Am Sonntag wird in Deutschland gewählt. Selten war ein Wahlkampf so matt und thematisch blass wie diesmal. Die Deutschen – ein Volk von selbstgenügsamen Kleinbürgern? Oliver Hidalgo deutet die Lage vor dem Wahlsonntag.
In der grössten Demokratie der EU wird gewählt, doch Spannung will nicht aufkommen. Zu klar zeigen die Umfragen, dass sich die SPD als Juniorpartner der Regierungskoalition erneut in einer denkbar schlechten Ausgangsposition befindet, um eine Wechselstimmung herbeizureden (geschweige denn herbeizuführen). Und die anderen Parteien besitzen ohnehin zu wenig Rückhalt in der Bevölkerung, um Kanzlerin Merkel ernsthaft gefährden zu können. Offen scheint daher nur, wer ab Herbst der neue Koalitionspartner der CDU/CSU wird – die vom Debakel 2013 einigermaßen erholte FDP, mal wieder die SPD oder doch die gebeutelten Grünen?
Die „Schweigespirale“ des Populismus…
Nun mögen kritische Zeitgenossen einwenden, dass die Wahl Trumps, der Brexit usw. doch schmerzlich gezeigt hätten, wie viel die heutige Wahlforschung wert ist. Hier muss man allerdings differenzieren. Unter dem Strich war es nämlich keineswegs überraschend, dass in den USA eine über die Maßen unbeliebte Kandidatin des ,Establishments‘ gegen einen politischen Newcomer die Präsidentschaft in eben jenen Bundesstaaten verlor, in denen sie bei den Vorwahlen bereits einem sozialistischen Außenseiter unterlegen war. Und dass seit vielen Jahren Referenden, in denen es sich um die EU dreht, tendenziell gegen die Europabefürworter auszugehen pflegen, ist eigentlich auch kein Geheimnis. Insofern scheint es sich allenfalls um ein Spezialproblem der Demoskopie zu handeln, die sich auffallend schwertut, radikale und populistische Positionen angemessen zu erfassen, weil die Vertreter solcher Meinungen nach außen mit diesen gern hinter dem Berg halten – die altbekannte ,Schweigespirale‘ lässt grüßen. In Deutschland aber muten die Verhältnisse gleichwohl viel zu eindeutig an, als dass ab 24. September auf einmal die AfD auf den Regierungsbänken sitzen könnte.
So viele scheinen unzufrieden und die Suche nach Sündenböcken hat längst begonnen.
Bei näherem Hinsehen erkennen wir jedoch auch in Deutschland alle Anzeichen, die schon die Wahlen in den USA und Großbritannien dominiert haben und Marine Le Pen fast zur Präsidentin Frankreichs gemacht hätten: Wohin man blickt, schlägt einem Unzufriedenheit entgegen. Und oftmals Angst, ob der eigene Job im Zeitalter der Digitalisierung sicher ist und ob man im Alter von der eigenen Rente wird leben können. Abgesehen davon, dass das Wachstum, welches das Ganze im Zweifelsfall finanzieren soll, in seine eigenen Katastrophen zu münden droht. Die Stimmen, die hinter solchen Befürchtungen eine Art Paranoia vermuten, werden hingegen leiser. Wie pessimistisch wir alle in die Zukunft blicken, verrät allein das historisch niedrige Zinsniveau. Und selbst wenn in Deutschland die geschichtliche Vorbelastung den Aufstieg rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien erschwert, das Brodeln im Land ist deutlich zu spüren und die Suche nach Sündenböcken hat längst begonnen.
Strategien einer Kanzlerin…
Angesichts dieser bedrohlichen Kulisse verwundert es schließlich doch, warum der Wahlkampf derart matt verläuft, zumal die Kanzlerin an Beliebtheit eingebüßt hat und spätestens seit der (gefühlten) ,Flüchtlingskrise‘ 2015 massiv polarisiert. Immer stärker erhärtet sich deshalb der Verdacht, dass Angela Merkel schlicht die politischen Gegner abhandengekommen sind, die die negative Grundstimmung für sich nützen könnten. Dabei ist es in Mode gekommen, die Kanzlerin selbst für diesen Umstand (mit-)verantwortlich zu machen: durch ihren Politikstil, der darauf ausgelegt ist, die Mitte besetzen, Kontrahenten einzulullen, Kritik an sich abperlen zu lassen, klare Positionierungen oder gar Wahlversprechungen zu vermeiden und dadurch stets für alles offen zu bleiben. Freilich – wer will es ihr verdenken, wenn sie mit dieser Strategie bislang stets Erfolg hatte? Und ist es nicht sogar ein gutes Zeichen für die Demokratie, dass Merkel auf dieser Basis mit den unterschiedlichsten Parteien und Positionen koalitionsfähig bleibt?
Merkel zeigt keinerlei Vision – und das scheint zu reichen.
