Am kommenden Sonntag ist Muttertag – auch für Mütter, deren Kinder gestorben sind. Annette Stechmann hat sich damit beschäftigt, wie sich der Tod des eigenen Kindes vor, bei oder kurz nach der Geburt auf die Theologien der Frauen auswirkt und wie die systematische Theologie mit diesen „eigenen Theologien“ umgeht.
Muttertag, das ist wieder einer dieser schweren Tage, so würde Verena sagen. Ein schwerer Tag, denn Hanni, ihre Tochter, ist tot. Verena hat sie schon vor einigen Jahren in der Mitte der Schwangerschaft tot geboren. Verena liebt ihr Kind von Herzen. Auch wenn sie nicht bei ihr ist. Sie ist und bleibt Mutter, obwohl Hanni tot ist.
Muttertag zu begehen ohne lebendes Kind, das kann für Mütter von totgeborenen Kindern schwer sein. Neben allen Gefühlen des Vermissens, des spürbaren Verlustes und der damit verbundenen Trauer gibt es noch einen weiteren Grund dafür, dass dieser Tag schwer sein kann. Die Frage, ob eine Frau auch Mutter ist, wenn ihr Kind schon gestorben ist, sie es vielleicht nie im Arm halten konnte, vielleicht nicht in seine:ihre Augen gesehen hat, wird sehr unterschiedlich beurteilt. Nicht zuletzt aufgrund der Unsicherheit, wie mit diesen trauernden Frauen „richtig“ umzugehen ist.
eine bleibende Wunde
Diesen Frauen ist ihr reelles Kind gestorben. Das in ihrer Körpermitte wachsende Kind hat vom ersten Tag der Schwangerschaft an alles verändert und dabei vielleicht ihr Leben auf den Kopf gestellt. Doch dann starb ihr Kind, entweder lautlos im Mutterleib oder unter der Geburt. Diese Erfahrung hat eine existentielle Wucht und verursacht eine bleibende Wunde, mit der die Frauen nicht einfach zur Tagesordnung übergehen können. Sie muss in den Lebenssinn jeder einzelnen Frau integriert werden. Dazu nehmen die verwaisten Mütter u.a. christliche Bilder und Traditionen zu Hilfe. Zugleich übernehmen sie diese nicht einfach, sondern deuten sie so um, dass sie ihnen helfen zu überleben. Denn um nichts weniger geht es nach dem Tod eines Kindes.
Diese Theologien entstehen, weil die existentielle Wucht ihnen keinen anderen Weg lässt.
So entstehen eigene Theologien von Müttern totgeborener Kinder. Im Rahmen meiner Dissertation[1] bin ich diesen Theologien verwaister Mütter nachgegangen und habe dabei eine Vielzahl an unterschiedlichen Vorstellungen entdeckt. Da ist z.B. der Schmetterling kein Auferstehungs-, sondern ein Präsenzbild (Verena). Verena entdeckt Hanni in einem Schmetterling, der vorüberfliegt. Dann ist der Himmel ein Ort für die eigenen verstorbenen Kinder, auf die der eigene Vater aufpasst, jedoch ist es ein Himmel ohne Gott (Martina). Susanne wiederum ist sich sicher, dass sie Gott nicht anklagen darf, weil er auf ihr Kind aufpasst. Sabine erkennt in der Zärtlichkeit von Menschen in dieser furchtbaren Situation die Inkarnation der Zärtlichkeit Gottes; das Gewalttätige siedelt sie nicht bei Gott an. Diese Theologien entstehen nicht, weil sich diese Frauen ihre Sicht auf Gott und die Welt aus Spaß irgendwie neu zusammensetzen wollen, sondern weil die existentielle Wucht ihnen keinen anderen Weg lässt.
Die klassische christliche Gottesrede greift nicht mehr selbstverständlich.
Diese religiösen Praktiken und Diskurse sind neu, eigen-sinnig und höchst individuell. Sie sind in sich eine Anfrage an wissenschaftliche Theologie und das Glaubensgebäude der Kirchen. Sie machen deutlich, dass die klassische christliche Gottesrede nicht mehr selbstverständlich greift, auch nicht in solchen existentiellen Situationen des Lebens. Diese Diagnose könnten Theologie und Kirche auf unterschiedliche Art und Weise bearbeiten: einerseits könnten sie versucht sein, die trauernden Mütter vorsichtig, aber bestimmt auf den Weg zurück zum offiziellen kirchlichen Glauben zu bringen. Sie könnten andererseits die Gottesrede mehr oder weniger zurücknehmen und es bei den kommunikativen Prinzipien Empathie, Authentizität und Respekt belassen. Beide Möglichkeiten sind Straßengräben, die nicht weiterführen, weil sie sowohl Gott als auch den Frauen nicht gerecht werden.
Ich habe führenden deutschsprachigen Dogmatiker:innen jeweils die Kurzfassung von Interviews verwaister Mütter vorgelegt und habe sie gefragt, ob und wenn ja welche Bedeutung solche in existentiellen Situationen entwickelten eigenen Theologien für sie als systematische:n Theolog:in haben und wie eine christliche Verkündigung gegenüber diesen Frauen ausschauen könnte. Die Theolog:innen reagierten persönlich, kreativ und entwickelten auf diese Weise abduktiv ihre bisherigen theologischen Positionen kreativ weiter.
