Mit beängstigender Geschwindigkeit hat sich das Corona-Virus in den vergangenen Wochen verbreitet. Regelmäßig führt es dabei zu Krisen und zu gesellschaftlichen Ausnahmesituationen. Walter Schaupp analysiert die Krise aus ethischer Perspektive.
Inzwischen wird die Corona-Krise in Europa als „größte Herausforderung seit dem zweiten Weltkrieg“ bezeichnet.[1] Wir erleben die Einrichtung von Krisenstäben, den täglichen gebannten Blick auf die Erkrankungszahlen und die Anzahl der Corona-Toten. Einhergehen schrittweise eskalierende Maßnahmen der Regierung, welche die Ausbreitung des Virus verlangsamen sollen. In den letzten Tagen haben sie ein beträchtliches Ausmaß an Einschränkungen in die persönliche Freiheit gebracht.
Zusammenbruch etablierter Bewältigungsmuster
Bei Krisen geht es immer um den Zusammenbruch etablierter Bewältigungsmuster und um dadurch ausgelöste Angst. Beides muss bestmöglich bewältigt werden. In diesem Sinn muss der Blick sich zuerst auf die Bedrohung richten: Worin besteht sie genau? Wie groß ist sie wirklich? Wie wird sie wahrgenommen?
Bekannt ist, dass die Sterblichkeitsrate bei Covid-19 sich nicht dramatisch von jener bei Grippe unterscheidet. Wie bei dieser sind vor allem Menschen in höherem Alter und mit Vorerkrankungen gefährdet. Das Durchschnittsalter der am Corona-Virus Verstorbenen in Italien liegt bei 81 Jahren. Bei vielen gibt es eine Vorerkrankung, sodass sich fragen lässt, woran sie wirklich gestorben sind. Warum lösten 2.800 Fälle von Grippetoten allein in Österreich 2017/18[2] oder 1.122 vermutete Fälle von Hitzetoten im Sommer 2015[3] keine Irritationen und massive Gegenmaßnahmen aus im Vergleich zu bisher etwa 5.700 Corona-Toten weltweit?[4]
Bestimmte Szenarien sollen um jeden Preis verhindert werden.
Die eigentliche Bedrohung liegt in einem unkontrollierten, exponentiellen Ansteigen der Infektionskurve und einem damit verbundenen Versagen des Gesundheitssystems. Bestimmte Szenarien aus China und Italien sollen um jeden Preis verhindert werden, nämlich dass die Versorgung zusammenbricht, dass Menschen vor Spitalstüren zurückgewiesen werden, dass sie wie in Kriegszeiten in Zelten notdürftig versorgt werden und dass Ärzte lebensrettende Maßnahmen verweigern müssen.
Solche Bilder signalisieren einen Rückfall in Kriegszeiten und lösen ein Gefühl extremer Bedrohung und Hilflosigkeit aus. Die Maßnahmen schützen daher nicht nur unmittelbar Leben, sondern zu Recht auch die Zuverlässigkeit ansonsten selbstverständlicher Solidaritäts- und Sorgestrukturen in der Gesellschaft über alle Altersgrenzen hinweg.
In solchen Situationen gibt es eine Pflicht zu einem tutioristischen Vorgehen und zu Solidarität.
Dazu kommt, dass es sich tatsächlich um den ersten Kontakt eines neuen Virus mit der Menschheit handelt und wir über keine Immunität verfügen. Wir stehen vor exponentiellen Infektionsraten. Es existieren noch zu viele Wissenslücken, was Übertragungsraten, Sterblichkeitsraten und Immunisierung usw. angeht.
In solchen Situationen gibt es eine Pflicht zu einem tutioristischen Vorgehen und zu Solidarität innerhalb der gesamten Gesellschaft. Bei Grippeepidemien verfügen wir dagegen über Erfahrung mit ihren ungefähren Verläufen und der Anstieg der „Hitze-bezogene Übersterblichkeit“ erfolgt langsam.
Gesellschaften haben die Pflicht, jedes rettbare Leben zu retten. Sie dürfen dabei aber nicht andere wichtige Güter aus den Augen verlieren.
Trotzdem stellen sich Fragen der Verhältnismäßigkeit, was die eingesetzten Mittel angeht, und zwar umso mehr, je einschneidender sie sind und je länger die Maßnahmen andauern. Gesellschaften haben die Pflicht, jedes rettbare Leben zu retten. Sie dürfen dabei aber nicht andere wichtige Güter aus den Augen verlieren, die damit konkurrieren.
