Der Dramaturg und Literaturwissenschaftler Michael Sommer stellt große literarische Werke mithilfe von Playmobilfiguren dar – auch die Bibel. Jonas Maria Hoff hat ihn dazu interviewt.
Herr Sommer, Sie betreiben seit 2015 den Youtube-Chanel „Sommers Weltliteratur to go“, auf dem Sie große literarische Werke in kurzer Zeit mithilfe von Playmobilfiguren darstellen. Von Oktober 2020 bis September 2021 wurden auf dem Chanel die biblischen Bücher nacheinander vorgestellt. Die biblische Welt bekommt hier ein Playmobil-Antlitz und wird pointiert erzählt, das Markus-Evangelium schon mal als „Brühwürfel unter den Evangelien“ bezeichnet. Wie sind Sie dazu gekommen?
Ich habe bis 2014 als Theaterdramaturg gearbeitet. Ein Kernjob von Dramaturg*innen ist die Theater- und damit auch Literaturvermittlung: Geschichten erklären, Geschichten ans Publikum bringen. Um das zu erreichen, habe ich mit vielen spielerischen Methoden experimentiert und eines dieser Experimente war die Verwendung von PLAYMOBIL. Im Gegensatz zu vielen anderen Versuchsballons ist dieser recht hoch gestiegen und fliegt noch immer weiter.
Mein Interesse bei dieser Tätigkeit ist grundsätzlich, Geschichten zugänglich zu machen, die gesellschaftlich und geschichtlich sehr wichtig, aber eher anspruchsvoll sind. Mit dieser Dramaturgiebrille betrachtet war es natürlich nur eine Frage der Zeit, bis ich mich (nach vielen Schullektüren) auch mit der Bibel beschäftigt habe, denn es lässt sich – unbeschadet der religiösen Dimension – nicht leicht eine Textsammlung finden, die eine vergleichbare historische und aktuelle Bedeutung hat wie die Heilige Schrift.
Im Vergleich betrachtet: Was unterscheidet das „Buch der Bücher“ von Ulysses, Faust und Co.?
Ich habe mich noch nicht mit vielen anderen Werken beschäftigt, bei denen offensichtlich so viele unterschiedliche Autor*innen mit so vielen unterschiedlichen Intentionen zu Werke gegangen sind. Es ist eine Textsammlung, bei der es im Einzelfall sehr schwierig ist zu bestimmen, was eine Geschichte erzählen will, worum es gerade geht und wie mit den großen Widersprüchen umzugehen ist, die teilweise in ein und demselben biblischen Buch enthalten sind. Natürlich steht man bei sehr alten Texten, deren Ursprünge ähnlich im Dunkel liegen, vor ähnlichen Problemen – etwa beim GILGAMESCH-EPOS oder BEOWULF, aber die Bibel ist halt eine knapp 3.000-jährige Baustelle mit sehr vielen Architekt*innen. Sich hier grundsätzlich zurechtzufinden ist ähnlich anspruchsvoll wie bei einem postmodernen Text: Es ist mit sehr vielen Vorentscheidungen verbunden.
Sie fassen in Ihren Videos immer wieder opulente Werke in wenigen Minuten zusammen. Nach welchen Kriterien kürzen Sie? Galten bei der Zusammenfassung der Bibel die gleichen Regeln?
Meine Herangehensweise an literarische Werke ergibt sich aus der Verwendung von PLAYMOBIL: Die Figuren sind die zentralen Handlungsträger. Bei klassischen Geschichten geht das sehr gut, weil es in der Regel eine oder mehrere Hauptfiguren sind, die ein oder mehrere Probleme haben, die irgendwie gelöst werden oder an denen sie scheitern. Aus diesem zentralen dramaturgischen Mechanismus ergeben sich Prioritäten, wer und was wichtig ist. Wenn in einem biblischen Buch eine Geschichte vorkommt, die auf diese Weise zusammengefasst werden kann, wie im BUCH ESTER, dann klappt das prima.
Schwierig wird’s auf der einen Seite, wenn eine große Handlungsfülle vorhanden ist (z.B. GENESIS) und auf der anderen Seite, wenn wenig Geschichte vorhanden ist (z.B. LEVITICUS) oder die Elemente anders als logisch verknüpft sind (z.B. OFFENBARUNG DES JOHANNES). In solchen Fällen bemühe ich mich, einen Überblick über Motive und Themen zu geben und benutze meine Figuren (und andere Haushaltsgegenstände) als Repräsentant*innen von abstrakten Konzepten.
Sind eigene religiöse oder theologische Überzeugungen in den Prozess eingeflossen? Gott ist bei ihnen bspw. eine ziemlich bunte Figur, die Sie mit wechselnden Personalpronomen versehen.
Um ein fünf- bis fünfzehnminütiges Video aus einem biblischen Buch zu machen, müssen eine Menge Entscheidungen getroffen werden. Grundsätzlich versuche ich, einen Text aus sich selbst heraus zu verstehen, was aber bei der Bibel teilweise schwer ist. Deshalb habe ich mir immer wieder auch Hilfe geholt und Erläuterungen gelesen und das hat – neben meinen ohnehin vorhandenen Einstellungen und Prägungen – natürlich meine Arbeit beeinflusst. Jede Auseinandersetzung mit einem Text ist eine subjektive, und glücklicherweise sind die meisten Theolog*innen heutzutage auch bei dieser Erkenntnis angekommen.
Wenn Sie die Gottesfigur beispielhaft nehmen wollen: Darüber habe ich tatsächlich gemeinsam mit Frank Muchlinsky nachgedacht, dem Redaktionspfarrer von evangelisch.de, meinem Kooperationspartner bei diesem Projekt. Er schlug mir vor, Gott unpersönlich darzustellen, aber ich wies ihn darauf hin, dass die Verwendung von Figuren nun mal meine Technik ist. Und am Ende wurde es eine menschenähnliche Figur, die aber kein Mensch ist und schon gar nicht Frau oder Mann, denn natürlich hat Gott kein Geschlecht wie Menschen.
