Die Bibel ist kein Buch, sondern eine Bibliothek, hört man seit Jahrzehnten in Schule, Erwachsenenbildung und Pastoral. Elisabeth Birnbaum beschreibt, warum ihr dieses Bild nicht gefällt und welches sie stattdessen bevorzugt.
Die Bibel ist kein Buch wie jedes andere. Um das zu vermitteln, greift man in der Bibelvermittlung seit vielen Jahren zum Bild der Bibliothek. Dieses Bild ermöglicht es, die Einheit der biblischen Botschaft mit ihrer Vielfalt zusammenzudenken. Mir gefällt es dennoch nicht. Denn es weckt Erwartungen, denen die Bibel nicht entspricht.
Abgeschlossenheit
Das Bild der Bibel als Bibliothek ist räumlich abgeschlossen gedacht. Das bezeugen die zahlreichen Abbildungen im Internet, in Bibelausgaben oder bibelpastoralen Materialien. Andere Bücherregale oder sonstige Möbelstücke sind nicht zu sehen. Es scheint, als befände sich das Regal allein auf weiter Flur.
Im Regal selbst stehen wiederum die Bücher schön abgeschlossen nebeneinander, je nach Länge dicker oder dünner dargestellt und farblich nach Kanonteilen gruppiert. So scheint es, als ob jedes Buch der Bibel für sich stünde und die Beziehungen zu anderen Büchern sich auf die unmittelbar benachbarten Bücher beschränkte.
Die wenigsten biblischen Bücher haben ihre Grenze entlang der Büchergrenze.
Beides wird der Bibel nicht gerecht. Sie ist weder unabhängig von der reichhaltigen außerbiblischen Literatur des Alten Orients und der griechischen Antike zu denken, noch stehen die biblischen Bücher unverbunden und streng nach Gruppen getrennt nebeneinander. Die wenigsten biblischen Bücher haben von ihrer Abfassungssituation her ihre Grenze entlang der Büchergrenze. Vielmehr verlaufen die Grenzen in der Bibel quer durch die Bücher. Ein und derselbe Verfasserkreis ist bücherübergreifend für einzelne Abschnitte des einen Buches und einzelne Abschnitte eines anderen Buches zuständig. Die motivlichen Verbindungen sind noch wesentlich stärker.
Entstehungs-Dreischritt
Zudem denkt das Konzept „Bibliothek“ Bücher als abgrenzbaren Dreischritt von Verfasser, Verlag und Bibliothekar. Der Produktionsphase folgt ein Redaktions- und Veröffentlichungszeitpunkt und davon unabhängig eine spätere Sammelphase. Jedes Buch wird – selbstständig für sich – geschrieben, mit einem Titel versehen, als Ganzes veröffentlicht und noch später mit anderen zusammen ins Regal gestellt.
So weckt das Bild der Bibliothek auch Erwartungen von bibliographisch erschlossenen Büchern, sprich: von darin enthaltenen Verfasserangaben und Veröffentlichungsdaten (Jahreszahl, Ort, Verlag). Es richtet somit den Fokus auf die sogenannten Einleitungsfragen, nach dem Wer, Wann und Wo der Abfassung und Veröffentlichung.
Das Bild der Bibel weckt Erwartungen von bibliographisch erschlossenen Büchern.
Doch die biblischen Bücher funktionieren anders. Sie wurden nicht erst geschrieben, danach veröffentlicht und danach gesammelt, sondern geschrieben, gesammelt, veröffentlicht, weitergeschrieben, veröffentlicht, weiter gesammelt, und das zum Teil jahrhundertelang. Abfassung, Redigierung und Sammlung der Bücher sind dabei nicht unabhängige Instanzen, sondern fallen häufig in eins und sind weder inhaltlich noch zeitlich noch personell scharf voneinander zu trennen.
Die Nennung von Erscheinungstermin oder Abfassungszeit, Entstehungsumständen und Verfasserschaften sucht man in der Bibel meist vergeblich. Die bibliographischen Angaben sind in den Texten nicht zu finden und selbst die seltenen originalen Verfasserangaben erweisen sich häufig als fiktiv.
Veraltete Bücher zur Einzelentnahme
Bibliotheken und Büchersammlungen im herkömmlichen Sinn stehen mehr und mehr im Verdacht, veraltet und angestaubt zu sein. Das Leseverhalten hat sich verändert, die Bibliotheken in den Privathaushalten schwinden.[1]
Nicht zuletzt vermittelt das Bild der Bibliothek ein wenig fruchtbares Verständnis von Bibellektüre. Als Bibliotheksnutzer:in entnimmt man dem Regal ein Buch, liest es, stellt es wieder zurück und nimmt ein anderes. Das Bild fördert dadurch ein Leseverhalten, das linear einzelne Bücher betrachtet und blind macht für den Reichtum der Bibel, der gerade in der Durchlässigkeit und Interaktion der Texte liegt.
Das Bild der Bibel als Bibliothek insinuiert demnach Abgeschlossenheit und klar definierte abgegrenzte Einheiten, die der Bibel nicht entsprechen. Es wirft das Augenmerk auf Kategorien wie Verfasserschaft und Entstehung und stellt die Bibel in eine Ecke mit anderen „alten“ Büchern.
