Weihnachten steht vor der Tür. Wer schweren Verlust erlitten hat, weiß, dass solche Feiertage oft besonders anspruchsvoll sind, weil das Fehlen der verlorenen oder verstorbenen Person besonders spürbar ist. Von Helga Kohler-Spiegel
Definition von Trauer
Das Wort „Trauer“ wird – laut Deutschem Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm – seit dem 17. Jahrhundert häufiger verwendet. „trauer bezeichnet einen lang anhaltenden seelischen schmerz und berührt sich mit kummer, gram…“ Trauer wird mit Lammer 2004 als „normale Reaktion auf einen bedeutenden Verlust“ (9) verstanden, als „… ein normaler, gesunder und psychohygienisch notwendiger Prozess der Verarbeitung von einschneidenden Verlusten und Veränderungen“ (10). Der Begriff „Trauer“ umfasst vier Bedeutungsebenen, die häufig zu Vermischungen und Irritationen führen.
Seelischer Schmerz
Vier Bedeutungsebenen von Trauer
1. „Trauer“ kann als Emotion verstanden werden, ein häufig länger andauerndes Gefühl, ein seelischer Schmerz, das wie jedes Gefühl kommt und geht…
2. „Trauer“ kann als „biopsychosozialer Bewältigungsprozess“ verstanden werden. In diesem Verständnis ist Trauer mehr als ein Gefühl oder eine niedergeschlagene Stimmung, Trauer ist die umfassende Reaktion einer Person auf den einen schwerwiegenden und unwiderruflichen Verlust. So verwendet erfasst Trauer alle möglichen positiven und negativen Gefühle, der Prozess dauert lange und betrifft den ganzen Menschen, d.h. sein Denken, Fühlen, die körperliche Ebene und das Verhalten. Das Erleben, die Bewertungen und die Bewältigungsstrategien eines Menschen sind betroffen, die ganze Identität ist bei der Verarbeitung des Verlustes gefordert. (Bonanno 2012)
Reaktion auf einen schwerwiegenden und unwiderruflichen Verlust
Die Entwicklung von Traueraufgaben (William Worden) und Trauerphasen (Verena Kast) versuchen, in diesem Erleben Ordnung zu schaffen. William Worden nennt als Aufgaben in diesem umfassenden Prozess von Trauer: 1. Aufgabe: Die Wirklichkeit des Todes und des Verlusts begreifen, 2. Aufgabe: Die Vielfalt der Gefühle durchleben, 3. Aufgabe: Veränderungen in der Umwelt wahrnehmen und gestalten, 4. Aufgabe: Der oder dem Toten einen neuen Platz zuweisen. Verena Kast fasst – sehr ähnlich – diesen Prozess in Phasen. Die Trauerforschung aber zeigt, dass die Reaktionen und die Bewältigungsstrategien sehr individuell sind.
3. „Trauer“ wird auch verwendet zur Beschreibung einer sozialen Position. Wenn es heißt, dass jemand „in Trauer“ ist, so will dies der privaten und beruflichen sozialen Umgebung bewusst machen, dass diese Person einen so bedeutsamen Verlust erlitten hat, dass dem oder der Hinterbliebenen für eine gewisse Zeit ein besonderer sozialer Status, nämlich der des/der Trauernden zugebilligt wird. Zeitlich befristet haben Trauernde das Recht auf Schonung, auf Verständnis und Mitgefühl sowie auf soziale Unterstützung.
Zugleich wird von den Trauernden ein entsprechendes Trauerverhalten erwartet, es irritiert, wenn jemand einerseits noch den sozialen Status des/der Trauernden einnimmt und zugleich für seine Umgebung z.B. zu wenig trauert, zu schnell an Unterhaltungsveranstaltungen teilnimmt oder zu früh eine neue Beziehung eingeht. Dies ist besonders dann auffallend, wenn durch lange Erkrankung die Angehörigen gezwungen waren, über eine längere Zeit bereits während der Erkrankung Abschied zu nehmen. In diesen Situationen geht mit dem Sterben nicht nur das Leben der todkranken Person, sondern auch ein langer Abschieds- und Sterbeprozess für die Angehörigen zu Ende. Besonders wenn die soziale Umgebung den längeren Krankheits- und Sterbeprozess nicht wahrgenommen hat, kann es sein, dass von außen längere Trauerzeiten erwartet werden, als es für betroffene Angehörige passend ist.
Zeitlich befristet haben Trauernde das Recht auf Schonung, auf Verständnis und Mitgefühl.
