Das Christentum ist eine Stadt- und Zivilisationsreligion. Kultur und Freiheit gehören zu ihrem Wesen. Christian Stoll (Wien) über das Verhältnis von Christentum und Stadt.
Dass es sich beim Christentum um eine „Stadtreligion“ handelt, ist immer wieder zu hören und zu lesen. Diese Behauptung kann sich meist einer breiten Zustimmung gewiss sein, die allerdings recht Unterschiedliches bedeuten kann. Ist es die Sehnsucht nach dem alten christlichen Abendland, in dem die gesellschaftliche und politische Welt noch bereit war, eine Rolle als Resonanzraum des christlichen Glaubens zu spielen – sichtbar in dem von der Sakralarchitektur geprägten mittelalterlichen Stadtbild? Oder zielt die Beschwörung der Urbanität des Christentums umgekehrt darauf, die Metropole unserer Tage als paradigmatischen Ort der Moderne wahrzunehmen und Theologie und die kirchliche Praxis auf diesen Horizont auszurichten?
Den Anspruch, Stadtreligion zu sein, hat das Christentum mit einer erstaunlichen Anpassungsfähigkeit immer wieder bekräftigt.
Präsenz in den Städten
Auf den ersten Blick ist mit der Rede von der Stadtreligion Christentum wohl das vernehmbare Wirken des Christentums in der Stadt gemeint. Den Anspruch darauf hat das Christentum mit einer erstaunlichen Anpassungsfähigkeit immer wieder bekräftigt[i] (wobei man die lange Geschichte des Christentums im bäuerlichen und klösterlichen Raum nicht vergessen sollte). In der Antike reicht der Bogen von den Missionsreisen des Paulus in die Städte der hellenistischen Welt bis zur Herausbildung der episkopal verfassten Kirche mit ihren städtischen Zentren, die schließlich Teil der römischen Reichsverfassung werden. Im Hochmittelalter kommt es nach einer langen Dominanz des ländlichen Raumes zu einer neuen Blüte der Stadt, in der die aufkommenden Bettelorden von Anfang an präsent sind. Die neuzeitlichen Orden, insbesondere die Jesuiten, dehnen ihren seelsorglichen Einsatz auf die entstehenden Großstädte aus.
Im Hintergrund steht die grundlegende Frage, wie weit sich das Christentum auf die spezifischen Bedingungen urbanen Lebens einlassen soll.
Das Elend in den Metropolen des Zeitalters der Industrialisierung bedeutete dann eine ganz neue Qualität. Die Seelsorger und Seelsorgerinnen einer sozial und religiös entwurzelten Arbeiterschaft waren dabei bereits mit einer massenhaften Glaubenslosigkeit konfrontiert. Der Versuchung, die Stadt verloren zu geben, widerstanden etwa die französischen Arbeiterpriester oder die von Madeleine Delbrêl gegründete Gemeinschaft. Delbrêl suchte Gott in der Stadt und fand ihn in der kommunistischen Industriestadt Ivry-sur-Seine. Es gehe, schrieb sie in dem Text Dieu dans la ville, „nicht darum, dass wir uns irgendwohin davon machen, das Herz beschwert von der Not der anderen, wir müssen vielmehr bei ihnen bleiben, mit Gott zwischen ihnen und uns.“[ii] Inzwischen hat die Säkularisierung zumindest die Städte des Westens flächendeckend erfasst. Die Frage nach der Präsenz des Christentums stellt sich hier vordergründig als Prioritätenfrage: Was können geistliche Amtsträger noch leisten, was hat nur durch die freiwillige Initiative Aussicht fortzubestehen? Setzt man eher auf das indirekte Zeugnis diakonischen Handelns oder die direkte missionarische Konfrontation? Ist es sinnvoller, kaum noch genutzte Kirchen aufzugeben oder sie auch mit kleiner Besetzung weiter zu bespielen? Im Hintergrund steht die grundlegende Frage, wie weit sich das Christentum auf die spezifischen Bedingungen urbanen Lebens einlassen soll.
Es bleibt bemerkenswert, dass die Apokalypse trotz ihres ungetrübten Blicks auf die moralische und religiöse Ambivalenz der Stadt ein urbanes Bild wählt, um das Ziel der christlichen Heilsgeschichte zu kennzeichnen.
Eine fundamentale Entscheidung
Die Antwort auf diese Frage hängt nicht zuletzt davon ab, ob und wieweit man der Stadt als besonderer Form des Zusammenlebens eine eigene theologische Dignität einräumt. Dafür liefert die theologische Tradition gute Gründe. Das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung des Johannes, etwa bietet mit dem „himmlischen Jerusalem“ einen zentralen Topos eschatologischer Vollendung, der eine große Wirkung in der sakralen Kunst und Architektur entfaltet hat. Es bleibt bemerkenswert, dass die Apokalypse trotz ihres ungetrübten Blicks auf die moralische und religiöse Ambivalenz der Stadt ein urbanes Bild wählt, um das Ziel der christlichen Heilsgeschichte zu kennzeichnen. Die biblische Erlösungsbotschaft zielt in ihrer Endgestalt keine Rückkehr in die Gottunmittelbarkeit des paradiesischen Tiergartens an, sondern eine geläuterte Form des Sozialen und Geschichtlichen.
