Auf eine theologische Spurensuche bei dem schwedischen Autor Alex Schulman begibt sich Matthis Glatzel. Brüche in unterschiedlichen Familiengeschichten wirken sich über Generationen hinweg aus und werfen die Frage nach alternativen Lebenswegen und transzendenten Bezügen auf.
Alex Schulman gilt als einer der bedeutendsten schwedischen Autor:innen der Gegenwart. Mit seinem Roman Verbrenn all meine Briefe gelang ihm 2018 der literarische Durchbruch. Nun hat er mit seinem Roman Die Überlebenden erneut ein international weit rezipiertes Werk vorgelegt, das vergangenes Jahr ins Deutsche übersetzt wurde. In beiden Werken setzt sich Schulman mit seiner Familiengeschichte auseinander, wie er es bereits in seinem Roman Forget Me aus dem Jahr 2016 getan hatte. Dort hatte er das Verhältnis zu seiner alkoholkranken Mutter geschildert. In ähnlicher Programmatik schildert Schulman in Verbrenn all meine Briefe die Beziehung seiner Großeltern und die damit eng zusammenhängende Rolle einer Affäre seiner Großmutter. Die Überlebenden hingegen berichtet von drei Brüdern. Sie erhalten den Auftrag, ein altes Familienausflugsziel an einem See im schwedischen Hinterland aufsuchen und die Asche ihrer Mutter zu zerstreuen. Schulman beweist in seinen Romanen ein besonderes Gespür für die Bedeutung familieninterner Machtstrukturen, wie sie sich durch eine stetige Spannung von Anziehung und Abstoßung auszeichnen. Niederschwellig schimmert hierbei immer die Frage nach Erlösung und Versöhnung durch, wie sie sich vor allem in den letzten beiden Romanen äußert.
1. Eine Katastrophe sprengt die Familie
Der Roman Die Überlebenden beginnt mit der Katastrophe: Auf ein malerisch am See gelegenes Ferienhaus steuert ein Polizeiwagen im hohen Tempo zu. Vor dem Haus sitzen drei Männer, von denen zwei stark von einer Prügelei gezeichnet sind. Die Männer sind Brüder, die, wie man erst am Ende des Romans erfährt, von ihrer Mutter in ihrem letzten Willen gebeten worden sind, ihre Asche über dem See zu verstreuen. Doch diese Weisung ist nicht das Entscheidende, die Mutter hat ihren Söhnen, niedergeschrieben in ihrem letzten Brief, etwas anderes mitgegeben: „Ich möchte, dass ihr tut, was wir nie getan haben: dass ihr miteinander redet.“[1] Sie trägt ihren Kindern auf, zu lösen, was sie zu ihren Lebzeiten nie geschafft hatten. Einen Auftrag, an dem die Söhne scheitern: Zwei der Brüder, Nils und Pierre prügeln sich, bis Benjamin die Polizei ruft.
Stetig schwelender Konflikt der Brüder.
In konzentrischen Bewegungen und in Umkehrung der chronologischen Ereignisse, schildert Schulman ausgehend von der Eskalation des Streites bis zum Abschiedsbrief der Mutter den stetig schwelenden Konflikt der Brüder. Dieser Erzählungsstrang ist parallelisiert mit Schilderungen aus ihrer Kindheit, in der sie zu dritt in dem kleinen Sommerhaus am See die Ferien mit ihren Eltern verbracht hatten. Schulman legt seiner Figur die Schilderung dieser Programmatik selbst in den Mund. So formuliert Pierre: „Jetzt werden wir uns selbst als Kindern begegnen.“[2]
Drei Söhne reproduzieren die Gewalt.
Diese Kindheitsepisoden erzählen von grausamen und alkoholkranken Eltern, die nicht nur ihre Kinder vernachlässigen, sondern durch ihre Erziehung deren Beziehung nachhaltig schädigen. Der große Bruder, Nils, versucht sich dem schrecklichen Familienalltag zu entziehen und flieht nach dem Abitur nach Mittelamerika. Dadurch entsteht eine unüberbrückbare Distanz zu seinen jüngeren Brüdern Benjamin und Pierre. Doch auch die Beziehung der beiden ist gestört, denn alle drei Söhne reproduzieren die Gewalt, die sie von ihren Eltern erfahren, untereinander fort.
Molly war seine kleine Schwester.
Alle Erzählepisoden kreisen letzten Endes um ein einschneidendes Ereignis: Nach einer Autofahrt, bei der der Vater stark alkoholisiert auf seine Kinder eingeschlagen hatte, ziehen sich diese in den das Haus umgebenden Wald zurück. Dort treffen sie auf eine nicht verriegeltes Trafostation. Benjamin, die eigentliche Hauptfigur des Romans, erhält einen so starken Stromschlag, dass er ohnmächtig wird. Als er aufwacht, liegt der Hund der Familie leblos neben ihm. Bereits als erwachsener Mann erkennt er schließlich in einer Therapiesitzung, dass es sich keineswegs um den Hund Molly gehandelt hatte, der zu Tode gekommen war. Molly war seine kleine Schwester. Die kleine Schwester, die ihre Mutter mit Abstand am meisten geliebt hatte.
