Für Jan Assmann ist die im Buch Exodus erzählte Geschichte vom Auszug aus Ägypten der Gründungsmythos nicht nur Israels, sondern des Monotheismus und damit eines zentralen Elements der modernen Welt. Rolf Weibel bespricht Jan Assmans „Exodus“.
«Exodus» ist nicht nur ein biblisches Buch, sondern im Gefolge seiner Wirkungsgeschichte auch ein Symbol, das jeden Aufbruch zu etwas radikal Neuem darstellen kann. So steht im Negro Spiritual «Go Down Moses» Israel für die afrikanisch-amerikanischen Sklaven und Ägypten mit dem Pharao für die Sklavenherren. Allerdings hat nicht nur das Buch Exodus die ausserordentliche Ausstrahlung des Mythos vom Auszug aus Ägypten bewirkt, «sondern eher die darin und in einigen Psalmen und Prophetenbüchern entfalteten Motive oder narrativen Kerne von Auszug, Erwählung, Bund, Gesetz und Gottesnähe» (80 f.). Dem Heidelberger Ägyptologen Jan Assmann geht es in seinem Exodus-Buch, das die Exodus-Erzählung unter kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten untersucht, vor allem um diese Ideen und ihren historischen Kontext.
Erinnerungen und Erfahrungen
Für diese ideen- und gedächtnisgeschichtliche Fragestellung ist zum einen dreierlei zu unterscheiden: was wirklich geschehen ist, heisst Geschichte; was man sich davon erzählt, Mythos; wie diese Überlieferungen verarbeitet wurden, Literatur. Von der hebräischen Literatur des 10. bis 4. Jahrhunderts v. Chr. hat sich aber ausserhalb der Bibel so gut wie nichts erhalten, so dass kein Vergleichsmaterial zur Verfügung steht. Die alttestamentliche Wissenschaft hat deshalb die Methode der diachronen Textanalyse entwickelt, mit welcher der Weg vom mündlich überlieferten Mythos bis zum kanonisierten Bibeltext rekonstruiert werden kann.
Geschichte – Mythos – Literatur
Dabei ist der gedächtnistheoretische Grundsatz zu beachten, «dass die Vergangenheit niemals als solche und um ihrer selbst willen, sondern immer aus den Bedürfnissen und in den Rahmenbedingungen einer Gegenwart erinnert wird» (73). Zwischen den Ereignissen der erzählten Zeit und den Erfahrungen der Erzählzeit gibt es Entsprechungen, so dass in der Exodus-Erzählung und im Exodus-Buch nicht nur alte Erinnerungen, sondern auch zeitgenössische Erfahrungen auszumachen sind. Diese zeitgenössischen Erfahrungen datiert Jan Assmann mit der alttestamentlichen Wissenschaft in die Zeit um 520 v. Chr. Damals, zu Beginn der Perserzeit, kehrte die Elite mit den Urschriften der späteren Tora aus dem Exil zurück und machte sich daran, das im Lande verbliebene Volk für die Religion des exklusiven Gottesbundes zu gewinnen. Diese Religion war nicht mehr eine Sache frommer Kulte, sondern gründete auf den Ideen von Bund, Gesetz und Treue und forderte den ganzen Menschen sowie das ganze, Festtag und Alltag bestimmende Leben.
Auszug und Bund
So stellt Jan Assmann im 1. Teil das Exodus-Buch vor, erhellt die im Bibeltext erkennbaren Erinnerungen und Erfahrungen und rekonstruiert Textgeschichte als Sinngeschichte. Dabei konturiert er den von ihm vor bald 20 Jahren eingeführten Begriff der «mosaischen Unterscheidung» zwischen wahr und falsch.
In der Exodus-Geschichte geht es nicht um die Unterscheidung zwischen wahr und falsch, sondern zwischen Treue und Verrat.
In der Exodus-Geschichte gehe es aber weder in befreiungs- noch in bundes- noch in kulttheologischer Hinsicht um die Unterscheidung zwischen wahr und falsch. «Die dominierende Unterscheidung, die mit dem, wofür der Name Mose steht, in den religiösen Raum kommt, ist die zwischen Treue und Verrat» (106). Der mosaische Monotheismus ist demnach ein Monotheismus der Treue, zu dem allerdings im Ernstfall der Zelotismus, das fanatische, mörderische Eifern für Gott gehöre (370). In den späteren Schriften des Alten und des Neuen Testaments wie im Koran gehen der Monotheismus der Treue und der Monotheismus der Wahrheit schliesslich einen unauflöslichen Zusammenhang ein.
Monotheismus der Treue und Monotheismus der Wahrheit
Im 2. Teil legt Jan Assmann den Auszug aus Ägypten, von den Leiden der Kinder Israels unter der ägyptischen Fron bis zur Einsetzung des Pessach-Festes, dar. In einem Exkurs interpretiert er die Dornbusch-Szene in Schönbergs Oper «Moses und Aron» und in einem weiteren den Triumph des Auszugs in Händels Oratorium «Israel in Egypt».
Im 3. Teil kommen der Bund und die Bundestheologie ausführlich zur Sprache. Die Darstellung beginnt am Sinai, wo die Ausgewanderten zum Volk werden, «das nicht auf Abstammung, Land, Sprache, souveräne Herrschaft, sondern auf ein göttliches Gesetz gegründet ist: die Tora» (232). Und sie führt bis zum Goldenen Kalb mit der Bundeserneuerung. Gott und Volk schliessen miteinander einen Bund, so dass der biblische Monotheismus der Treue und der biblische Begriff des auserwählten Gottesvolkes als die zwei Seiten der gleichen innovativen Idee verstanden werden können. In diesem dritten Teil interpretiert Jan Assmann auch das Goldene Kalb in Schönbergs Oper «Moses und Aron».
Jan Assmann interpretiert auch Schönbergs Oper „Moses und Aron“.
Im Schlussteil bündelt Jan Assmann wichtige Einsichten und Erkenntnisse seiner kenntnisreichen und faszinierenden Auslegung der Exodus-Erzählung. Diese Erzählung ist grossartig, weil sie von einer Wende erzählt, «die sie dann im Zuge ihrer Nacherzählungen und Umdeutungen selbst herbeigeführt hat» (402), und Jan Assmanns EXODUS-Buch ist dabei ein äusserst anregender Lesebegleiter.
Dr. Rolf Weibel war Redaktionsleiter der «Schweizerischen Kirchenzeitung» und arbeitet nachberuflich weiterhin als Fachjournalist.
Bild: Dieter-Schütz/pixelio.de
Buch:
Jan Assmann: EXODUS. Die Revolution der Alten Welt, München, C. H. Beck Verlag, 493 Seiten. ISBN 978-3-406-67430-3