„Schreiben oder nicht schreiben.“, mit diesen Worten endet der Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ des senegalesischen Autors Mohamed Mbougar Sarr. Sonja Karl stellt ihn und sein Werk vor.
Dieser letzte Satz ist kein Ende, sondern eine Verheißung: Es geht um die Liebe zur Literatur, um das Bedürfnis etwas auf Papier zu bringen, das von literarischem Wert ist. Nicht mehr und nicht weniger. Ein Text, der die Menschen auch nach hundert Jahren noch in seinen Bann ziehen kann. Ein Text, der immer und immer wieder gelesen wird, der sich auswendig lernt. Kurz: Es geht um alles.
Schreiben oder nicht schreiben.
Mit „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ legt Mohamed Mbougar Sarr seinen vierten Roman vor. Bereits seine vorherigen Werke haben Kritiker:innen wie auch Leser:innen in Frankreich begeistert. Dennoch war er überrascht, als sein Name 2021 für den Prix Goncourt gelistet war. Am Ende hat sein Buch die Jury überzeugt und er hat ihn tatsächlich erhalten, diesen renommiertesten aller Literaturpreise Frankreichs. Diese Auszeichnung hat Mohamed Mbougar Sarr quasi über Nacht in andere Sphären des Literaturbetriebs katapultiert. Mit 31 Jahren ist er einer der jüngsten Autoren, denen diese Ehre je zu Teil wurde. In seinem Fall hat es sogar etwas von einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Denn ausgerechnet seine Romanfigur Diégane Latyr Faye träumt davon, eines Tages für sein Buch, das er noch schreiben wird, den Goncourt zu erhalten.
„Ein großes Buch handelt nie von etwas, und doch ist alles darin enthalten.“*
„Ist es der Roman Ihres Lebens?“, eine Frage, der sich Mohamed Mbougar Sarr in zahlreichen Interviews stellen musste. Er nimmt es gelassen und verweist auf die Zeit, die eindeutig auf seiner Seite steht. Für ihn ist und bleibt das Schreiben seine große Leidenschaft, mehr noch: eine Berufung, die mit dem Prix Goncourt schließlich nicht aufhört zu existieren. Ganz im Gegenteil.
Paris ist das Eldorado der afrikanischen Schriftsteller:innen der Frankophonie.
Um die Erschaffung bedeutsamer, tiefgründiger, wahrer Literatur drehen sich die Diskussionen in einer Bar an der Place de Clichy, wo sich ein kleiner Kreis von befreundeten Schriftsteller:innen der jungen afrikanischen Literaturszene in Paris zusammenfindet. Manchmal um sich gegenseitig zu beflügeln, ein andermal um das selbstgewählte Exil erträglicher zu machen oder auch nur um sich zu betrinken und das Bett für eine Nacht zu teilen.
Einer von ihnen ist der junge senegalesische Schriftsteller Diégane Latyr Faye. Im Jahr 2018 hört er von einem unauffindbaren Kultbuch eines verschollenen senegalesischen Autors, das 1938 erschienen sein soll: „Le Labyrinthe de l’inhumain“ (Das Labyrinth des Unmenschlichen). Der Autor, der von den Literaturpäpsten seiner Zeit als der „Schwarze Rimbaud“ (Le Rimbaud nègre) gefeiert wurde, fiel jedoch alsbald in Ungnade. Die anfängliche Begeisterung schlug um in Misstrauen. Konnte so ein herausragender Text wirklich aus der Feder eines Afrikaners stammen? Das Buch schlägt hohe Wellen und mündet schließlich in einem literarischen Skandal. Der Vorwurf: Ein Plagiat produziert zu haben, eine Aneinanderreihung von Zitaten großer französischer Literaten – ein Sakrileg. Ohne sich je dazu geäußert zu haben, verschwindet T. C. Elimane von der Bildfläche.
Diégane hält das Buch jedoch für ein Meisterwerk. Er ist wie gefesselt von dem Text. Es wird zu seiner Obsession und er begibt sich auf die Spur des geheimnisvollen T. C. Elimane. Seine Suche führt ihn vom Senegal über Amsterdam und Paris bis in die literarischen Salons von Buenos Aires.
Literaturkrimi und große Erzählkunst zugleich.
