Larry Siedentop sucht in seiner breit angelegten Ideengeschichte über den Liberalismus und die westliche Welt nach der «Erfindung des Individuums». Ob diese zu finden ist, und wie der Gelehrte aus Oxford die Geschichte darstellt, erläutert Viola Heutger in ihrer Besprechung.
Der Buchumschlag von Larry Siedentops «Die Erfindung des Individuums – Der Liberalismus und die westliche Welt» ist in dunklem Braun gehalten. Wie eine Sonne erleuchtet das Porträt Siedentops in der oberen rechten Ecke die Leserin und den Leser. Der Umschlag vermittelt den Eindruck, dass in dem Buch die persönlichen Ansichten des Autors geteilt werden. Siedentop ist ein geistvoller Mann. Erfüllt von einem reichen Forscherleben schaut er zurück auf die Entwicklung der westlichen Welt und versucht, in die Fülle der Quellen und sonstigen Überlieferungen einen roten Faden zu weben und die Gesellschaft einst und heute zu erklären. Larry Siedentop gelingt es, die Schnittstellen zu benennen, an denen gravierende Änderungen in der Geschichte eintraten. Einige dieser von Siedentop benannten Wendepunkte überraschen, wie auch einige seiner Schlussfolgerungen oder Wertungen.
Die Entwicklung der westlichen Welt
Das Buch kann den Leser, die Leserin fesseln. Es gelingt Siedentop, mit seiner Sprache Bilder zu zeichnen. Sein Vergleich des Christentums mit der heidnischen Götterwelt anhand der Architektur der heiligen Orte ist sehr einprägsam. So war der antike Tempel aussen schmuckvoll gehalten, die christliche Basilika dagegen aussen schlicht und dafür innen voller Schmuckelemente. Hieran schliesst Siedentop die folgende Erkenntnis: «Dem Heidentum ging es in erster Linie um äussere Verhaltenskonformität, dem Christentum vor allem um die innere Überzeugung» (114). Das Christentum schuf so die Voraussetzungen für die Freiheit, in der wir leben.
Quellenfülle
Den Menschen in der Antike sieht Siedentop als festen Bestandteil einer Familie, die an ein Territorium gebunden ist, am heimischen Herd den Familiengöttern opfert und Ahnenkult betreibt. Freiheit bedeutete in der damaligen Zeit, an der öffentlichen Macht teilzuhaben. Diese Position ist nur wenigen Männern vorbehalten: jenen Bürgern, die auch der Familie als pater familias vorstehen. Eine soziale Revolution mit dem Ziel Gerechtigkeit zu schaffen, ist in der Antike nicht denkbar, es geht nur um einen Kampf um mehr Privilegien. Ein römischer Bürger – eine Stellung, die nur Männern zukam – geniesst den Reiz seiner Überlegenheit. Anderen Bevölkerungsgruppen ist dagegen eine tribale Identität gegeben. Das Judentum bewahrte die Gemeinschaft durch rituelle Vorschriften wie Beschneidung und koschere Ernährung (70). Die Individualität wird nach Siedentop erst durch den Apostel Paulus und seine Verkündigung möglich. Ab hier kommt auch zum ersten Mal die Stellung der Frau ins Spiel. Zuvor definiert sie sich durch den Vater oder durch den Ehemann. Im Brief des Paulus an die Gemeinde von Galatien wird nach Siedentop das Individuum geboren mit dem Halbsatz: «denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus» (Gal 3,28). In dieser Textstelle sieht Siedentop eine neue Transparenz in menschlichen Beziehungen (78). Zuvor sei kein Raum für das Individuum gewesen, es zählte nur die Verbindung zu einer Familie, zu einem Herd, zu den gleichen Göttern. Diese Auslegung Siedentops und die Hinwendung zu Paulus überraschen und sind nicht ganz nachvollziehbar.
Die Individualität wird nach Siedentop erst durch den Apostel Paulus und seine Verkündigung möglich.
Von nun an liest sich das Buch wie ein Versuch, eine religiöse Grundlage der westlichen Welt zu etablieren: Zunächst geht es um die Aufweichung der Familienbande. Die Rolle des pater familias wurde dadurch entkräftet, dass eine separate Priesterschaft dem pater familias die religiöse Rolle entzog. Dieser Vorgang lockerte die familiären Abhängigkeitsverhältnisse (147). Siedentop bemüht sich nun, die Stellung der Frau darzustellen und nachzuweisen, ab wann Frauen in der Geschichte als rationale Akteurinnen vorkommen (96). Auch hier sieht Siedentop einen entscheidenden Einfluss des Christentums. Durch die Nachfolge Christi werden die dominanten Familienbande zerrissen und so eine Gleichheit von Mann und Frau erreicht. Als Quelle dient Siedentop hier das Thomasevangelium. Später konnten Frauen dann durch den Eintritt ins Kloster aus der antiken Familie ausbrechen. In den Klöstern wurde auch die Bildung für Mann und Frau zugänglich. Die Arbeit – man denke zum Beispiel an die Tätigkeit in Skriptorien oder auf dem Felde – war durch das klösterliche Leben nun nicht mehr der Unterschicht vorbehalten. Dadurch kam es neben der Gleichstellung von Mann und Frau auch zur Gleichstellung von Oberschicht und Unterschicht (121). Ausserdem wurden die Klöster Orte der Selbstverwaltung und der Selbstauferlegung von Regeln und boten damit eine deutliche Abgrenzung zur Familie oder zur antiken Stadt.