„Stadtluft macht frei“ hieß es, denn die Stadt bot eine Alternative zu den rechtlichen Abhängigkeitsverhältnissen des Lehnswesens
Diese frühe Weichenstellung wurde im Laufe der Geschichte vertieft und weiter entfaltet. Das Erbe der klassischen griechischen Philosophie, das sich im Umfeld der Polis herausbildete, war dabei von besonderer Bedeutung. Im Mittelalter fällt die Wiederentdeckung der Werke des Aristoteles, darunter seine „Politik“, mit einer neuen Blüte städtischer Kultur zusammen. „Stadtluft macht frei“ hieß es, denn die Stadt bot eine Alternative zu den rechtlichen Abhängigkeitsverhältnissen des Lehnswesens. Die wachsenden Städte wurden auch zum bevorzugten Wirkungsort der neuen Bettelorden. Der Dominikaner Albertus Magnus, selbst in den Streit der Kölner Bürgerschaft mit dem Bischof verwickelt, beschrieb die civitas in einem Predigtzyklus über die „Stadt auf dem Berge“ (Mt 5, 14) als paradigmatischen Ort christlichen Lebens. Ihn kennzeichnen vier Grundmerkmale: Neben der gemeinschaftlichen Schutzwehr (munitio) und der einheitlichen Rechtsordnung (unitas) nennt er die verfasste Ordnung der Gemeinschaft (urbanitas) und die Freiheit (libertas).[iii] Nicht die feudale Welt, sondern ein zunehmend selbstbewusstes Stadtbürgertum wurde zum wichtigsten Adressaten der Mendikantenprediger.
Nicht die Natur, sondern die Kultur, nicht die Unterwerfung unter irdische Autoritäten, sondern die Freiheit in Gemeinschaft sind die Zielbestimmung der christlichen Erlösungsbotschaft.
In der Option des Christentums für die Stadt liegt also eine doppelte Entscheidung: nicht die Natur, sondern die Kultur, nicht die Unterwerfung unter irdische Autoritäten, sondern die Freiheit in Gemeinschaft sind die Zielbestimmung der christlichen Erlösungsbotschaft.[iv] Daran zu erinnern, ist auch in einem hyperzivilisatorischen Umfeld nicht unzeitgemäß. Im Gegenteil: Der Philosoph Joachim Ritter hat in seinem Essay über „Die große Stadt“ bereits 1960 auf eine spezifisch moderne Stadtverachtung aufmerksam gemacht, die die Errungenschaften des urbanen Lebens geringschätzig beiseiteschiebt. Friedrich Nietzsche habe seinen Zarathustra programmatisch als Hasser der Stadt gezeichnet, wie Platon seinen Sokrates als Liebhaber der Polis. Angesichts der Entfremdungs– und Entzweiungserfahrungen, die die technische Zivilisation mit sich bringt, fliehe der spätmoderne Mensch die Stadt und wünsche ihr – wie Zarathustra – den katastrophischen Untergang: „Mich ekelt vor dieser großen Stadt – und ich wollte, ich sähe schon die Feuersäule, in der sie verbrannt wird!‘“, ruft er aus.[v] Für Ritter kommt es darauf an, die in der Hinwendung zur Polis liegende Errungenschaft, die in der Moderne zur Ausbildung einer „Weltzivilisation“ geführt hat, nicht zu verspielen. Mag auch der Phantomschmerz über die Kollateralschäden der Modernisierung echt sein, so dürfe daraus keine misanthropische Sehnsucht nach dem Natürlichen erwachsen. Denn wie, so fragt Ritter, „soll die Bewahrung Zukunft haben, wenn zu ihr die Denunziation der Zivilisation gehört?“[vi]
Dem Christentum ist es tief eingeprägt, eine Stadt- und Zivilisationsreligion zu sein.
Diese Frage gewinnt in den zugespitzten ökologischen Debatten der Gegenwart neue Vehemenz. Die wachsende Sorge um die ökologischen Folgen einer auf Konsum, Expansion und den Verbrauch begrenzter Ressourcen aufbauenden Wirtschaftsweise gibt inzwischen auch radikalen Stimmen Auftrieb, die ein idealisiertes Verständnis der Natur zur Grundlage einer weitreichenden Zivilisationskritik machen. Wo die Kirchen, mit der ihnen eigentümlichen Verzögerung, inzwischen zu Sachwalterinnen von Natur und Umwelt geworden sind, haben sie einen Weg gefunden, sich konstruktiv an der Debatte um eine zentrale Zukunftsaufgabe zu beteiligen. Sie könnten dabei nicht nur als ökologisches Gewissen der Gesellschaft auftreten, sondern auch daran erinnern, dass die ökologische Frage als Zivilisationsaufgabe zu verstehen ist. Denn dem Christentum ist es tief eingeprägt, eine Stadt- und Zivilisationsreligion zu sein.
[i] Vgl. mit zahlreichen weiteren Belegen zur Stadtgeschichte des Christentums und der Orden Michael Sievernich, Der urbane Raum als Ort des Christentums, in: ders. / Knut Wenzel (Hrsg.), Aufbruch in die Urbanität. Theologische Reflexionen kirchlichen Handelns in der Stadt, QD 252, Freiburg 2013, 166-214.
[ii] Madeleine Delbrêl, Auftrag des Christen in einer Welt ohne Gott, 2. Aufl., Einsiedeln 2000, 183.
[iii] Vgl. Ulrich Meier, Die Stadt im Denken spätmittelalterlicher Theologen, Philosophen und Juristen, München 1994, 36.
[iv] Siehe dazu Knut Wenzel, Gott in der Stadt. Zu einer Theologie der Säkularität, in: Sievernich/Wenzel (Hg.), Aufbruch in die Urbanität, 330-389.
[v] Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 4, Berlin 199, 225.
[vi] Joachim Ritter, Die große Stadt (1960), in: ders., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt 2003, 341-354, hier 353.
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Autor: Dr. Christian Stoll ist Universitätsassistent im Fachbereich Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
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