Die Corona-Demonstrationen offenbaren Brüche. Ferenc Herzig liest eine medial augenfällig gewordene Begegnung in Gera – auf dem Hintergrund der Überlegungen von Maurice Blanchot und Jean-Luc Nancy – als Sinnbild gegenwärtiger Koexistenz- oder Gemeinschaftsphänomene.
In Zeiten, in denen die eingeübten politischen Einordnungen von Demonstrationen sich selbst brechen und die Etikettierungsversuche der Versammelten unübersichtlich werden, lohnt es sich, das Phänomen der Versammlung unter einem weiteren, philosophischen Blickwinkel einmal kurz anders wahrzunehmen: „Die Gemeinschaft der Liebenden, ob sie es wollen oder nicht, ob sie es genießen oder nicht, ob sie verbunden sind durch Zufall, durch ‚Amour fou‘ oder durch Todesleidenschaft (Kleist), hat zu ihrem wesentlichen Ziel die Zerstörung der Gesellschaft“, schreibt Maurice Blanchot (1907–2003) im Jahr 1983.[1]
Ich lese diese Zeilen, als gerade bewegte Bilder von Alfons Blum durch die Medien gehen, von dem 84jährigen Rentner, der sehr rührend darauf hinweist, wie schmerzlich er seine schwer demenzkranke Frau vermisst und darunter leidet, sie im nahegelegenen Pflegeheim gegenwärtig nicht mehr besuchen zu dürfen. Er tut dies auf einer Demonstration gegen Corona-Maßnahmen der Landes- oder Bundesregierung (so klar ist das nicht) in Gera, in meiner Geburtsstadt (auch deswegen geht mir das Thema ans Herz), gegenüber einem Kamerateam der ARD, und wird unterbrochen von einem auf den ersten Blick sehr undifferenzierten Rüpel, der wie die Inkarnation des Klischee-„Corona-Demonstranten“ wirkt. Herr Blum und der Namenlose sind weniger ein biblisch-antagonistisches Paar, sondern ein Sinnbild für die unübersichtliche Eindeutigkeit gegenwärtiger Kopräsenz- und Koexistenzphänomene.
Sinnbild gegenwärtiger Koexistenzphänomene
„Ko-Existenz“, schreibt Jean-Luc Nancy (*1940), „ist ein Begriff, dessen Tonfall zwischen Indifferenz und Resignation oder auch zwischen Kohabitation und Kontamination oszilliert.“[2] Das passt in Anbetracht der Demonstrationen ‚gegen‘ und dann auch mit Corona ganz gut, will aber vor allem auf ein Problem hinweisen: Denn Ko-Existenz klingt nicht nur nach freier Willensentscheidung und weniger nach äußerem Zwang, sondern vor allem nach einem singulären Plural (oder einem pluralen Singular; beides ist nicht getrennt voneinander denkbar) von Individuen, die nicht so un-teilbar und nicht so atomisiert sind, wie der Begriff nahelegt: Der Rüpel führt vielmehr einen Dialog mit sich denn mit Herrn Blum oder den Journalist:innen, ganz so, als müsste er vor allem sich selbst durch immer lauteres Brüllen von der Wahrheit seiner Wirrnis überzeugen.
das Phänomen der konfrontativen und zugleich innigen Begegnung (mindestens) zweier Singulare
Der philosophisch eingespieltere Begriff, der seit den Schriften von Georges Bataille (1897–1962), dann aber vor allem seit und im Zusammenhang der Diskussion von Blanchot und Nancy in den 1980er Jahren darüber verwendet wird, um das Phänomen der konfrontativen und zugleich innigen Begegnung (mindestens) zweier Singulare zu beschreiben, ist „Gemeinschaft“ (communauté).
Die Gemeinschaft, die v.a. Jean-Luc Nancy (im Gegenüber zu Blanchot) denken will, ist eine „entwerkte“ Gemeinschaft (communauté désoeuvrée)[3], eine Gemeinschaft, die sich nicht ins Werk setzen lässt, die man nicht ‚machen‘ und die man nicht ‚verlieren‘ kann, die kein Objekt und auch kein Subjekt ist, sondern vielleicht eher der ‚Raum‘, in dem sich jeder Mensch als Mit-Mensch schon immer vorfindet: Gemeinschaft als Existenzial und nicht als Kategorie.
Gemeinschaft kann nicht ‚gemacht‘ werden – und ‚macht‘ nicht selbst etwas.
Wenn Gemeinschaft nicht ‚gemacht‘ werden kann, wenn sie zugleich aber auch kein postmetaphysisches Subjekt ist, das selbst etwas ‚macht‘ und sich zugleich – als Sub-jekt – einer Ordnung des Machbaren unterstellt, muss nach anderen Denkwegen gesucht werden, um zu beschreiben, wie Gemeinschaft wirkt. Mit Nancy bietet es sich an, von einem Areal, von einer „Arealität“[4] der Gemeinschaft zu sprechen. Die Begegnung von Alfons Blum und dem Rüpel fand in einem solchen Raum statt, der selbst Gemeinschaft ist und Gemeinschaft aus sich heraussetzt, allerdings auf komplexe und offenkundig kaum romantische Weise.
