Reflexionen zu einer These Max Horkheimers. Von René Buchholz.
„Der Begriff des Glaubens“, konstatierte Max Horkheimer in seinem berühmt gewordenen Interview mit Helmut Gumnior, „ist eigentlich eine Erfindung des Protestantismus, um einerseits die Wissenschaft, andererseits den Aberglauben nicht als einzige Alternative gelten zu lassen. Um die Religion zu retten, hat man ein Drittes gefunden, den Glauben.“ (Horkheimer 1985: 388)
Sehnsucht nach dem ganz Anderen.
Fragen der Entwicklung, Geltung und aktuellen Bedeutung der Religion, insbesondere von Judentum und Christentum, beschäftigten Max Horkheimer nicht erst im Spätwerk (vgl. Post 1971). Dort aber finden sich Äußerungen, welche die besondere Aufmerksamkeit von Theolog*innen auf sich zogen wie etwa Horkheimers Formulierung von der „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“. Indessen fand die zitierte Historisierung des Glaubensaktes kaum Beachtung. Offenbar war ihm dieser Gedanke wichtig, denn bereits 1969 formulierte er ihn in seinem Vortrag Pessimismus heute.
Für die Religion, so Horkheimer, ergab sich seit der Frühen Neuzeit das Problem, die Idee der Schöpfung und göttlichen Herrschaft gegenüber den positiven Wissenschaften zu behaupten, die Geltungsansprüche nur anerkennen, soweit sie sich auf ‚Tatsachen‘ stützen können. Die Lösung bestand in einer doppelten Loyalität:„Die Reformation dachte, die Frage durch den Begriff des Glaubens zu lösen. Neben der faktischen Richtigkeit und Falschheit gibt es nach ihr eine andersartige, nicht zu prüfende Exaktheit, das göttliche Wort, die von den Reformatoren übersetzte Bibel. So entstand, was für große Teile der europäischen Menschheit entscheidend wurde, die Gültigkeit der zwei Bereiche, der voneinander unabhängigen, ja sich widersprechenden Regionen im menschlichen Leben, Glaube und Wissen. Religion wurde ein Schubfach des Geistes, Wissenschaft ein anderes.“ (Horkheimer 1985: 225)
Glaube und Wissen: die doppelte Loyalität.
Eine fundamentaltheologische Antwort könnte auf die analysis fidei verweisen, wie sie in der theologischen Tradition bis heute vorgenommen wurde, doch ginge dies an Horkheimers Argumentation vorbei, der das Verständnis des Glaubens(aktes) historisch und sozial situiert. Der Glaube ist also nicht nur nach seiner materialen Seite oder nach seiner Intensität auf soziale wie historische Prozesse zu beziehen (Böttigheimer 2012: 16-19), sondern auch nach seiner formalen: Die wachsende Bedeutung des Glaubensaktes in der Theologie hängt mit Entwicklungen zusammen, die Horkheimer eher andeutet.
Die Unterscheidung des Glaubens vom bloßen Meinen einerseits und Wissen andererseits kennzeichnet indessen nicht erst die Reformation, wie Horkheimer meint, sondern wird bereits in der Scholastik vertreten (vgl. Böttigheimer 2012: 74-76; Shagan 2018: 43-55). Nach Augustinus und Thomas bedeutet Glauben „cum assensione cogitare“ (STh II-II q2a1c). Der Glaube ist ein Akt des Intellekts (STh II-II q4 a2c), verbunden mit dem Willen. Er bezieht sich auf eine Autorität, deren Glaubwürdigkeit durchaus geprüft werden darf, die vernünftigen Einsichten nicht widerspricht und Zustimmung verdient; eine Zustimmung, die getragen ist von göttlicher Gnade.
Was aber, wenn die Autorität – Schrift, Tradition, Lehramt – an Glaubwürdigkeit verliert und das Bedürfnis nach Einsicht unbefriedigt bleibt? Dies ist dann der Fall, wenn Naturwissenschaft, historische Kritik und Philosophie den Glaubensgegenstand fortschreitend ‚entzaubern‘, die Träger der kirchlichen Lehre erheblich an Kredit verlieren und die Spontaneität des Subjekts epistemologisch wie anthropologisch eine konstitutive Bedeutung erhält.
Die verlorene Einheit: gelebte Tradition, eingebettet in die göttliche Ordnung.
