Der Theologe und Philosoph Alen Kristić, Sarajewo (Photo), beleuchtet die aktuelle politische Situation in Bosnien-Herzegowina, analysiert die heikle Rolle der Religionen in seiner Heimat und erinnert an die „Weisheit der Peripherie“.
1. Begegnungsstätte des Ostens und Westens
Das Dayton-Friedensabkommen, mit dem der Bosnien-Krieg beendet wurde, ist vor 20 Jahren unterzeichnet worden. Aber kann man heute in Bosnien-Herzegowina überhaupt von Frieden sprechen: ohne einen minimalen Konsens in Bezug auf die kriegerische Vergangenheit, ohne eine minimale Vision über eine gemeinsame Zukunft, ohne tiefgreifende Vergebungs- und Versöhnungsprozesse? Wer ist dafür verantwortlich? Die lokale Bevölkerung? Die internationale Gemeinschaft? Was bedeutet ein scheinbar stabiles Bosnien-Herzegowina für die Europäische Union in den neuen geostrategischen Konstellationen und den damit verbundenen Herausforderungen? Was sagt das alles über die Europäische Unison aus?
Bevor man versucht, auf diese Fragen zu antworten, sollte man sich bewusst machen, wie die bosnisch-herzegowinische Gesellschaft sich darstellt. Sie besteht aus vier Zivilisationskontexten: dem westeuropäischen in Gestalt des Katholizismus, dem ostbyzantinischen in Gestalt der Orthodoxie, dem orientalisch-islamischen und dem jüdisch- sephardischen. Es gibt drei große Religionen, (Judentum, Christentum und Islam), drei Nationen (kroatisch, serbisch und bosniakisch mit einer Reihe nationaler Minderheiten) und ihnen entsprechend drei Sprachen (kroatisch, serbisch und bosnisch) und zwei Schriftarten (lateinisch und kyrillisch): das alles in einem Staat. Das macht Bosnien- Herzegowina zu einem Spezifikum in Europa.
Bosnien-Herzegowina: ein Spezifikum in Europa.
Die Geschichte des heutigen Bosnien-Herzegowina beginnt im Mittelalter mit der Entstehung der bosnischen staatlichen Gemeinschaft. „Diese staatsrechtliche Kontinuität des bosnischen Staates hält bis heute an und lässt sich in drei große Zeitabschnitte gliedern: die Ära des mittelalterlichen Bosnien, das Zeitalter der osmanischen Herrschaft und das moderne Zeitalter, das im kulturhistorischen Sinne wiederum in das Zeitalter der österreichisch-ungarischen Herrschaft, die Zeit des Königreichs Jugoslawien, den Abschnitt der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien und die neueste Periode der Selbstständigkeit Bosniens und Herzegowinas unterteilt werden kann.
Wie kein anderer Staat wurde Bosnien [und Herzegowina] von beiden großen Zivilisationskreisen, dem griechisch-byzantinischen und dem westeuropäischen, beeinflusst. […] Dennoch liegen Bosnien [und Herzegowina] gleichermaßen am Rande des Ostens und des Westens, so dass die Intensität dieses Einflusses nie groß genug sein konnte, um eine grundlegende Assimilation einer der beiden Seiten zu vollziehen.“[1]
Das bosnisch-herzegowinische Kulturmosaik setzt sich aus mehreren Religionsgemeinschaften zusammen. Sie sind vor allem durch die enge Beziehung zu den Nationalitäten geprägt: Orthodoxe sind fast ausschließlich Serben, Katholiken sind Kroaten und Bosniaken sind Muslime. Dies hatte leider einen negativen Einfluss auf die politischen Ereignisse Anfang der 1990er Jahre und den daraus folgenden Krieg. Dieser Krieg zeigte all seine Schrecken und wurde mit großer Brutalität geführt. Zur großserbischen Mythologie, mit welcher alles begonnen hatte, kamen im Laufe der Gefechte auch großkroatische und großbosniakische Mythologien.
Bosnien und Herzegowina liegen am Rande des Ostens und des Westens.
Die Bilanz des Krieges in Bosnien-Herzegowina ist erschreckend: zehntausende Tote, Millionen Vertriebene und eine völlig zerstörte Wirtschaft. 20 Jahre später, der Krieg begann 1992 und endete Ende 1995 mit dem Abkommen von Dayton, kämpft Bosnien-Herzegowina noch immer mit den Folgen des Krieges. Aber wie und warum kam es überhaupt zum Krieg?
