten uns ab als kleine Herde“) oder resignativ-restaurative („wir lassen alles beim Alten, weil wir eh nichts ändern können“) Konsequenzen vermieden werden, genauso wie illusorische Erwartungen in der individualisierungstheoretischen Variante („wir müssen uns nur besser anpassen an die religiösen Bedürfnisse der Menschen, dann kommen sie wieder zurück zu uns“).
3) Eine dritte Reaktion, die gerne, aber überhaupt nicht ausschließlich bei kirchlichen Funktionsträger:innen auftritt, liegt darin, sich kaum überrascht über die Ergebnisse zu zeigen. Dann liegt allerdings die Vermutung nahe, dem aus der Kognitionspsychologie bekannten Rückschaufehler zu unterliegen: Nach dem Eintreffen eines Ereignisses neigt man dazu, dessen Vorhersehbarkeit zu überschätzen. Um diese Gefahr, der Wirklichkeit auszuweichen, statt sich von ihr irritieren zu lassen, zu vermindern, hat der Beirat der KMU 6 Schätzungen zu den erwarteten Ergebnissen vor deren Bekanntgabe abgegeben.
Und so gab es doch an einigen Stellen Überraschungen, die in ihrer Deutlichkeit nicht vorausgesagt worden waren: z. B. die geringe Ausprägung von Religiosität (mit inzwischen bundesweit mehrheitlich säkularer, oft sogar religionsablehnender Option), die Häufigkeit von Kontakten mit kirchlichem Personal, das starke Begrüßen sozialer Dienstleistungen auch von Konfessionslosen oder die absolut entschiedene Äußerung von Reformerwartungen.
Für die Rezeption der KMU 6 wünsche ich mir eine partizipative Diskussion der Ergebnisse auf möglichst vielen Ebenen, die die beschriebenen Reaktionsmuster vermeidet und mutig Konsequenzen für das kirchliche Handeln zieht. Dabei gilt es, die zunehmende Minderheitenposition der christlichen Kirchen ehrlich anzuerkennen, und gleichzeitig zu sehen, dass in der Arbeit vor Ort viele positive Effekte erzielt werden – aber eben für eine immer kleiner werdende Zahl an Menschen. Haben Sie also keine Angst vor den Zahlen – diskutieren und interpretieren Sie mit!
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[1] Der/die eilige Leser:in findet einen raschen Überblick, insbesondere aus katholischer Perspektive, in: Tobias Kläden, Gleichzeitig Ernüchterung und Ermutigung. Die wichtigsten Ergebnisse der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, in: Herder Korrespondenz 77 (H. 12/2023) 13–16. Noch etwas Geduld hingegen muss aufbringen, wer den eigentlichen Auswertungsband der KMU 6 lesen will: Dieser wird ca. Mitte 2024 erscheinen und enthält ausführliche Auswertungen zu den Themen, die bereits im Überblicksband angerissen sind oder dort noch gar nicht vorkommen, sowie zu den Begleitstudien zur KMU 6.
[2] Diese Debatte wird innerhalb des KMU-Beirats geführt und ist auf zeitzeichen.net nachzulesen (eine Replik von Edgar Wunder folgt dort in Kürze). Eine noch genauer auf methodische Fragen eingehende Diskussion wird in den Heften 1 bis 3 des kommenden Jahrgangs der „Zeitschrift für Religion und Weltanschauung“ der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) dokumentiert werden.
Bildnachweis: Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), www.kmu.ekd.de
Dr. Tobias Kläden ist Referent für Evangelisierung und Gesellschaft bei der Katholischen Arbeitsstelle für missionarische Pastoral (KAMP) der Deutschen Bischofskonferenz in Erfurt. Er ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der KMU 6 und koordiniert die katholische Beteiligung an der KMU 6.