Viele der bisherigen Maßnahmen schneiden nicht wirklich dramatisch in das Leben ein, vor allem, wenn sie vorübergehend sind. Es geht eher um eine Veränderung der Lebensgewohnheiten und des Lebensstils, um ein zumutbares Zurückfahren von Aktivität. Schwieriger wird es, wenn sich hohe wirtschaftliche Kosten einstellen, wenn die Maßnahmen für viele Betriebe existenzbedrohend werden, oder sich die Frage stellt, ab wann die Stilllegung des Bildungssystems in Konflikt mit einem Recht auf Bildung kommt.
Es wäre prekär, wenn sich mit der Zeit eine Entsolidarisierung einstellt.
Eine zweite Herausforderung, die mit dem Andauern der Krise wachsen könnte, ist die Belastbarkeit der Solidarität innerhalb der Gesellschaft. Derzeit wird die Last der Maßnahmen von allen getragen, auch wenn bestimmte Gruppen besonders gefährdet sind. Weil die Maßnahmen auf gesellschaftliche Akzeptanz angewiesen sind, wäre es prekär, wenn sich mit der Zeit eine Entsolidarisierung einstellt, die sich in wachsendem Protest gegen verordnete Maßnahmen artikuliert.
Ein Blick auf Großbritannien zeigt, dass hier erwogen wurde, einen anderen Weg zu gehen: Der Großteil der Bevölkerung soll sein Leben wie gewohnt und ohne jede Einschränkung weiterführen, damit sich eine möglichst rasche Immunisierung der Bevölkerung einstellt. Die über 75-Jährigen dagegen sollen sich für vier Monate in Quarantäne zurückziehen. Darüber hinaus müsse man Tote wie bei anderen Epidemien einfach in Kauf nehmen.[5] Dies kommt dem Staat billiger, bedeutet aber eine Preisgabe einer gesellschaftlichen Grundsolidarität und ein Verschieben der Lasten zu den Alten, die sich selbst um ihren Schutz kümmern sollen.
In einer E-Mail-Aussendung von AVAAZ vom 14. März 2020 stellt Ricken Patel die folgende wichtige Frage im Hinblick auf die Corona-Krise: „Entweder lassen wir zu, dass Angst uns spaltet, oder wir halten in diesem Moment noch viel mehr zusammen.“ Die Möglichkeit für beides ist in uns Menschen angelegt und es ist zu hoffen, dass die gegenwärtige Krise Solidarität hervorbringt, auch unter den Jungen, wofür es im Übrigen ermutigende Anzeichen gibt.
Die Krise bringt negative Effekte der kapitalistischen Marktlogik schonungslos ans Licht.
Positiv erscheint auch, dass die Krise schonungslos gewisse negative Effekte der kapitalistischen Marktlogik, ans Licht bringt, die sich in der Vergangenheit immer mehr durchgesetzt hat. Da gibt es die chinesischen Gastarbeiter in Italien, von deren Existenz und Schicksal kaum jemand wusste;[6] die plötzlich wegbrechende Lieferketten machen den Irrsinn weltweiter Transportwege und damit steigender Abhängigkeiten bewusst; entwürdigende Bilder medizinischer Versorgung werden zu Symbolen für kaputtgesparte Gesundheitssysteme.
Ein anderes Leben ist möglich.
Ein weiterer positiver Effekt der Krise ist die Erfahrung, dass ein anderes Leben möglich ist – ein Leben nämlich, das langsamer ist und sich in seiner exzessiven Mobilität und Dichte zurücknimmt. Über manchen Städten des Planeten sind inzwischen die Abgaswolken und Dunstglocken verschwunden. Vieles was sich sonst politisch nicht durchsetzen lässt, aber dem Klima gut tun würde, macht das Corona-Virus plötzlich möglich. So steht zu hoffen, dass das Virus für das Leid, das es uns zufügt, insofern einen Ausgleich anbietet, als es nicht nur medizinische und gesundheitspolitische, sondern umfassendere soziale und ökologische Lernprozesse anstößt.
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Walter Schaupp ist Mediziner und Universitätsprofessor für Moraltheologie in Graz.
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[1] So u.a. Bundeskanzler Sebastian Kurz in der ZiB-Spezial vom 14.03.2020.
[2] Influenza. 616 Todesfälle durch Grippe in Österreich, Kleine Zeitung online v. 18.3.2019.
[3] Vgl. AGES: Hitze-Mortalitätsmonitoring.
[4] WHO Situation Report – 55, Stand 17.03.2020.
[5] Markus Haeflinger, Die Briten schwimmen in der Coronavirus-Krise gegen den Strom, NZZ online v. 15.3.2020.
[6] Vgl. Corona und die italienische Modeindustrie. Wie die Ausbeutung chinesischer Arbeiter zur Ausbreitung des Virus beiträgt, zackzack v. 27.02.2020.