2. Die national-religiöse Renaissance
Anfang der 1980er und Anfang der 1990er Jahre kam es zu einer triumphalen Renaissance des Nationalen im südslawischen Raum. Der Kommunismus, der jede nationale Bewegung unterdrückt hatte, spielte keine Rolle mehr, das Nationale rückte wieder in den Vordergrund, aber jetzt durch die lange Unterdrückung entstellt.
Die aggressive Renaissance des Nationalen zeigte sich verderblich vor allem für die bosnisch-herzegowinische Gesellschaft, ganz konkret für ihre vielgelobte Pluralität, also Multikonfessionalität, Multiethnizität und Multinationalität. Den Krieg hat vor allem das unnachgiebige Beharren der nationalen politischen Eliten auf maximalistische und exklusive nationale Ziele provoziert. Unnachgiebigkeit, Maximalismus und Exklusivismus machten die Eliten und ihre Ziele nationalistisch und zuletzt unmenschlich.
Den Krieg hat vor allem das Beharren der nationalen politischen Eliten auf maximalistische Ziele provoziert.
„Die bosniakische politische Elite setzte sich für einen unitaristischen Bürgerstaat ein;die serbische politische Elite setzte sich ein für einen serbischen nationalen Staat in einer konföderierten Union mit dem übrigen Teil des Staates; die kroatische politische Elite setzte sich für eine Föderation der drei ethnisch konzipierten Föderaleinheiten ein.“[2] Die einzige Möglichkeit der Lösung der nationalen Fragen in diesem multiethnischen Land sahen diese drei Nationalismen in der Bindung ihrer Ethnie an ihr Territorium, also in der Logik der Ethnoterritorialisierung und des Ethnoghettos. Daher war der Bosnienkrieg vor allem ein Krieg für das national „saubere“ Territorium, sogar um den Preis der ethnischen Säuberung und des Genozides.
Die nationalen politischen Eliten strebten nach einem dreifach ethnisch geteilten Staatsterritorium und nicht nach einem multiethnischen Staat, in dem man die nationalen Rechte nicht auf dem ethnischen Territorium, sondern in den Institutionen des Systems realisiert, also mit Hilfe der ethnischen Parität und Autonomie und in Übereinstimmung mit dem multiethnischen Profil der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft. Es ist interessant, dass die fanatischen Nationalisten in der Regel gerade die ehemaligen fanatischen Verteidiger der kommunistischen Orthodoxie waren.
Das Böse, das aus der nationalen Renaissance kam, wäre undenkbar oder weniger brutal ohne die aggressive Renaissance des Religiösen im gesellschaftlichen Leben. Dies ist kein Wunder, wenn man weiß, dass das nationale Bewusstsein der einzelnen Gruppen sich gerade aus den religiösen Differenzen entwickelte. Daher dachte man naiv, dass die triumphale Renaissance des Nationalen automatisch die authentische Renaissance des Religiösen hervorrufen werde. Es zeigte sich aber bald, dass die Atmosphäre der kollektiven Begeisterung und der politischen Privilegien nur religiöse Hypokrisie erzeugte.
Das Böse, das aus der nationalen Renaissance kam, wäre undenkbar ohne die aggressive Renaissance des Religiösen.
Die führenden katholischen, orthodoxen und muslimischen Zeitungen, aber auch viele wichtige religiöse Führer stellten sich gänzlich auf die Seite ihrer nationalen Parteien und verbreiteten so nationalistische Ideologien. Im Krieg wurden nicht selten auch religiöse Symbole als Mittel der Manipulation eingesetzt und die Treue zur eigenen Religion mit dem Kampf gegen andere „fremde und falsche“ Religionen gleichgesetzt.
3. Die Aporien des Dayton Friedensabkommens
Das Dayton Friedensabkommen (1995) beendete den Bosnien-Krieg – aber auch nicht mehr. Nach dem Abkommen wurde Bosnien-Herzegowina politisch und administrativ in zwei Entitäten, die Republik Srpska und die muslimisch-kroatische Föderation, aufgeteilt. Zudem wurde diese Föderation noch einmal in zehn Kantone geteilt, dazu kommt der Distrikt Brčko als ein Kondominium beider Entitäten.