Frauen in der Geschichte als rationale Akteurinnen
Als Juristin sprachen mich Siedentops Anmerkungen zum antiken Rechtsstudium an, ebenso die Entwicklung der Ausbildung im Mittelalter in Bologna. Ganz richtig vermerkt der Autor, dass die Religion kaum Eingang in das Studium in der Antike gefunden hatte und sich die Studenten nicht den aktuellen Themen ihrer Zeit widmeten, sondern an den überlieferten Texten hängen blieben (169). Das Studium blieb weitgehend den Männern vorbehalten, nur wenige gelehrte Frauen sind uns aus der Antike überliefert. Durch das kanonische Recht kam um 1100 eine Entwicklung in das Rechtsstudium. Man brauchte ein neues System. Nicht mehr ein ideales System des römischen Rechts wurde kommentiert, sondern man schuf ein neues System samt eigener Kirchengerichtsbarkeit (265). Religion und Recht gingen nun Hand in Hand. Siedentop belegt dies mit vielen Nachweisen zu Juristenpäpsten, die geschulte Kirchenrechtler waren (268 und 320). Seine Ausführungen zum Naturrecht sind dagegen recht kurz und nicht sehr griffig.
Religion und Recht gingen nun Hand in Hand.
Die Schattenseiten der Kirchengeschichte blendet Siedentop aus. Wenig überzeugend sind die Passagen über die Sklaverei und andere Formen der Abhängigkeit, hier berichtet der Autor nicht, dass bis spät ins 19. Jahrhundert und darüber hinaus Sklaverei zur westlichen Welt gehörte.
Es gelang mir leider nicht, das Buch in einem Schwung durchzulesen. Immer wieder legte ich es aus der Hand. Der Spannungsbogen ist oft unterbrochen, was sicher auch an der Verwendung und Verwertung von unterschiedlichem Quellenmaterial liegt. Will die Leserin, der Leser wissen, wen Siedentop in seinen Fussnoten zitiert, so muss man sich auf eine lästige Suche nach Endnoten am Ende des Buches begeben, die zudem auch noch in Kapitel unterteilt sind.
Immer wieder verliert sich Siedentop schwärmerisch in Zitaten von Sekundärliteratur. Diese werden den interessierten Lesenden allerdings auch häufig bereits bekannt sein. Ausserdem liest man sie dann lieber selber im Original als in einer Stilblütensammlung von Siedentop. Diese Feststellung gilt besonders für das wirklich sehr lesenswerte Buch von Fustel de Coulanges über den antiken Staat. Aus Fustel de Coulanges Werk stammen das Motto des Buches, wie auch zahlreiche Zitate.
Stilblütensammlung
Persönlich hätte ich gerne mehr zur Reformation gelesen, die von Siedentop allerdings nur am Rande behandelt wird. Es gelingt ihm allerdings, mir als evangelischer Christin den Reliquienkult näher zu bringen, so dass meine Ablehnung sich in Verständnis wendet. Nach einer sicher berechtigten Kritik an den Wallfahrtsorten als Wirtschaftsadern schreibt er: «Die sterblichen Überreste der Heiligen vermittelten den Gläubigen Hoffnung und einen Eindruck von einer durch die ‚Menschwerdung Gottes‘ ermöglichten Willensstärke» (239).
Siedentop erinnert die Leserin, den Leser an die Geschichte und den Beitrag einzelner Personen und Begebenheiten, die zu unserem christlichen Wertesystem beigesteuert haben. Das Buch macht neugierig auf die Geschichte und regt zu einer weiteren Beschäftigung mit der vergangenen Zeit an. Die Antwort auf die Frage nach der Erfindung des Individuums ist allerdings noch nicht abschliessend geklärt.
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Viola Heutger, Dr. iur. habil., ist Forschungsmitarbeiterin für Privatrecht, IPR, Rechtsvergleichung & Europarecht, Universität Luzern.
Das Buch:
Larry Siedentop, Die Erfindung des Individuums. Der Liberalismus und die westliche Welt. Aus dem Englischen von Hainer Kober, Stuttgart: Klett-Cotta, 2016 (Englische Erstausgabe 2014)
Beitragsbild: Wolfgang Pfensig / pixelio.de