Aber waren es in vormodernen Gesellschaften denn primär Schrift und Lehramt, die für den Einzelnen die Wahrheit des Glaubens verbürgten? Dessen subjektive Seite sicherte doch eher die lebensweltliche Evidenz: religiöse Sozialisation, Kult, Gebet, Feste als Einteilung des Jahres, kurz: gelebte Tradition, eingebettet in die göttliche Ordnung von Natur und Gesellschaft. Diese komplexe Einheit ließ durchaus Raum für individuelle Ausprägungen der Spiritualität, wobei Bildung und sozialer Stand eine zentrale Rolle spielten.
Eben diese Einheit ist unwiderruflich dahin. Mit der devotio moderna artikulierte sich das Bedürfnis, Religion und Glauben individuell nachzuvollziehen und zu gestalten, es genügte nicht mehr, nur Teil kollektiver Praxis zu sein. Damit verband sich auch die Kritik des geistlichen Monopols auf Kult, Lehre, vor allem aber auf die Texte der Schrift und ihre Deutung, ein Prozess, der sich in der Reformation zuspitzte. Zugleich diskreditierten die ihr entspringenden Konflikte den von jeder Partei erhobenen unbedingten Wahrheitsanspruch des Glaubens.
Der Rationalismus der Aufklärung entsprang weniger menschlicher Hybris als dem Vertrauensverlust gegenüber einem Glauben, der, weil er problematische Urteile apodiktisch vortrug, immer neue Konflikte generierte. In den Augen der Aufklärer verfügt die Vernunft zwar nur über eine schwache Kraft, doch sichert gerade ihre Selbstbescheidung den gesellschaftlichen Frieden besser als der bekenntnisstark daherkommende Glaube.
Mit dem Zerfall sowohl des vormodernen Weltbildes als auch der vormodernen Gesellschaften im Zuge der Emanzipation des Bürgertums spaltete sich fortschreitend das gläubige Bewusstsein vom ‚objektiven Geist‘ ab, d.h. von seiner sozialen Verankerung und inneren Stimmigkeit, die Wille und Intellekt zur Zustimmung bewegen sollen. Im Zuge dieser Entwicklung wurden Religion und Glaube zu einem Reservat, dessen Bewohner mit grausamer Freundlichkeit respektiert werden. In diesem Zusammenhang kann man mit Horkheimer von einer ‚Erfindung‘ oder besser ‚Neuerfindung‘ des Glaubens sprechen – und zwar nicht nur im Kontext des Protestantismus.
Religion und Glaube als Reservat.
Das verloren gegangene objektive Moment (das nicht mit verbindlichen Glaubensinhalten identisch ist) wird kompensiert durch das Verständnis des Glaubens als Akt der Entscheidung, der sich mehr und mehr entfernt vom Problem seiner rationalen Vermittlung und sozialen Verbindlichkeit: „Der Schluß des Glaubens“, heißt es knapp bei Kierkegaard, „ist kein Schluß, sondern ein Beschluß, und deshalb ist der Zweifel ausgeschlossen.“ (Kierkegaard 1910: 76) Rund hundert Jahre später ist es für Bultmann allein das verkündigte Wort, das der Entmythologisierung stand hält, im Evangelium zur Entscheidung ruft und einen Existenzwechsel jenseits der empirischen Realität eröffnet (Bultmann 1988: 35f).
So steht der Glaube den empirisch erhärteten ‚Tatsachen‘ der Wissenschaften nicht nach, doch stellt er eine von diesen unterschiedene Gewissheit, ja Existenzweise sui generis dar. Dem ‚Sprung‘ (Kierkegaard 1910: 39) oder ‚der Entscheidung‘ steht der Zweifel gegenüber, der mit herrischer Geste abgewiesen wird. Die Verbindlichkeit des Glaubensaktes gründet primär im Willen, der den ‚Sprung‘ motiviert; gegenüber der vormodernen Konzeption liegt der Nachdruck auf dem voluntativen Moment; so wird der Glaube – gegen Kierkegaards Intention – eher Zeugnis einer Verhärtung und Verdinglichung.
Die habituelle Geistfeindschaft kulturindustrieller Glaubenserweckung spart sich gleich die gedanklichen Mühen moderner Theologien seit Kierkegaard und setzt an deren Stelle die synthetische Unmittelbarkeit von Events und Ekstasen. Wer hingegen weder Kierkegaards ‚Sprung‘ wagt, noch sich anstecken lässt von der kollektiven Begeisterung, sei befangen im Sicherheitsdenken oder religiös unmusikalisch. So konstituiert der subjektivierte Glaube zugleich die eigene Identität und den Kreis der Exkludierten nicht ohne die Klage über die Oberflächlichkeit der Gegenwart, von der er in Wahrheit mehr zeugt als die nachdenklichen Zauderer.