Mit dem Abkommen in Dayton endete zwar der Krieg, doch gleichzeitig wurden die ethnischen Säuberungen, vor allem in der kleineren Entität, der Republik Srpska, legitimiert. Mit der Schaffung von Entitäten wurde das Funktionieren des Staates letztlich unmöglich gemacht. Von der Absurdität des Abkommens von Dayton und der internationalen Politik in Bosnien-Herzegowina zeugt am besten die heutige politische Organisation des Landes: ein Staat, zwei Entitäten, drei Präsidenten, zehn Kantone, dreizehn Regierungen (auf Staats-, Entitäts- und Kantonsebene), hundertsiebzig Minister und über siebenhundert Abgeordnete.
Keine der drei Parteien ist nach dem Krieg von ihren maximalistisch-exklusiven nationalistischen Zielen abgerückt. Alle betrachteten das Dayton-Abkommen nur als ein Provisorium, in dessen Rahmen sie ihre bisherigen Ziele weiter realisierten, also den Krieg mit anderen Mitteln fortsetzten. Daher kann man den Zeitraum nach Dayton zu Recht den „nicht beendeten Krieg“ nennen.
Keine der drei Parteien ist nach dem Krieg von ihren maximalistischen nationalistischen Zielen abgerückt.
Die Serben haben das Dayton-Abkommen als Rettung vor der militärischen Niederlage begriffen und als formale Bestätigung der Republik Srpska – also einer brutalen militärischen Eroberung – und dies nicht nur mit ihren Grenzen, sondern auch mit fast allen Prärogativen eines Staates. Das Hauptziel der serbischen politischen Elite ist klar und unzweideutig gleichgeblieben: aus der Republik Srpska den zweiten serbischen Staat in der Region zu machen, vorerst im Rahmen von Bosnien-Herzegowina, aber später einmal bei günstigen politischen Umständen entweder als unabhängigen Staat oder im Rahmen von Serbien.
Die Bosniaken haben das Dayton-Abkommen als Bestätigung der definitiven Bewahrung des Staatsrahmens von Bosnien-Herzegowina begriffen, aber mit der Hoffnung darauf, dass die Zukunft zu Gunsten der Bosniaken sein werde. Auch die bosniakische politische Elite hat auf ihren maximalistisch-nationalistischen Zielen beharrt. In diese Richtung wirken die zwei Arten des bosniakischen Nationalismus. Die erste ist unter der politischen Maske der Linken und des Bürgerlichen verborgen.
Ohne Sensibilität für die Kompliziertheit der nationalen Fragen und für das multiethnische Profil des Landes befürwortet dieser anti-nationalistische Nationalismus starrköpfig das System der direkten Wahlen und die klassische parlamentarische Demokratie. Aber im Fall Bosnien-Herzegowinas, also einer multiethnischen Nachkriegs-Gesellschaft, bedeutete dies die Dominanz der zahlenmäßig größten Nation, der Bosniaken. Der zweite bosniakische Nationalismus ist offener und ein Pendant zum kroatischen und serbischen Nationalismus. Er ist ebenfalls auf die ethnische Teilung des Landes ausgerichtet, was die Archaisierung, Klerikalisierung und Ghettoisierung der bosniakischen Identität provoziert.
Die deutlichste Form, wie sich dieser Nationalismus zeigt, ist der dauerhafte Versuch der politischen Marginalisierung und vollständigen Dominanz über die Kroaten in der Föderation. Die Tragik des bosniakischen Nationalismus spiegelt sich gerade darin, dass er durch die Annahme der Logik der Dominanz die Fürsprecher der ethnischen Teilung des Landes bei den Kroaten und Serben stärkt. Dabei darf man nicht vergessen, dass es gerade die Bosniaken waren, welche die größten Opfer im Bosnien-Krieges erlitten, und sie es sind, welche als Mehrheit eine spezifische Verantwortung für den Bestand Bosnien-Herzegowinas tragen.
Die Kroaten haben das Dayton-Abkommen vor allem aufgrund der politischen Vormundschaft seitens Kroatiens angenommen, das sich für den Bestand Bosnien-Herzegowinas als eines geostrategischen Puffers zu Serbien stark machte und sich für die bosnisch-herzegowinischen Kroaten als Lösung für die eigenen demographischen Probleme interessierte. Gerade die politische Vormundschaft seitens Kroatiens verhinderte, dass die bosnisch-herzegowinischen Kroaten ein unabhängiges politisches Programm entwickelten und als Minderheit und älteste Nation – mindestens nach dem religiösen Kriterium – zum Bindegewebe des Landes und zum Garanten seines Bestandes wurden.