Ein neues Bild
Das Bild der Bibel als Bibliothek hat zwar lange Zeit seinen Zweck erfüllt. Nun sind jedoch neue Bilder gefragt. Ich schlage daher eines vor: die Bibel als Ökosystem Wald.
Ein Wald ist ein ungemein dynamisches System. Er besteht nicht einfach aus einzelnen Pflanzen (Bäume, Sträucher, Moose), die nichts miteinander zu tun haben. Vielmehr ist er durch ein dichtes Wurzelgeflecht miteinander verbunden, das sich in ständiger Interaktion befindet. Über die Wurzeln kommuniziert ein Baum mit seinen benachbarten Gewächsen, aber auch mit weiter entfernten anderen Bäumen. Alle zusammen bilden ein ganz eigenes Binnenklima, das sich von anderen Ökosystemen unterscheidet. Und darüber hinaus bestehen auch zu Wäldern außerhalb des eigenen Systems über das weitverbreitete Wurzelsystem mancherlei Verbindungen.
Das Bild des Waldes eignet sich bestens, um das Verhältnis der biblischen Texte zueinander zu veranschaulichen.
Interaktion statt Abgeschlossenheit
So eignet sich das Bild des Waldes bestens, um das Verhältnis der biblischen Texte zueinander (Bäume, Sträucher und Moose) zu veranschaulichen. Alle Texte hängen mit allen zusammen. Sie sind gewachsen und durch gemeinsame Motive, gemeinsame Verfasserkreise oder gemeinsame theologische Ansichten verflochten. Sie durchdringen, ergänzen oder durchkreuzen einander. Und sie interagieren auch mit weiter entfernten Wäldern, mit der Literatur des Alten Orients und der griechischen Antike.
Verflochtenes Wachstum statt Dreischritt
Die Metapher der Bibel als Wald bildet auch die Entstehung des biblischen Kanons gut ab. Aus den ersten Texten und Textvarianten entstehen nach und nach unterschiedlich große Textgebilde, die Auswirkungen auf das Wachstum der anderen „Textpflanzen“ haben. Manche biblische Texte entfalten sich zu großen Textcorpora, manche bleiben klein, manche sterben auch ab, weil andere schneller gewachsen sind oder sie überlagert haben.
Im Jungwald der frühen Textgeschichte sind noch größere Umpflanzungen möglich, später verfestigt sich der Textbestand, wird höchstens noch durch ein paar Bearbeitungs-Flechten bereichert, wächst an und bildet schließlich eine dichte Baumkrone, den jeweiligen biblischen Kanon. Danach werden nur noch dann einzelne Bäume ausgeschieden, wenn es zu einer Glaubensspaltung kommt wie beispielsweise in der Reformation.
Bibellektüre als Weg
Wie fruchtbare Bibellektüre gelingt, lässt sich mit diesem Bild ebenfalls gut verdeutlichen. Ein lebendiges Ökosystem wie einen Wald kann nur erfahren, wer sich auf den Weg macht und nicht bei der Betrachtung eines Baumes stehenbleibt. Um also nicht Gefahr zu laufen, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen, bieten sich im Ökosystem Bibel dreierlei Wege an, die nacheinander oder nebeneinander beschritten werden können. Der Weg in die Breite führt (nicht nur linear!) quer durch die Vielfalt der Textsorten, Themen und Theologien und macht das Binnenklima der Bibel erlebbar. Der Weg in die Tiefe spürt dem vielfach verflochtenen Wurzelgeflecht der Einzeltexte nach und folgt ihren vielfältigen Interaktionen, innerhalb des Ökosystems Bibel und darüber hinaus. Der Weg in die Höhe führt den Texten entlang nach oben zu seinen Auszweigungen durch die Lesenden aller Zeiten bis hin zur je eigenen, persönlichen Leseerfahrung und weitet zuletzt den Blick in den offenen Himmel.
Die Bibel als Wald gedacht wird so zu einem lebendigen, dynamischen und vielfach vernetzten Beziehungsgeflecht, das den Lesenden zum Lebensraum werden kann.
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Elisabeth Birnbaum, Wien, ist promovierte Alttestamentlerin und seit 2017 Direktorin des Österreichischen Katholischen Bibelwerks.
Bildnachweis: Ivilin Stoyanov auf Pixabay
[1] Neuere Konzepte von Bibliothek eignen sich jedoch auch nicht besser als Metapher für die Bibel. Das unter dem Stichwort „Bibliothek 2.0“ diskutierte Modell entwirft das Bild einer stets veränderbaren, bedürfnisorientierten Bibliothek.
Auf die Bibel umgelegt würde das bedeuten, dass heutige Bibellesende zusätzliche Texte in die biblische Bibliothek einfordern oder nicht mehr gewünschte biblische Texte entfernen lassen könnten, je nach Geschmack und Bedürfnis. Was Bibel beinhaltet, wäre dann dem eigenen Gutdünken vorbehalten.