Ihr eignet eine quasiontologische Struktur: Gemeinschaft – in seinen späteren Schriften benutzt Nancy bevorzugt andere Begriffe wie „Gemeinsam-Sein“, „Mit-Sein“, „Zusammen-Sein“, weil das Wort Gemeinschaft gerade in Deutschland nicht selten Anklänge an die „Volksgemeinschaft“ hervorrief und auch heute noch jedenfalls missverständlich nah am Völkischen ist, das gegenwärtig wieder erstarkt – betont das Prae des „cum“, das in „Kommunikation“ wie in „communauté“ und vielen anderen Worten dieser Art steckt: „Kommunion“.
betont das Prae des „cum“, das in Worten wie „Kommunikation“ oder „Kommunion“steckt
Gemeinschaft bezeichnet ein ontologisches Mit, das die Mitte mitdenkt und so die Gegensätze, die diese Mitte konstituieren, und ist nicht nur einfach ‚da‘, ist mehr als „Da-Sein“. Gemeinschaft ist so verstanden ein autopoietisches Areal des „Mit-Sein“ und damit auch etwas anderes als Einheitlichkeit, die so oft beschworen wird, kann gar nichts unteilbar Eines meinen, nur den Ort – eigentlich nicht „Ort“ (v.a. aber auch nicht „Nicht-Ort“) – der Begegnung von differenzierten Menschen, die in sich selbst differenziert sind.
neoromantisierende Dekandenzerzählungen über Ursprungsgemeinschaften in verunsicherten Gesellschaften
„Gemeinschaft“ ist dabei schon immer ein Krisenbegriff, der seit der prominenten und irritierend hartnäckigen Einführung durch Ferdinand Tönnies im Jahr 1887 eine erstaunliche quasimythologische Karriere gemacht hat: Das Denken der Gemeinschaft – „die Gemeinschaft wurde sicher noch nie gedacht“[5] – setzt (seit Menschendenken, auch schon vor Tönnies) immer dann im Modus der Behauptung neu an, wenn neoromantisierende Dekandenzerzählungen über Ursprungsgemeinschaften Platz in den Herzen verunsicherter Gesellschaften beanspruchen.
Aber auch eine Gemeinschaft, die beschworen wird – sei es mit der Fratze des Identitären oder auch mit der souveränen Verzweiflung, in der Angela Merkel und Emmanuel Macron gerade mit Fantastilliarden die Europäische Union als ökonomisches Projekt mehr denn als „Idee“ retten wollen – ist eher Behauptung denn Wirklichkeit. Sie kann eben nicht ins Werk gesetzt werden. Und auch der gegenwärtige Status der EU ist in deutliches Zeichen dafür, dass Gemeinschaft eher etwas vielleicht Mystisches, sicher aber Intimes und nichts Machbares ist.
beschworene Gemeinschaft – eher Behauptung denn Wirklichkeit
Blanchot schreibt einen harten Satz, dessen Härte eine gegenwärtige Pointe zu verdecken droht: Dass die Intimität der Gemeinschaft auch und gerade Verschiedener einer Gesellschaft gegenübersteht, die als vermeintliche Einheit kein Gespür für singuläre Phänomene mehr hat.
Der differenzierende Alfons Blum vermisst die Gemeinschaft mit seiner Frau, und dem nicht-differenzierenden Rüpel fehlt die Gemeinschaft mit sich selbst. Beide sind keine Abbilder der Gesellschaft, die es nicht gibt. Sie sind eine Gemeinschaft der Unterschiedenen, versammelt auf dem Areal des intimen Diskurses.
Und ‚die Gesellschaft‘ steht immer noch etwas staunend vor diesem uneinheitlichen Phänomen der Gemeinschaft, die sich nicht greifen, die sich nicht herstellen, die sich nicht einmal definieren lässt. Nur die Gemeinschaft, das Mit-Sein als Konstituum des Menschseins, insistiert weiter und „verwirklicht[ ] sich als ihr eigenes Werk.“[6]
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Dr. Ferenc Herzig wurde in Praktischer Theologie mit einer Arbeit zu Gilles Deleuze und dem Ereignis promoviert und denkt gerade im Themenkreis „Kirche und Gemeinschaft“.
Bild: Mike Erskine / unsplash.com
[1] Maurice Blanchot, Die uneingestehbare Gemeinschaft. Aus dem Französischen und mit einem Kommentar von Gerd Bergfleth, Berlin 22015, 84.
[2] Jean-Luc Nancy, singulär plural sein. Aus dem Französischen von Ulrich Müller-Schöll, durchgesehene Neuauflage Zürich 2016, 75.
[3] Vgl. den nahezu gleichnamigen Aufsatz („La communauté, le nombre“), den Nancy auf Bitten von Jean-Christophe Bailly im Jahr 1983 für die Zeitschrift „Aléa“ verfasst hat und der den ersten Teil seines Buches „La communauté désoeuvrée“ bildet, auf Deutsch etwa übersetzt von Gisela Febel und Jutta Legueil und verlegt in der Editon Patricia Schwarz, Stuttgart 1988. Der Text ist im Netz zu finden.
[4] Vgl. Jean-Luc Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988 (vgl. Anm. 3), 47 et passim.
[5] AaO., 59.
[6] Jean-Luc Nancy, Die herausgeforderte Gemeinschaft. Aus dem Französischen von Esther van der Osten, Zürich/Berlin 2007, 25. Hier ist allerdings ein Kerngedanke von Georges Bataille wiedergegeben, und also damit auch einer Nancys.