Die Situation eskaliert.
Es ist dieses Ereignis, an der die Familie zu zerbrechen scheint. Die schreiende Mutter, der Junge und seine verbrannte Haut. Gleich einem Sündenfall kann die Familie von diesem Zeitpunkt an nicht mehr zusammenfinden. Was vorher schon in Spannung stand ist nun endgültig zerbrochen. Ein letzter Versuch der Söhne sich gemeinsam aufzuraffen mit der Mutter Frieden zu schließen – der Vater ist bereits verstorben – ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Sie schenken ihrer Mutter eine Katze und Pierre hat spontan den Einfall sie Molly zu taufen. Die Situation eskaliert und in trockner Wut brüllt die Mutter: „Wisst ihr was? […] Ihr könnt gehen.“[3]
2. Ein Seitensprung, der das Leben überschattet
Eine ähnlich trostlose Geschichte, gleichwohl in einer ganz anderen Art und Weise, bietet Schulman in Verbrenn all meine Briefe. Es geht um die Ehe seiner Großeltern, Sven und Karim Stolpe. Er ist renommierter Schriftsteller und sie eine erfolgreiche Übersetzerin. Die Schilderung dieser Ehe ist vermittelt durch die Wut des Protagonisten, die sich regelmäßig gegen die eigene Familie richtet. In der Suche nach dem Ursprung dieser Wut stößt er auf seinen Großvater, der nicht nur seine Frau, sondern auch Kinder und Enkelkinder tyrannisierte. Durch das Thema der ungelösten Wut und der gestörten Familienbeziehungen erscheinen beide Romane inhaltlich miteinander verbunden.
Eine Affäre, um sich
dem tyrannischen Mann zu entziehen.
In akribischer Recherchearbeit stößt der Protagonist auf das Geheimnis seiner Großeltern. Seine Großmutter hatte zwei Jahre nachdem sie sich kennengelernt hatten mit einem Schüler Sven Stolpes, Olof Lagercrantz, eine Affäre. In dieser kurzen Phase konnte sie sich dem tyrannischen Mann entziehen, der sie in der Ehe wie eine Gefangene hielt. Diese kurze Hoffnung auf Erlösung und Freiheit stirbt jäh, als die Beziehung ans Tageslicht kommt. In dem Versuch sie beide zu töten, fährt der betrogene Ehemann Sven sie beide in den nächsten Straßengraben. Karims erleidet schwere Verbrennungen am Hals, die bleibende Narben hinterlassen. Noch im Krankenhaus zwingt er sie, ihm zu versprechen die wahre Geschichte hinter dem Unfall zu verschweigen. Sie reagiert nicht mehr auf die noch folgenden zahlreichen Briefe ihres Geliebten und harrt in der diktatorischen Ehe aus. Er verweigert sich grundsätzlich einer Scheidung und sie zweifelt nun nicht mehr daran, dass er seine Drohungen, sie und sich umzubringen wahrmachen wird. Die Flucht bleibt ihr demnach verwehrt.
Katholizismus, der Misogynie begründet.
Der Trostlosigkeit beider Romane zum Trotz, nimmt die Sehnsucht nach einer anderen Wirklichkeit in beiden Romanen einen zentralen Platz ein. Schulman verzichtet auf explizit theologische Sprache. Vielmehr erscheint die Theologie hier entweder wie im Roman Die Überlebenden als etwas beinahe Skurriles, als Rauch in der Küche den Eindruck erweckt „Gott sei beteiligt“[4], oder als Legitimation von Gewalt und Unterdrückung, wie im Falle von Sven Stolpe, der das grausame Verhalten seiner Frau gegenüber mit seinem Katholizismus rechtfertigt.[5] Ausgerechnet dieser Katholizismus ist es jedoch, der seine Misogynie begründet: Die Wut auf seine Frau basiert mitunter auf einer Abtreibung, die Karim in einer vorhergehenden Beziehung vollzogen hatte. Eine Tat, die Sven seiner Frau stetig zum Vorwurf macht.