Ein autoritärer Glaube, noch wo er Freiheit verspricht.
Wodurch aber unterscheidet sich dieser Glaube von bloßer Willkür? Generiert hier, um in Horkheimers Terminologie zu bleiben, die „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ die Antwort selbst? Je geringer die Rolle rationaler und sozialer Vermittlung, d.h. je geringer die Bedeutung von Argument und geschichtlicher Erfahrung, desto größer wird das Feld des ganz auf das Subjekt und seinen Willen zurückgeworfenen Glaubens. „I believe…“ will keine Diskussion, keine Kritik, sondern Respekt, letztlich Gehorsam. Der vom objektiven Moment abgespaltene Glaube wird autoritär, noch wo er Freiheit verspricht. Das Terrain rationaler Argumentation wird okkupiert von einem Glauben, der regrediert, d.h. für den Wunsch, Wille und Geltung letztlich identisch sind. Dieser Glaube ist nicht etwa im Rückzug begriffen, sondern breitet sich in der späten Moderne eher aus, einschließlich seiner gefährlichen Säkularisate, welche die begründete Meinung ersetzen: der Glaube an den Staat, die Nation, das Gesetz oder den Markt (so Shagan 2018: 292f).
Was ansteht: ein ‚kleiner Glaube‘ also.
Mit der Vernunft sollte auch der Glaube bescheidener werden (nur die Hoffnung darf unbescheiden sein); ein ‚kleiner Glaube‘ also, der zwar neutestamentlich keinen guten Ruf genießt, aber angesichts einer Geschichte, welche die christlichen Verheißungen eher zu dementieren als zu bestätigen scheint, doch intellektuell redlicher ist. Die Menschen sind die zögerlichen Kreditgeber Gottes oder präziser: der Traditionen über Gott, und der Zweifel an deren Bonität ist nicht niederzuschlagen, sondern theologisch fruchtbar zu machen.
Noch die vage „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ geht Horkheimer, der den Jubel der Theologen ahnte, zu weit: man solle doch eher sprechen „von der Furcht, daß es diesen Gott nicht gebe“ (Horkheimer 1985: 397). Der Glaube als ‚Entscheidung‘ entflieht dieser Furcht, ist aber, zusammen mit einer Theologie, die den Dezisionismus überhöht, doch eher das Pfeifen im Walde der Moderne. Was also ansteht, ist eine historisch und soziologisch fundierte theologische Entmythologisierung auch des Glaubens – nicht zuletzt im Interesse seiner Rettung.
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René Buchholz ist Mitarbeiter in der kirchlichen Erwachsenenbildung der Erzdiözese Köln und Apl. Professor für Fundamentaltheologie an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn.
Von ihm u.a. auf feinschwarz.net erschienen:
Von der Aktualität eines Totgesagten. Karl Marx zum 200. Geburtstag
Literatur
Adorno, Theodor W.: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, in: ders. Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann u.a., Band 6, Frankfurt/M 41990, 413-526.
Böttigheimer, Christoph: Glauben verstehen. Eine Theologie des Glaubensaktes, Freiburg-Basel-Wien 2012.
Buchholz, René: Falsche Wiederkehr der Religion. Zur Konjunktur des Fundamentalismus, Würzburg 2017, bes. 185-223.
Bultmann, Rudolf: Neues Testament und Mythologie (1941), München 31988.
Höhn, Hans-Joachim: Praxis des Evangeliums – Partituren des Glaubens. Wege theologischer Erkenntnis, Würzburg 2015, bes. 119-236.
Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften, Band 7 (Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973), hrsg. von Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt/M. 1985.
Kierkegaard, Søren: Philosophische Brocken / Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift I. Übersetzt von Christoph Schrempf, Jena 1910.
Post, Werner: Kritische Theorie und metaphysischer Pessimismus. Zum Spätwerk Max Horkheimers, München 1971.
Shagan, Ethan H.: The Birth of Modern Belief. Faith and Judgment from the Middle Ages to the Enlightenment, Princeton (NJ)-Oxford 2018
Waldenfels, Hans: Kontextuelle Fundamentaltheologie, Paderborn u.a. 42005, bes. 315-356.
Bild: Rainer Bucher