Die Bibel ist so bunt wie Ihre Gottesfigur. Sie haben die gesamte Bibel durchgearbeitet und zusammengefasst. Trotz der vielen Unterschiede: Haben Sie rote Fäden entdeckt? Was hält die biblischen Bücher zusammen?
Wir Menschen sind Geschichtentiere. Setzen Sie jemandem drei Bilder vor und sie oder er wird Ihnen im Nu die Geschichte dazu erzählen. Wir machen den ganzen Tag nichts anderes, als Geschichten nach dem Muster Figur-Problem-Lösung zu konstruieren, weil das unser Leben ist: Wir werden geboren, wir lösen Probleme, wir sterben. Insofern lässt es sich gar nicht vermeiden, auch bei so disparaten Textsammlungen wie der Bibel einen roten Faden zu erkennen, gerade weil die Protagonistin vom ersten bis zum letzten Buch fast immer vorkommt. Natürlich kann man die Bibel als Gottes Liebesgeschichte mit der Menschheit lesen. Wer das tut, sollte sich aber gerade in den ersten Büchern auf traumatische Erfahrungen einstellen, denn keine Beziehungsexpertin der Welt würde Ihnen empfehlen, mit einem Partner zusammenzubleiben, der so gewalttätig, eifersüchtig und auch grausam ist.
Sie sprechen die dunklen Facetten der biblischen Gottesbilder an. Wie sind Sie mit diesen schwierigen, spannungsreichen Passagen umgegangen?
Tatsächlich war es für mich eine wichtige Erfahrung, insbesondere die Stellen im Kontext kennenzulernen und etwas über ihre vermutliche Entstehung zu erfahren, die aus unserer heutigen theologischen Sicht „schwierig“ sind. Ich habe mich bemüht, die Krassheit bestimmter Geschichten nicht auszusparen, aber sie – soweit das in diesem Format geht – durchaus auch einzuordnen. Im Fall der GENESIS, wo viele frauenfeindliche kleinere Geschichten vorkommen, habe ich ein Sondervideo produziert, um diesen Aspekt wenigstens darzustellen. Es ist aus meiner Sicht sehr wichtig, nicht im Sinne einer einheitlichen jesuanischen Lesart der Bibel widersprüchliche Stellen auszublenden, sondern in diesen Fällen immer auch zu bedenken, dass die Texte von Menschen in bestimmten Situationen mit bestimmten Bedürfnissen geschrieben wurden. Das ist aber die Aufgabe von Theolog*innen und nicht in einem zehnminütigen PLAYMO-Video machbar.
Die Bibel ist nicht bloß Literatur, sondern für Milliarden Menschen weltweit eine Heilige Schrift. Ist es da angemessen, sie mit Playmobil-Figuren darzustellen?
Wenn ich mir die lange Geschichte von biblischen Adaptionen vom mittelalterlichen Mysterienspiel über die Barockspektakel der Gegenreformation bis zum Monumentalfilm so anschaue, dann kann ich meine Methodik ganz gut verantworten. Einerseits verwende ich die Figuren, weil ich niemanden kenne, dem sie grundsätzlich unsympathisch wären. Es ist ein extrem positiv konnotiertes Spielzeug, und meine Herangehensweise profitiert sehr stark davon, dass Leute PLAYMOBIL mögen. Andererseits gibt es in der Tat eine Spannung zwischen der Verwendung von Kinderspielzeug und Hochkultur bzw. hier Religion. Das hat manchmal komisches Potential – ich verweise auf alle Krippenspiele dieser Welt –, aber es ist immer ein vorzügliches didaktisches Mittel. Warum? Weil wir alle als Kinder Rollenspiele spielen, um das Leben und Geschichten zu begreifen, deshalb muss ich niemandem erklären, was ich da mache.
Sie erzählen die Bücher in hohem Tempo, müssen dazu selbst aber erst einmal viel lesen. Sie selbst nehmen sich also viel Zeit, damit andere Zeit sparen. Wie empfinden Sie dieses Verhältnis?
Ich empfinde es als Geschenk, dass ich einer Tätigkeit nachgehen darf, die mir und offenbar auch anderen Spaß macht und von der sie sogar praktisch (zumindest Schüler*innen vor einer Klausur) profitieren können. Durch diese Arbeit habe ich wesentlich mehr gelesen und gelernt als während meines Studiums, deshalb bin ich auch der Überzeugung, dass kreative Projektarbeit ein wesentlicher Teil schulischer und auch akademischer Bildung sein sollte. Insofern freue ich mich sehr, wenn Lernende selbst solche PLAYMO-Filmchen erstellen oder wenn Studierende Theater spielen.
Wie hat dieser Gang durch die Bibel ihren eigenen Blick auf die Schrift und Religion insgesamt verändert?
Meine Familie ist christlich und in meiner Kindheit und Jugend habe ich viel Zeit in der Kirche verbracht. Ich hatte also durchaus eine Vorstellung von der biblischen „Gesamtbotschaft“. Das Projekt DIE BIBEL TO GO hat aber meinen Blick für die Widersprüche und Schwierigkeiten dieser Textsammlung geschärft und tatsächlich eine ganz praktische Konsequenz gehabt: Ich habe mich anschließend entschieden, mich mit voller Kraft für die Frauenordination in meiner Kirche (der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, kurz SELK), in der diese bisher nicht existiert, einzusetzen.
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Bild: Screenshot aus „Das dritte Buch Mose to go„, Urheber: Michael Sommer