3. Das Flackern der Glühbirne als „Gruß, eine Art Abschied“
Im Roman Die Überlebenden ist es die Mutter, selbst der Auslöser des zerrütteten Familienverhältnisses, die diese Sehnsucht zum Ausdruck bringt: In ihrem Abschiedsbrief spricht sie ihrem Sohn Benjamin, die lang ersehnte Erlösung zu: „Es war nicht Deine Schuld.“[6] Dieses Schuldbewusstsein war es, was ihn noch kurz zuvor beinahe in den Suizid getrieben hat. Es ist erst die Mutter in ihrem Abschiedsbrief, die die Familienmisere ausspricht und die Trostlosigkeit mit der Sehnsucht nach einer anderen Realität konfrontiert:
„Ich lasse Euch diesen Brief erst nach meinem Tod lesen, denn ich habe Angst, dass es unverzeihlich ist, was ich Euch angetan habe. Was danach kommt, weiß ich nicht, aber lasst uns so tun, als ob ich jetzt mir ihr zusammenwäre. Sie wieder im Arm halten dürfte. Und dass Ihr irgendwann nachkommt, dass ich dann eine zweite Chance bekomme, Euch zu lieben.“[7]
Erlösungssehnsucht
In diesen Zeilen drückt sich aus, was der Theologe Ulrich Barth unter dem Begriff der „Erlösungssehnsucht“[8] in seiner Dogmatik zwischen Sündenlehre und Heilslehre einträgt. Barth versteht darunter die Sehnsucht nach einem Mehr, das der eigenen Realität als Korrektiv entgegengehalten werden kann. Während das Heil in Form einer Versöhnung der Familie in einem wie auch immer gearteten Jenseits nur im Konjunktiv ganz Verhalten zur Andeutung kommt, ist es die Erlösungssehnsucht, die explizit artikuliert wird. Die Mutter sehnt sich nach diesem Mehr, kann ihre Sehnsucht gegenüber ihren Söhnen doch erst nach ihrem Tod äußern. Als der Unfall im Stromhaus passierte, saß sie selbst im weit davon entfernten Ferienhaus, wo sie Zeugin davon wird, wie die Stromverbindung einer Glühbirne kurz unterbrochen wird. Dieses Ereignis deutet sie bereits an anderer Stelle vor dem Hintergrund ihrer Erlösungssehnsucht als einen „Gruß, als eine Art Abschied“.[9]
4. Hätte das Leben auch anders verlaufen können?
Auch im Roman Verbrenn all meine Briefe verarbeitet Schulman das Phänomen der Erlösungssehnsucht. Gerade über diese Figur bilden beide Romane eine Kontinuität. Die zerrütteten Familienverhältnisse in Die Überlebenden erhalten in Verbrenn all meine Briefe eine Ätiologie. Die Wut Sven Stolpes bildet die Grundlage der Wut der Kinder untereinander. Das Subjekt der Erlösungssehnsucht ist jedoch Karim Stolpe. Kurz zuvor hatte ihr Mann die Briefe gefunden, die ihr Olof Lagercrantz all die Jahre geschickt hatte. Der sich anschließende Streit eskaliert: Der Protagonist, im Alter von zwölf Jahren bei seinen Großeltern zu Besuch, fragt nach der Bedeutung der Briefe, denn er kann den Grund des Streits nicht verstehen. In ihrer Antwort nimmt Karim Bezug auf ein Gedicht mit dem Titel Das Land, das nicht ist[10]: „Das Land, das nicht ist, ist die andere Seite der Wirklichkeit, es ist ein Ort für Träume – es ist die Summe all dessen, was hätte passieren können, aber nie passiert ist.“[11]
Sie sehnt sich nach dem möglichen, anderen Leben.
Karim Stolpe kontrastiert hier ihre eigene Realität, die grausame Ehe mit Sven Stolpe, gegenüber einen möglichen anderen: Ihr Leben hätte auch anders verlaufen können und sie sehnt sich nach diesem möglichen anderen Leben. Diese mögliche andere Realität ist eine glückliche erfüllte Ehe mit Olof Lagercrantz. Im Gegensatz zur Mutter aus Die Überlebenden bezeichnet diese andere Wirklichkeit kein Jenseits, das den Ereignissen nachgeordnet ist. Vielmehr geht es um eine ganz andere Realität, in der sie all die Grausamkeiten und Demütigungen nie hätte erdulden müssen.
Die Sehnsucht nach Erlösung theologisch wahrgenommen.
Alex Schulman schildert in seinen Romanen nicht bloß die Abgründe menschlicher Existenz, sondern er arbeitet hier in literarischer Hinsicht die menschliche Sehnsucht nach Erlösung heraus. Theologie muss – mit Paul Tillich gesprochen – Antworten auf tatsächlich gestellte Fragen bieten, sonst entbehrt sie ihrer Funktion. Dass die Frage nach Erlösung aus dem menschlichen Selbstvollzug nicht wegzudenken ist, wird in der Lektüre von Schulmans Romanen deutlich.
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Matthis Glatzel, Studium der Philosophie und Theologie in Mainz, Frankfurt und Leipzig, seit Oktober 2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Graduiertenkolleg Modell Romantik an der Friedrich-Schiller Universität in Jena.
Titelfoto: Dovydas Žilinskas / unsplash.com
[1] Alex Schulman, Die Überlebenden. Roman. München (dtv) 2022, S. 297.
[2] Schulman, Die Überlebenden, S. 82.
[3] Ebd., S. 243.
[4] Schulman, Die Überlebenden, S. 42.
[5] Vgl. Alex Schulman, Verbrenn all meine Briefe. Roman. München (dtv) 2022, S. 229.
[6] Schulman, Die Überlebenden, S. 296.
[7] Schulman, Die Überlebenden, S. 297.
[8] Friedemann Steck (Hg.), Ulrich Barth. Symbole des Christentums. Berliner Dogmatikvorlesung (Mohr Siebeck: Tübingen 2021), S. 295.
[9] Schulman, Die Überlebenden, S. 154.
[10] Das Gedicht stammt von Edith Södergran, einer finnschwedischen Lyrikern zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
[11] Schulman, Verbrenn all meine Briefe, S. 261.