In jedem Fall fällt auf, dass sich Publikum und Wähler an diesen Duktus Merkels längst gewöhnt haben und von der dahinter vermuteten Aura des Erfolges eingenommen sind. Nur so war es auch möglich, ihren ziemlich zähen Auftritt im Kanzlerduell mit Martin Schulz als klaren Punktsieg wahrzunehmen. Im Grunde hat Merkel in den knapp neunzig Minuten überhaupt keine gute Figur gemacht. Sie wirkte genervt, ihre Politik erklären zu müssen, offenbarte keinerlei Vision, wohin sie das Land in der nächsten Legislaturperiode führen möchte, und beließ es dabei, sich als ruhender Pol in unruhigen Zeiten zu präsentieren. Und doch glaubte jeder nach dem Zusehen zu wissen: Das wird trotzdem locker reichen, weil die Versuche von Schulz, sich als echte Alternative zu profilieren, unter dem Strich beinahe kläglich ausfielen. Der Tenor der Berichterstattung war sich darum schnell einig: die beiden verstehen sich halt, pflegen jeweils ein recht sachliches Politikverständnis und geraten sich mithin kaum in die Haare. Vorbei die Zeiten, als Adenauer oder Kohl vor der SPD als dem Untergang des Abendlandes warnten oder sich Strauß und Wehner regelrechte Verbalduelle lieferten. Mittlerweile geht man gesitteter miteinander um, was Merkel zugute kommt, weil wie beim Boxen der Herausforderer schlechterdings mehr zeigen müsse als der amtierende Champion, um zu gewinnen.
Politik ist kein Boxkampf
Beim Siegen und Verlieren in der Demokratie geht es lediglich indirekt darum, wer sich gegen wen in der Meinung von Punktrichtern und Zusehern durchsetzt. Was zählt ist stattdessen, wie Max Weber es einmal formulierte, die politische ,Sache‘, eine konkrete Programmatik, die als notwendig erachteten Entscheidungen – von denen Politiker überzeugt sind und denen sie im Rahmen der demokratischen Verfahrensweisen zum Sieg verhelfen wollen. Umso befremdlicher wirkt es, wenn ein Großteil der Bevölkerung offenbar gar kein politisches Programm mehr erwartet und der Kanzlerin die von ihr kultivierte Verweigerung der politischen Auseinandersetzung positiv als Souveränität auslegt.
Menschen glauben nicht mehr, dass Politik etwas verändern kann.
Die eigentliche Crux der heutigen Demokratie wird darin schnell deutlich: Die Mehrzahl der Wähler und Journalisten, aber auch der Politiker der meisten Parteien haben offensichtlich den Glauben daran verloren, dass ,Politik‘ überhaupt etwas Signifikantes verändern kann. Erst die angebliche Ohnmacht, den ,Systemzwängen‘ der Globalisierung wirkungsvoll zu begegnen, macht erklärlich, warum das reaktive Krisenmanagement der Regierung Merkels überwiegend als Erfolg und womöglich als einzige Option der Politik verstanden wird. Das vergiftete Erbe von Gerhard Schröder, der nach seiner Abwahl nonchalant bekannte, das Kanzleramt nie angestrebt zu haben, hätte er früher gewusst, wie wenig man damit gestalten kann, hallt hier unvermindert nach.
Was keiner wahrhaben will: die „verlorenen Merkel-Jahre“
Schon jetzt ist indes absehbar, dass wir in der Retrospektive irgendwann von den ,verlorenen‘ Merkeljahren sprechen werden; als dringend etwas hätte geschehen müssen, um die anstehenden ökologischen, demographischen und gesellschaftspolitischen Herausforderungen zu meistern; damals, als noch Zeit war, etwas zu verändern, und man sich trotzdem zufrieden gab, über einen gewissen Zeitraum vergleichsweise ungeschoren davonzukommen.
Und doch ist der prekäre Zustand der heutigen Demokratie nicht einfach – wie häufig geschehen – den Politikerinnen und Politikern anzulasten. So viel Vertrauen die Demoskopie auch verspielt hat, eines zeigt sie doch unmissverständlich: mit der ,Wahrheit‘ über die enormen Probleme der Gegenwart, mit dem Einleiten der unvermeidlichen unpopulären Reformen gewinnt man – wenigstens momentan – keine Wahl. Insofern sind wir alle gemeinsam dafür verantwortlich, wie sich der aktuelle ,Politikzirkus‘ weiterentwickelt.
Es ist die Entscheidung der Wähler, ob ihnen reicht, was die etablierten Parteien und Medien derzeit anbieten, oder ob sie ihre Erwartungshaltung ändern und Politik nicht länger dafür abstrafen, wenn sie unbequeme Botschaften überbringt. Yes, we can! Doch sollten wir dringend anfangen, darüber zu reden und zu streiten, was und wohin wir eigentlich wollen.
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PD Dr. Oliver Hidalgo lehrt Politikwissenschaften an der Universität Regensburg. Sein Schwerpunkt ist das Verhältnis von Religion und Politik. Bild: Stefan Erdmann / pixelio.de