Die bosniakischen Dominanzversuche stärkten die Forderungen der kroatischen politischen Elite nach einer eigenen Entität bzw. nach unabhängigen Föderaleinheiten. Das ermöglichte – was eine neue Entwicklung darstellte – eine offene Koalition der kroatischen und serbischen politischen Eliten, wobei die politisch missbrauchte gemeinsame Zugehörigkeit zum Christentum eine Rolle spielte. Es ist zweifach tragisch. Die Kroaten sind, ganz wie die Bosniaken, fast vollständig und brutal aus der Republik Srpska vertrieben worden, der Konflikt zwischen den Kroaten und Bosniaken um die territoriale Teilung der Föderation hilft nur der Stärkung der serbischen politischen Elite und verstärkt generell die desintegrierenden politischen Prozesse.
Alles in allem: Das Dayton-Abkommen beendete die Militärkonflikte, aber es hat die Logik, die zum Krieg geführt hatte, weder verurteilt noch gestoppt. Stattdessen hat das Dayton-Abkommen diese kriegerische Logik territorial belohnt und legitimiert, und auch die drei blutigen nationalistischen Ideologien. Dayton hat den politischen Eliten die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ermöglicht. Daher ist es kein Wunder, wenn man die Kriegsverbrecher als national-religiöse Helden preist. Das Dayton-Abkommen ist ein Symbol der Schuld der internationalen Gemeinschaft für die aktuelle politische Situation in Bosnien-Herzegowina. Mit ihm triumphiert die kriegerische Logik nach dem Krieg.
Das Dayton-Abkommen beendete die Militärkonflikte, aber es hat die Logik, die zum Krieg geführt hatte, weder verurteilt noch gestoppt.
Der Internationale Gerichtshof in Den Haag ist nur der ungeschickte Versuch, das Bewusstsein der internationalen Gemeinschaft zu beruhigen, weil es nie zur Verurteilung der verbrecherischen Ideologien und der damit verbundenen und für die Untaten und den Genozid verantwortlichen Institutionen kam. Von der Ebene der Ideologien, Institutionen und Politik wurde alles auf die Ebene der persönlichen Verantwortung und Schuld geschoben, und sogar das grauenhaft ungenügend. [3]
Die aktuelle Situation in Bosnien-Herzegowina ist vor allem ein Reflex der politischen, ökonomischen, kulturellen und religiösen Unreife seiner Bewohner, aber auch, und zwar auf dramatische Weise, ein überzeugendes Zeugnis der politischen Ohnmacht, Zwiespältigkeit, Oberflächlichkeit, des Zynismus‘ und des Korruptionsverdachts der politischen Strukturen der Europäischen Union und der USA.
4. Der Hoffnungsschimmer
Wie sieht Bosnien-Herzegowina nach 20 Jahren des nicht wirklich beendeten Krieges aus? Es ist zu viel Zeit verloren gegangen. Viele Generationen mit der Erfahrung des Zusammenlebens sind gestorben und viele neue Generationen in den dreigeteilten Gesellschaften mit den drei verschiedenen und konfrontativen Erinnerungen sind geboren und groß geworden. Die politische Krise nach den letzten Wahlen, die fast ein Jahr dauerte, hat das Problem des nicht wirklich beendeten Krieges im politischen Raum deutlich gezeigt.
Die Korruption ist zum Lebensstil geworden.
Seit dem Dayton-Abkommen war Bosnien-Herzegowina nie geteilter. Im öffentlichen Raum gab es niemals mehr Manipulationen und emotionale Reaktionen. Die ethnische Distanz war nie größer. Man klappert auch mit dem Wort „Krieg“.
Die politischen Eliten sind vollständig korrupt. Die Korruption ist allgemein zum Lebensstil geworden. Jeden kritischen Gedanken vernichtet man in der Wurzel. Die Diktatur in den politischen Parteien, aber auch allgemein, ist unvergleichbar stärker als in der Zeit des Kommunismus, den man unkritisch dämonisiert. Mithilfe der Angst vor den anderen Nationen und mit dem Schlagwort der „Abwehr der nationalen Interessen“ verbergen die politischen Eliten geschickt die unbarmherzige Ausplünderung des Landes – der fremden, aber auch der eigenen Nation!
Ihre größte Angst ist der Kompromiss – der einzige Ausweg für die bosnisch-herzegowinische Gesellschaft! Daher stemmen sie sich mit allen Kräften gegen den Fortschritt auf dem Weg der Annäherung an die Europäische Union. Ordnung und Recht wiederherzustellen, bedeutet für sie den Untergang. Der Geist der Hörigkeit und der Kontrolle, den die politischen Eliten verkörpern und fördern, dringt durch alle Gesellschaftssporen und infiltriert die religiösen, kulturellen und ökonomischen Strukturen.