Von da an blättert sich die Handlung des Romans schichtweise vor unseren Augen auf. Wir dringen nahezu zeitgleich mit Diégane in die Geschichte ein. Wir sind dabei, wenn sich Hinweise verdichten, sich die Hintergründe sowie Abgründe der Zeit auftun. Briefe, Zeitungsartikel, Tagebucheinträge, Interviews, Erzählungen von Freunden und Freundinnen. Es ist verwirrend und manchmal helfen nur gut versteckte Hinweise, um heraus zu finden, wer jetzt eigentlich gerade spricht. Und was davon alles wahr ist … und was nicht? Mit jeder weiteren Schicht an Informationen nimmt die Geschichte Gestalt an, nähern wir uns der Wahrheit. Immer wieder findet sich ein Schlüssel, der an anderer Stelle ins Schloss passt. So viel sei verraten: Zweifel bleiben – und die Wahrheit tritt in diesem Labyrinth am Ende dann doch nicht ganz zutage.
Mohamed Mbougar Sarr zeichnet mit Humor und einer gehörigen Portion Selbstironie das Spannungsfeld zwischen Afrika und dem Westen. Zwischen weißen Kritiker:innen und People-of-color-Autor:innen. Zwischen Kolonialherren und Afrikaner:innen, die ihre ehemaligen Sklavenhalter in ihrer „Zivilisiertheit“ und ihrer Lebensart noch übertreffen wollten. Aber auch unter den Migrant:innen, die sich in ihrem selbstgewählten Exil immer weiter von den Lieben und der Kultur in der Heimat entfernen. Zu deren Lebenswirklichkeit zählt der Glaube an Geister und schwarze Magie – Dinge, die sich im Westen schwer vermitteln lassen, in vielen Regionen Afrikas jedoch Realität sind.
Romantisch veranlagt und durchaus emanzipiert.
Nicht zuletzt ist Mohamed Mbougar Sarr ein Romantiker, der an die große Liebe glaubt. Er schafft wunderbare, emanzipierte Frauenfiguren, ohne die diese Geschichte nie erzählt hätte werden können. Der Rhythmus der Erzählung wechselt, die Sprache wird schneller, die Sätze kürzer. Sensibel betört er nicht nur seine Angebeteten in einigen wenigen Liebesszenen, die voller Erotik stecken, ohne jemals vulgär zu sein.
Vor der Historie des 20. Jahrhunderts entwickelt sich ein unglaublich spannender Plott.
Die Suche nach dem übrigens rein fiktiven geheimnisvollen literarischen Genie der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts spannt einen weiten historischen Bogen. Von der Kolonialzeit über beide Weltkriege, in denen junge Männer aus den Kolonien als Kanonenfutter dienten, bis hin zum Holocaust und den blonden Nazi-Offizieren, die während der deutschen Besatzung Frankreichs in Paris durch die Straßen schlenderten. Später folgten die Unabhängigkeitskriege und die postkolonialen Konflikte in Westafrika mit ihren Greueltaten. Die Schicksale der Protagonist:innen, die im Laufe der Zeit die Wege des sagenumwobenen Autors gekreuzt haben, sind eng mit den historischen Ereignissen verwoben. Sie sind Schauplatz und politischer Hintergrund des Lebens von T.C. Elimane. Eine Geschichte, die bis zuletzt spannend und überraschend bleibt.
Mit „Die geheimste Erinnerung der Menschen“, ist Mohamed Mbougar Sarr ein Roman geglückt, der von einer überbordenden Sprache und den ewig währenden Geschichten von Liebe, Hass und Wahnsinn getragen wird.
Mohamed Mbougar Sarr wurde 1990 in Dakar, Senegal geboren. Er wuchs als ältester von sieben Söhnen in Diourbel, östlich der Hauptstadt auf. Er besuchte das Prytanée militaire in Saint-Louis und im Anschluss daran eine Vorbereitungsklasse für die Grandes Écoles (CPGE) in Frankreich. Schließlich erhielt er die Zulassung für die École des hautes études en sciences sociales, EHESS in Paris, wo er Literaturwissenschaft und Philosophie studierte. Mohamed Mbougar Sarr hat bereits drei Romane veröffentlicht, für die er u. a. mit dem Prix Stéphane-Hessel und Grand prix du roman métis ausgezeichnet wurde. Für „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ erhielt er 2021 den Prix Goncourt.
„Die geheimste Erinnerung der Menschen“ von Mohamed Mbougar Sarr, übersetzt aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller erscheint im November 2022 im Hanser Verlag und kann hier vorbestellt werden.
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Autorin: Sonja Karl ist Freelance Texterin und Inhaberin von africamodern.org aus Frankfurt am Main
* Mohamed Mbougar Sarr, La plus secrète mémoire des hommes, Éditions Philippe Rey/Jimsaan, Paris, 2021, S. 50
Bild 1: Victor Rutka / unsplash.com
Bild 2: Cover, Quelle: Hanser-Verlag
Bild 3: Autor, Quelle: Hanser-Verlag