In allen Kommentierungen zeigt sich, dass die systematische Theologie der deutschsprachigen Gegenwart die eigenen Theologien der trauernden Mütter sehr wertschätzt. Das zeigt sich vor allem dadurch, dass sie die existentielle Wucht des Geschehenen und die aus dieser Wucht gewachsenen Theologien nicht einfach relativiert. Die Theologien der Frauen werden nicht korrigiert und der eigenen Theologie anpasst. Diese Theolog:innen ließen sich und ihre Positionen im Gegenteil selbst in Frage stellen. Sie anerkennen diese Frauen, ihr Muttersein ohne lebende Kinder und verstummen selbst nicht dabei. Sie lernen durch die eigenen Theologien dieser Frauen etwas für die systematische Theologie und haben gleichzeitig den Frauen etwas zu sagen.
keine Angst vor dem eigenen Bedeutungsverlust
Die Mütter totgeborener Kinder lieben ihre Kinder mit einer Liebe, die durch nichts zu korrumpieren ist. Sie legen mit ihrer Liebe Zeugnis davon ab, dass es eine Liebe gibt, die niemals stirbt, die keinen Gegenwert erwartet, zu den Kleinsten hält, die einfach nur Liebe ist. Diese Frauen zeigen Theologie und Kirche, dass Gott mit ihnen längst unterwegs ist. Sie zeigen, dass sie keine Angst vor dem eigenen Bedeutungsverlust angesichts dieser eigenen Theologien haben müssen. Sie machen klar, dass sie nicht auf- oder abgelöst werden, sondern dass genau die Neugier auf Gottes Gegenwart in dieser Welt Theologie und Kirche guttut. Indem sie sich in Frage stellen lassen, nicht an versinkenden Bastionen des vermeintlichen Besserwissens festhalten oder in häretischer Weise Gott besitzen und definieren wollen, gewinnen sie Relevanz. Theologie und Kirche werden mit Autorität und Identität beschenkt, indem sie den Kontrast des Außen wagen.
In den eigenen Theologien der Mütter lässt sich die frohe Botschaft von der Revolution der Zärtlichkeit Gottes entdecken. Diese Zärtlichkeit will nichts vom anderen, sie ist absichtslos. Sie ist ehrlich und authentisch. Sie findet mit dem siebten Sinn das Wort der Erlösung. Solche Zärtlichkeit will den anderen groß sein lassen, lässt ihn:sie frei, lässt ihn:sie seine:ihre Wege gehen. Sie will nicht besitzen, sondern glücklich machen.
Die Rede von Gott im Hier und Jetzt – gerade im Angesicht verwaister Mütter – muss zärtlich sein gegenüber Gott. Sie darf ihn:sie nicht besitzen wollen, aber sich vom ihm:ihr retten lassen. Sie darf seinen:ihren Namen vorsichtig aussprechen. Die Rede von Gott im Hier und Jetzt muss zärtlich sein gegenüber jenen, denen sie etwas sagen will. Sie muss zunächst schweigen, um wirklich zuhören zu können.
das passivum divinum lässt eine Leerstelle für die Transzendenz
Die Zärtlichkeit Gottes an diesem brutalen Ort des Leidens zeigt einen Weg auf für Theologie und Kirche an diesem Ort. Zärtlichkeit ist eine Kategorie der Verletzlichkeit und widersteht allen Machttendenzen. Sie ist keine Utopie, sondern entspricht der Verkündigung Jesu. Sie ermöglicht Demut gegenüber Gott, der mit den Leidenden ist. Weil Gott mit der Haltung der Zärtlichkeit in der Gegenwart präsent ist, können sich Theologie und Kirche von dieser Haltung formen lassen. In der Rede von Gott das passivum divinum zu nutzen, entspricht der Kategorie der Zärtlichkeit, denn es lässt eine Leerstelle für die Transzendenz.
Die Zärtlichkeit von Menschen hat ihre Quelle in der Zärtlichkeit Gottes. Es gilt, diese sich nie verzehrende Quelle in sich wahrzunehmen, ihr Raum zu geben und sie in sich überquellen zu lassen. Zärtlichkeit ist nicht vornehmlich ein Gefühl, sondern eine Haltung. Den Müttern totgeborener Kinder verdanke ich diese Erkenntnisse. Ich bin Ihnen dankbar, dass sie mich an ihren Geschichten und ihren Theologien teilhaben ließen. Ihr seid und bleibt die Mütter eurer Kinder. Ich wünsche euch besonders am Muttertag Menschen, die mit euch und eurer Geschichte zärtlich umgehen.
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[1] Vgl. Stechmann, Annette, Das Leid von Müttern totgeborener Kinder. Ein Ort der Theologie, Würzburg 2018.
Bildnachweis Beitragsbild: Kunstsammlungen des Bistums/Domschatz Regensburg; Foto Gerald Richter
Dr. Annette Stechmann ist Leiterin der Abteilung Kirchliches Leben im Bistum Fulda. Sie war davor als Klinikseelsorgerin und Ausbildungsleiterin für Pastoralassistent:innen im Bistum Hildesheim tätig und hat über die Theologie von Müttern totgeborener Kinder promoviert.