Ihre größte Angst ist der Kompromiss.
Man investiert nicht in Kultur, mit Ausnahme von Kulturprojekten, die nationalistische Tiraden produzieren. Das Landesmuseum, unsere wichtigste Kulturinstitution schon seit 120 Jahren, war drei Jahre geschlossen. Es wurde vor kurzem wiederöffnet, aber nur mit Hilfe einer ausländischen Spende. Die Zivilgesellschaft ist unterentwickelt und wird vernachlässigt. Überfluss an Ressourcen haben nur die NGOs, welche die verlängerte Hand der politischen Eliten sind. Dem entspricht nicht nur die Oberflächlichkeit, sondern sehr oft auch das korrumpierte Verhalten der fremden Geldgeber.
Unter den schulischen Dächern unterrichtet man fast ungestört – mehr oder weniger subtil – den religiösen Narzissmus und den nationalistischen Hass. Das Dayton-Abkommen hat sogar das Phänomen der „zwei Schulen unter einem Dach“ legalisiert. Die Schüler und Schülerinnen der verschiedenen Nationen und Religionen gehen in die gleiche Schule, aber ohne Berührung und Zusammenarbeit: Segregation nach nationalistisch-religiösem Vorbild!
Das soziale Elend wächst unaufhaltsam. Das verhindert politische Unabhängigkeit, öffnet gleichzeitig den Agitatoren der extremistischen und terroristischen Organisationen, die in der Regel sozial sehr sensibel sind, Tür und Tor. Trotz all dem wird Bosnien-Herzegowina in der näheren Zukunft nicht zerfallen. Es ist ein Projekt der internationalen Gemeinschaft und die verändert ein Abkommen, wie jenes von Dayton, nicht ohne globale politische Veränderungen. Diese freilich sind nicht mehr so undenkbar.
Der einzige Ausweg für die bosnisch-herzegowinische Gesellschaft ist die Abkehr von der Vision eines dreifach ethnisch geteilten Landes hin zu der Vision eines multiethnischen und institutionell harmonisierten Landes auf einem Territorium, freilich ohne Diskriminierung der nationalen Minderheiten. Ansonsten versinkt Bosnien-Herzegowina in den Abgrund der Teilung wie Zypern.
Der einzige Ausweg ist die Abkehr von der Vision eines dreifach ethnisch geteilten Landes hin zur Vision eines multi-ethnischen und institutionell harmonisierten Landes.
Es ist nicht allzu schwierig, einen funktionellen und tragfähigen Kompromiss für Bosnien-Herzegowina zu konzipieren. Es gibt schon eine Reihe sehr interessanter Konzepte. Aber es fehlen die neuen politischen Kräfte, die solche Konzepte realisieren würden, was wieder die Frage nach der Mitschuld der internationalen Gemeinschaft stellt, die sich starrköpfig auf die vorhandenen politischen Eliten stützt. Es ist schwierig zu glauben, dass es sich dabei nur um bloße politische Naivität und Oberflächlichkeit handelt.
5. Die Weisheit der Peripherie
Im Hinblick auf die Flüchtlingskrise, die radikal das europäische Zivilisationsmosaik verändert, braucht Europa dringend die Weisheit der Peripherie. Europa sollte – gerade wie die Kirche bei der Wahl des letzten Papstes – nach der Weisheit der Peripherie greifen.
Trotz der blutigen Kriege verfügen die Menschen in Bosnien-Herzegowina über eine tiefe und reiche Erfahrung des Zusammenlebens der verschiedenen Kulturen und Religionen, und zwar an jenen Grenzen der Zivilisationen, Kulturen und Religionen, die jetzt in der Mitte Europas virulent werden. Trotz aller Risiken wissen die Menschen in Bosnien-Herzegowina, dass die kulturelle und identitäre Hybridität, nicht nur ein unübertrefflicher Segen sein kann, sondern auch die Vorbedingung des wirklichen Lebens darstellt.