Zugleich aber kann nicht jeder, der subjektiv eine Trauerreaktion durchlebt, die soziale Rolle des Trauerns in Anspruch nehmen. Um sozial trauern zu dürfen, muss der Verlust bekannt und sozial akzeptiert sein, er darf in den Augen der anderen nicht zu unbedeutend oder gering sein. Die soziale Trauer fehlt, wenn es sich um verbotene oder geheime Beziehungen handelt, wenn der Verstorbene als Täter bei Gewalttaten oder anderen schwierigen Umständen umgekommen ist, wenn den Betroffenen unterstellt wird, dass sie den Verlust nicht begreifen können, dies ist z.B. bei Kindern, bei Menschen mit Beeinträchtigungen und bei demenzerkrankten Personen der Fall. Das Fehlen der sozialen Trauer und des damit verbundenen Mitgefühls und der Schonung wird von davon Betroffenen (meist) als deutliche Erschwernis des Trauerprozesses insgesamt beschrieben.
4. „Trauer“ kann auch den Verhaltenskodex umschreiben, einem Bündel von genau festgelegten Ritualen und Regeln, wie sich Menschen (je nach Region und Kultur) im Kontext von Trauer zu verhalten haben. Dies gilt für die Betroffenen ebenso wie für das soziale Umfeld. Diese Verhaltensregeln vor allem rund um Tod und Beerdigung haben sich in den vergangenen Jahren stark verändert, hier ist heute eine stärkere Individualisierung sichtbar.
Verhaltensregeln rund um Tod und Beerdigung haben sich verändert.
So komplex ist das, was sprachlich meist einfach „Trauer“ genannt wird, und so vielfältig und verwirrend können die verschiedenen Bedeutungsebenen im Erleben sein.
Und was sonst noch wichtig ist…
Trauer als Gefühl kommt und geht – wie jedes andere Gefühl. Auch in Trauerzeiten erleben Menschen positive und schwere Gefühle. Nicht jeder Trauerprozess muss mit großen Erschütterungen einhergehen, und nicht jede Trauer muss entlang der Phasen des Trauerns verlaufen. Auch der zeitliche Verlauf bis zur erneuten Stabilität lässt sich nicht festlegen. Auch wenn lange Zeit von Trauernden erwartet wurde, dass sich die Bindung zum Verstorbenen lösen müsste, geht es (meist) darum, diese Verbindung zur verstorbenen Person zu verändern und zu verinnerlichen.
Das eigene Leben neu und mit dem Verlust leben.
Leben mit dem Verlust meint, diese fortgesetzten Bindungen (continuing bonds) mit der verstorbenen Person zu leben, die innere Verbindung zu pflegen, sich Erinnerungen an die verstorbene Person, an deren Erfahrungen und an gemeinsame Erfahrungen, an bestimmte Orte, Gedanken, Formulierungen u.a. zu erlauben – all das und vieles mehr kann ermöglichen, das eigene Leben neu und mit dem Verlust zu leben. Und – auch bei der Trauer gilt: Es ist normal, verschieden zu sein.
Weihnachten steht vor der Tür. Vielleicht ist es gut, in diesen Tagen die Präsenz von neuen und alten Verlusten nicht zu übersehen. Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg fasst das Thema in einem ganz kurzen Gedicht zusammen:
„Was ist die beste Art zu trauern?
Zu trauern.“
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Helga Kohler-Spiegel ist Professorin an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg im Fachbereich Human- und Bildungswissenschaften; Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin, (Lehr-)Supervisorin; Mitglied der Redaktion von feinschwarz.net.
Bild: Kai Dahms / Unsplash.com
Literatur:
- Zahlreiche Fachbeiträge zum Thema unter: https://www.aeternitas.de/
- Bonanno, George A. (2012). Die andere Seite der Trauer. Verlustschmerz und Trauma aus eigener Kraft überwinden. Bielefeld.
- Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Stichwort Trauer; http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/genFOplus.tcl?sigle=DWB&lemid=GT08404, Zugriff 13.12.2019, 14:00 Uhr.
- Greve, Natalie K. / Reble, Jeanine (2019). Der kleine Trauerbegleiter. Ostfildern.
- Kast, Verena (1990). Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses. 10. Auflage. Stuttgart.
- Lammer, Kerstin (2014). Trauer verstehen – Formen, Erklärungen, Hilfen. 4. Auflage. Berlin Heidelberg.
- Worden, William J. (2011). Beratung und Therapie in Trauerfällen. Ein Handbuch. 4. Auflage. Bern.
Vgl. von Helga Kohler-Spiegel auf feinschwarz.net:
Nicht vereinzeln, nicht verstummen. Resilienz und Resilienzförderung