Dank der blutigen Kriege verfügen die Menschen in Bosnien-Herzegowina auch über eine tiefe und reiche Erfahrung des Wiederaufbaus des Neuen aus den Ruinen, über Erfahrungen mit den risikoreichen Prozessen der Vergebung und Versöhnung. All das sind die Kompetenzen, Erfahrungen und Zeugnisse, die Europa gerade jetzt dringend braucht, wenn es mit den globalen politischen Veränderungen wie der Flüchtlingskrise, umgehen muss:
– religiös, freilich nicht durch die erzwungene Bekehrung der Ankömmlinge, sondern durch die Selbstevangelisierung aufgrund der Solidarität mit den ihnen;
– kulturell, freilich nicht durch die autoritäre Vorschreibung des Europäischen, sondern durch die kreative Durchdringung mit den Kulturen der Ankömmlinge, die das Eigene vertiefen, beleben und erweitern;
– menschlich, weil Europa sich seine eigene Identität in den Gesichtern der Ankömmlinge erschließt.
Aber, um von der Weisheit der Peripherie, von jener Weisheit, die Bosnien-Herzegowina im Überfluss hat, zu profitieren, müsste Europa energischer und konkreter die positiven Prozesse an der Peripherie unterstützen, und zwar gleichzeitig in den Bereichen Politik, Kultur, Ökonomie, Religion und Bildung.
Es müsste endlich klar zeigen, dass es nicht auf der Seite des Zentrums der Peripherie – der korrupten politischen, religiösen und ökonomischen Eliten –, sondern auf der Seite der Peripherie der Peripherie steht, also auf der Seite der mutigen Gruppen und Einzelner, die mit dem Glauben an die Kraft des Senfkornes schon jetzt die Vorbedingungen für eine positive Wende in Bosnien-Herzegowina schaffen.In diesem könnten die Religionen eine der wichtigsten Rolle spielen. Es wäre wichtig, mehr auf ihr friedliches Potenzial zu bauen. Aber die Vorbedingung dafür wäre eine neue Konstellation von Religion und Politik sowie von Religion und Nation. Es ginge um die Mitwirkung am Schutz der bedrohten Menschen jenseits der religiös-nationalen Unterschiede, anstatt religiös-nationale Ghettos zu stabilisieren.
Die kirchliche Peripherie der Peripherie braucht dringend Unterstützung und Ressourcen, nicht selten auch Schutz vor Verfolgung, Marginalisierung und Dämonisierung.
Es ist interessant, dass viele Gläubige schon jetzt diese notwendige Wende kreativ leben, und zwar in der Regel nicht im offiziellen Schoß der Religionen, sondern innerhalb verschiedener NGOs, wo sie die Freiräume für die prophetisch-subversive Vorbereitung des Neuen gestalten. Auch die (west-)europäischen Ortskirchen müssten eine Lektion erlernen: Auch sie müssten endlich zeigen, dass sie nicht nur auf der Seite des kirchlichen Zentrums der Peripherie sind, wo die verschiedenen Arten der Korruption oft am stärksten sind, sondern auch – oder noch besser – vor allem auf der Seite der kirchlichen Peripherie der Peripherie, wo man das dringend notwendige Neue wagt, wo man experimentiert und Neues findet.
Diese kirchliche Peripherie der Peripherie braucht dringend Unterstützung und Ressourcen, nicht selten auch Schutz vor Verfolgung, Marginalisierung und Dämonisierung seitens des religiösen wie politischen Establishments. Auch dafür ist gerade Papst Franziskus, eine Verkörperung der Weisheit der Peripherie, ein unübertreffliches Vorbild.
[1] Drago Bojić, Religionen in der bosnisch-herzegowinischen Zivilgesellschaft, in: Ingeborg Gabriel (Hrsg.), Politik und Theologie in Europa. Perspektiven ökumenischer Sozialethik, Ostfildern 2008, 401-412, 402.
[2] Ivan Vukoja, Politike u pozadini različitih modela (pre)ustroja BiH [Politik im Hintergrund verschiedener Modelle der Organisation bzw. Reorganisation Bosnien und Herzegowinas], in: Mijo Džolan (Hrsg.), Bosna i Hercegovina. Europska zemlja bez ustava: Znanstveni, etički i politički izazov, Zagreb/Sarajevo 2013, 171-201, 193.
[3] Vgl. Enver Kazaz, Dayton. Međunarodna legitimizacija ratnih osvajanja [Dayton. Internationale Legitimation der Kriegseroberungen], in: Mijo Džolan (Hrsg.), Bosna i Hercegovina. Europska zemlja bez ustava: Znanstveni, etički i politički izazov, Zagreb/Sarajevo 2013, 202-220.
(Alen Kristic; Bild: Marijo Gracić)